2. DANACH ZUM ALTDEUTSCHEN
Im Sommer 1985 wird Wilbert Olinde Jr. einen offiziellen Brief erhalten, vom Büroleiter des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Der Protokollchef Franz J. Binder wird ihn auffordern, sich am 13. September 1985 um halb elf Uhr vormittags am Kanzleramt einzufinden. Am vereinbarten Tag wird ihn der Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl, CDU, um etwas bitten.
Heute, am 10. August 1977, sind solche Entwicklungen noch nicht abzusehen. Wilbert kommt am Frankfurter Flughafen an, nach einem langen Transatlantikflug aus Los Angeles, wo er die letzten vier Jahre gelebt hat. Zweiundzwanzig Jahre ist er alt und zum ersten Mal in Europa. Schon einen Pass zu beantragen war eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Niemand, den er kennt, hat einen Pass. Er ist in San Diego aufgewachsen. Von dort aus ist er schon einmal über die mexikanische Grenze nach Tijuana gefahren. Einen Pass brauchte er für den Abstecher nicht.
Wilbert hat einen Vertrag bei einem Basketballclub unterschrieben. Der Verein heißt SSC Göttingen. Die Abkürzung steht für Schwimmsportclub. In der deutschen Basketballbundesliga darf genau ein Ausländer pro Mannschaft antreten. Dieser Ausländer wird er sein – eine Saison lang. Er ist mit seinem zukünftigen Trainer zusammen geflogen. Der ist neunundzwanzig, ebenfalls Amerikaner und als Coach Berufsanfänger. Sein eigentliches Fachgebiet ist die englische und amerikanische Literaturwissenschaft. Der junge Mann leidet unter extremer Flugangst und hat all die Stunden zwischen Kalifornien und Deutschland mit nassen Händen neben Wilbert gelitten. Jetzt, wieder am Boden, geht es ihm besser.
Wilbert ist zwei Meter und zwei Zentimeter groß und trägt einen ziemlich engen, von seiner Schwester genähten Overall im Jeans-Look. Die Hosenbeine haben enormen Schlag. Er hat soeben seinen B. A. an der University of California in Los Angeles gemacht. Seiner Mutter hat er ein Foto geschenkt: sein Porträt, in dem Umhang und mit dem Hut, wie sie alle amerikanischen College-Absolventen tragen. Neben das Bild hat er ein paar Zeilen geschrieben. Er hat sich für die Liebe, die Fürsorge und das Verständnis seiner Mutter bedankt. Er hat ihr geschrieben, wie sehr er hoffe, dass er sie genauso glücklich und stolz gemacht habe, wie ihr das in seinem Fall gelungen sei. Das Foto steht nun in der Wohnung seiner Mutter. Auch seine Freundin wohnt in San Diego. Allerdings war in letzter Zeit nicht recht klar, ob ihre Beziehung eine Zukunft hat.
Schon hier im Flughafen merkt er, wie seltsam es ist, die Leute um sich herum nicht zu verstehen. Er hatte ein paar Jahre Deutsch an der High School, bekam hervorragende Zensuren, doch für das echte Leben scheint es wohl nicht zu reichen. Er wundert sich über den Beate-Uhse-Shop im Flughafen. In amerikanischen Airports gibt es definitiv keine Fachgeschäfte für Erotikbedarf. Er wundert sich über die Taxen: alles Mercedes-Limousinen. Das, meint er, kann nur bedeuten, dass deutsche Taxifahrer extrem wohlhabend sind. Ein Restaurant in der Nähe des Flughafens heißt »Unterschweinstiege«. Dort gehen sie essen, weil sie noch auf Radovan Dimitrijevic warten müssen. Der hat sich aus Kenosha, Wisconsin, auf den Weg gemacht und soll auch für den SSC spielen. Weil Radovan deutsche Verwandtschaft hat, gilt er nicht als Ausländer.
Als auch Radovan angekommen ist, fahren sie mit den Abgesandten des Basketballclubs in einem aus zwei Autos bestehenden Konvoi nach Göttingen. Kein Tempolimit auf der Autobahn. Eine dramatische Brücke, hoch über einem Fluss namens Werra: Sie wird ihm in Erinnerung bleiben. Als sie tanken fahren, fällt ihm auf, dass die Zapfsäule ganz anders funktioniert als in den USA. Er schaut genau hin, um es selbst hinzukriegen, wenn er das Auto bekommt, das ihm in seinem Vertrag zugesichert wurde, neben der Wohnung und den 1500 Mark im Monat. Er weiß, dass er nur ein Jahr hier bleiben wird. Viel Zeit ist das nicht. Er will das Beste daraus machen.
Die Vereinsdelegation setzt Radovan und ihn an einem etwas seltsamen Haus ab. Oben, im ersten Stock, besteht es aus Fachwerk und erinnert ihn an eines jener typisch deutschen Häuschen aus dem Märchenbuch. Im Erdgeschoss, weniger märchenhaft, befindet sich ein gläsernes Ladenlokal, in dem Autoteile verkauft werden. Nebenan ist ein Blumenladen. Auf der anderen Seite eine Zahnarztpraxis. Der Dentalmediziner wird dort noch achtunddreißig Jahre nach Wilberts Einzug seine Niederlassung betreiben. Er wird an einem regnerischen Mittwochvormittag im Januar 2016, gerade sind keine Patienten da, auf seinem Behandlungsstuhl liegen, in der Bild-Zeitung einen Artikel über einen islamistischen Terroranschlag in Istanbul lesen, wird das Blatt dann weglegen, um einem neugierigen Besucher zu antworten, dass er sich durchaus an Wilbert Olinde erinnern könne, der hier gewohnt habe. Ein guter Basketballer sei das gewesen. Habe später eine Freundin in München gehabt. Was hätte er auch anders machen sollen? Er hätte es ja nicht leicht gehabt, so als Schwarzer. Hätte ja sonst keine Frau gefunden.
Wilbert und Radovan steigen hoch in den ersten Stock. Es sind kleine, aber gemütliche Zimmer. In Los Angeles hat er in einem Stadtteil namens Palms gewohnt, zwanzig Minuten zum Strand. Jetzt schaut er hier, im südlichsten Zipfel Südniedersachsens, aus dem Fenster und sieht die B 3 vor sich, viel befahren, die Ausfallstraße Richtung Autobahn. Auf der anderen Straßenseite sieht er einen Friedhof: den jüdischen Friedhof.
Steht man direkt an der Friedhofsmauer, erkennt man das Grab der Käthe Meininger, Gattin des Kaiserlich Königlich Hoflieferanten Oskar Meininger. Sie ist 1943 in Warschau gestorben. Man blickt auf den Grabstein für Melanie Rosenberg, gestorben 1943 in Theresienstadt. In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der jüdische Friedhof mehrfach verwüstet. 1950 schrieb Richard Gräfenberg, Holocaust-Überlebender, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, einen Brief an die Stadt Göttingen. Diese habe »noch nicht den leisesten Versuch gemacht«, den jüdischen Friedhof instand zu setzen. Auf Gräfenberg machte es den Eindruck, »als ob es der Stadt schon jetzt wieder unangenehm« sei, dass »sich in ihrem Bereich eine Jüd. Gemeinde befindet«. Gräfenbergs Nachfolger protestierte im Herbst 1954 gegen ein SS-Kameradentreffen in der Stadt. Die Veranstaltung fand dennoch statt. Jetzt, drei Jahrzehnte nach Kriegsende, gibt es gar keine jüdische Gemeinde mehr in Göttingen – allerdings einen jüdischen Oberbürgermeister. Artur Levi, 1937 aus München nach London geflohen, ist nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt. Und an der Stelle der am 9. November 1938 zerstörten Synagoge steht nun ein Mahnmal: eine Pyramide aus Stahlrohren. Schrifttafeln zeigen die Namen der 282 jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Stadt und Kreis Göttingen, die während des Nationalsozialismus ermordet wurden. Ein Schild zitiert den Propheten Jesaja: »Berge werden weichen und Hügel werden wanken, aber meine Gnade wird von dir nicht weichen.«1
Es heißt, das Haus, in dem Wilbert und Radovan wohnen, solle bald abgerissen werden. Wilbert bekommt einen hellblauen VW Passat, der ziemliche Probleme beim Anspringen hat. Er fährt tanken, versteht die Tankapparatur dann doch nicht, bekommt es aber irgendwie hin. Ein Stück die B 3 hoch Richtung A 7 ist ein Supermarkt, der Herkules heißt. Wilbert bewundert die Ampel an der Groner Landstraße, die dem Fahrer anzeigt, dass er dreißig fahren muss, um das nächste Grün zu erwischen, oder fünfzig, je nachdem. So etwas gibt es in Kalifornien nicht. Die Ampel vermittelt ihm gleich etwas sehr Deutsches, sagt er später: dieses deutliche Gefühl für Struktur.
Er ist in einem Land angekommen, in dem es kaum ein anderes Thema gibt als den Terrorismus der Roten Armee Fraktion. Er ist gerade drei Wochen in Deutschland, als die Linksterroristen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführen und drei Polizisten sowie den Fahrer Schleyers töten. Sie wollen elf inhaftierte RAF-Mitglieder freipressen. Kurz darauf kapert eine mit der RAF verbündete Palästinenserorganisation ein Lufthansa-Flugzeug, ermordet den Piloten, droht mit der Tötung weiterer Geiseln. Das Flugzeug wird gestürmt, die Geiseln befreit, drei führende RAF-Terroristen begehen daraufhin Selbstmord. Einen Tag später wird Schleyers Leiche gefunden.
Anders als möglicherweise von den RAF-Mitgliedern beabsichtigt, lösen die Gewalttaten in Deutschland keine Staatskrise aus. Viel eher trägt der Terrorismus zur Modernisierung der Polizei bei. Das Bundeskriminalamt entwickelt die computergestützte Fahndung, der Bundestag verabschiedet weitreichende Antiterrorgesetze, »Innere Sicherheit« wird zu einem bestimmenden Begriff der öffentlichen, gelegentlich hysterisch geführten Diskussion. Zukünftige Historiker werden das Jahr 1977 als einen Moment begreifen, in dem das demokratische System der Bundesrepublik seine größte »emotionale Akzeptanz« in der Bevölkerung erreichte. Bundeskanzler Helmut Schmidt gewinnt durch sein überlegtes Management des Deutschen Herbsts eine enorme Reputation. Auch international wird Schmidt bewundert – für sein Verhalten in der Terror-Krise, aber auch für die schnelle Überwindung der Rezession von 1974/75. Die Bundesrepublik gilt als »Modell Deutschland«, als Motor der Weltwirtschaft, Helmut Schmidt als »Weltökonom«.2
Einmal wird Wilbert in diesem hervorragend organisierten Land von einem unfassbaren Krach geweckt. Er schaut...