Als Kriegsberichterstatterin im Irak
Viele Jahre lang habe ich mich gefragt, ob ich das richtige Leben lebe. Oder lebte ich womöglich daran vorbei? Tat ich das Richtige? Stiftete das, was ich tat, Sinn? Gab es nicht eine Aufgabe, die ich erfüllen musste? Ich dachte oft darüber nach, was ich machen würde, wenn mein Vater eines Tages nicht mehr leben sollte: Was wäre, wenn ich dann seinen Wunsch nicht erfüllt hätte, wenn ich der Frage nach meinen jesidischen Wurzeln ausgewichen wäre?
Ende 2013 kündigte ich bei RTL. Ich hatte keine Rücklagen, ich besaß auch keinen Plan. Aber ich hatte eine Idee davon, wer ich war und wo ich hin wollte. Diese Kraft hatte ich. Ein halbes Jahr später fielen die IS-Milizen im Nordirak ein. Ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, konnte ich mich spontan auf den Weg machen, als es nötig war.
Die größte Schwierigkeit bestand darin, einen Kameramann für unsere Reise zu finden. Die Kameramänner, mit denen ich sonst zusammenarbeitete, waren allesamt Familienväter. Sie fanden es richtig, dass ich in den Irak flog, um über den Genozid an den Jesiden zu berichten. Sie selbst wollten das Risiko aber nicht eingehen. Ich habe das gut verstanden. Ich hatte mich dafür entschieden, diese gefährliche Reise zu unternehmen, weil ich als Jesidin persönlich betroffen war. Ich fühlte mich für die von Tod, Verschleppung und Vergewaltigung bedrohten Menschen im Norden Iraks verantwortlich. Ich war nie besonders gläubig gewesen, aber wenn das Volk deines Vaters ums Überleben kämpft und mit Waffengewalt verteidigt werden muss, dann wirst du gläubig. Als Jesidin weißt du sehr genau, wer du bist. Die Jesiden sind als Kurden eine Minderheit in der Minderheit. Da lernst du früh, wo du stehst, vor allem wenn es um Leben oder Tod geht.
Mein Vater übernahm die Aufgabe des Stringers, der für die Organisation der Kontakte zuständig ist. Das ist eigentlich eine Arbeit, die man gelernt haben muss, doch der Krieg fragt nicht nach der richtigen Ausbildung. Es war klar, dass mein Vater zudem der beste Producer sein würde, den man sich für eine solche Reise vorstellen konnte. Er kannte viele einflussreiche Persönlichkeiten in der Region, und er wusste, worum es ging. Das habe ich auch den Kollegen von Stern TV erklärt, die es seltsam fanden, dass ich mit meinem pensionierten Vater in ein Kriegsgebiet fliegen wollte. Ich brauchte den Produktionsauftrag von Stern TV aus finanziellen Gründen, mein Geld reichte nicht, um die Aufnahmen selbst zu finanzieren. Stern TV reagierte schnell, und über die Produktionsfirma konnte ich einen Kameramann organisieren, der es gewohnt war, in Krisengebieten zu arbeiten. Er flog von Deutschland aus mit. Abgesehen von seiner sensationellen Drehleistung zeichnete er sich durch seine Gelassenheit aus. Er konnte mit der Situation umgehen und war völlig angstfrei.
Vier Tage, nachdem ich in Oldenburg die Anrufe der verzweifelten Menschen aus dem Irak erhalten hatte, flogen wir los. Das war nicht einfach, weil es kaum Flüge gab. Lufthansa hatte den Flugverkehr in den Norden des Irak eingestellt, weil die Lage zu gefährlich war. Austrian Airlines sagte am Tag vor unserer Abreise ab. Schließlich flogen wir mit Turkish Airlines.
Vorher sammelte ich im Netz noch einmal Informationen über den Ort, an den die Reise gehen würde. Ich stand noch auf sicherem deutschem Boden, als mir klar wurde, dass ich am nächsten Tag nicht nur in ein Kriegsgebiet fliegen würde. Der Norden des Irak galt als der gefährlichste Ort der Welt. Nicht lange zuvor war der amerikanische Journalist James Foley dort vor laufender Kamera geköpft worden. Der IS hatte das Video der Ermordung im Internet veröffentlicht. Die Welt war schockiert. Es fiel mir schwer, den Gedanken zu ertragen, dass ich wegen dieser Reise nicht nur mein Leben, sondern auch das meines Vaters in Gefahr bringen würde. Aber ich wusste, mit meinem Vater darüber zu streiten hatte keinen Sinn. Er würde mich nicht allein fliegen lassen.
Mitten in der Nacht landeten wir in Erbil. Dort wurden wir abgeholt und fuhren weiter nach Dohuk. Der übliche Weg in die jesidischen Siedlungsgebiete führt über die Hauptverbindungsstraße, die auch die Großstadt Mosul durchquert. Wir umfuhren die Stadt auf Nebenstraßen. Aus dem Fenster sah ich Schilder mit der Aufschrift Mosul. Allein den Namen dieser Stadt zu lesen, zu erkennen, dass wir nicht weit von ihr entfernt waren, flößte mir Angst und Schrecken ein. Mosul war im Juni 2014 vom IS eingenommen worden. Die Jesiden, die nicht bereit gewesen waren, zum Islam zu konvertieren, wurden umgebracht, ebenso erging es den Christen. Jesiden wie Christen waren in Scharen aus Mosul geflohen, nur wenige waren geblieben. Während wir durch die Nacht fuhren, entlud sich ein Unwetter. Es regnete, blitzte und donnerte, und ich hatte das Gefühl, die Welt geht unter. Überlebst du diese Nacht überhaupt noch? Unser Fahrer war uns empfohlen worden. Wir konnten ihm vertrauen, und das ist das Wichtigste an einem Ort wie diesem. Denn verraten werden kann man nur von den eigenen Leuten.
Am Ende dieser schreckenerregenden Fahrt erreichten wir unser Hotel in Dohuk. Üblicherweise ist die Ankunft im Hotel der Augenblick, in dem man es geschafft hat. Ein gutes Hotel ist wie ein zweites Zuhause, man fühlt sich sicher und aufgehoben. Aber nicht in Dohuk. Weil dort internationale Gäste absteigen, waren auf unser Hotel bereits mehrfach Anschläge verübt worden. Wir befanden uns 20 Kilometer von der Front entfernt. Ich legte mich ins Bett, aber ich vermochte nicht zu schlafen. Man kann im Krieg nicht schlafen. Ich lag allein in meinem Hotelzimmer und machte einen großen Fehler, den ich später nie wieder begangen habe. Ich las im Netz mehr über den gefährlichsten Ort der Welt. Irgendwann hielt ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus. Ich ging nach draußen und begann zu zittern.
Den Horror des Kriegs spürt man in dem Moment, da man irakischen Boden betritt. Er fängt an mit der Stimmung, die dort herrscht, mit den Geschichten, die die Menschen erzählen. Der Taxifahrer erzählt die erste Horrorgeschichte, und so geht es weiter. Ich war vorher noch nie im Krieg. Nun sah ich die Angst in den Gesichtern, spürte die Unsicherheit. Ich konnte den Krieg riechen, eine Mischung aus süßem Tee und Angstschweiß. Bis heute haben die Terroristen des IS mehrere Tausend Jesiden getötet. Ungefähr 7000 Jesiden befinden sich derzeit in IS-Gefangenschaft. Darunter sind 5000 Frauen und Kinder. Von knapp einer Million Jesiden weltweit sind derzeit 480 000 auf der Flucht – also jeder zweite. Viele davon traf ich in Flüchtlingslagern im Norden des Irak und in der Türkei. Kinder erzählten mir davon, wie ihre Väter vor ihren Augen enthauptet wurden. Schöne Kinder mit grünen, blauen, braunen Augen, die niemandem etwas getan hatten, außer dass sie Jesiden waren. Sie klammerten sich an mich und flehten, dass ich sie mitnehmen solle. Ihre Eltern seien tot und sie ganz allein. Väter zeigten mir die Pässe ihrer Töchter, die der IS verschleppt und als Sklavinnen verkauft hatte. Mütter hatten ohnmächtig zugesehen, wie ihre Töchter vom IS abgeholt wurden. Misshandelt und vergewaltigt brachte man sie ihnen zurück.
Erst jetzt, viele Monate später, da die überlebenden Frauen zu sprechen beginnen, zeigt sich das ganze Ausmaß der Gewalt: Ich sprach mit einem Geschwisterpaar, das in die Fänge des IS geraten war. Die ältere Schwester war gerade 18 und bot sich selbst den Terroristen an, damit ihre jüngere, neun Jahre alte Schwester verschont würde. Viele jesidische Frauen nahmen das Leid lieber selbst auf sich als zu erleben, dass es ihren Glaubensschwestern widerfährt.
Eine jesidische Frau, die inzwischen Asyl in Deutschland bekommen hat und psychologisch betreut wird, verlor durch den IS ihre gesamte Familie. Ihr Mann wurde ermordet, ihre beiden Söhne wurden vom IS zu Kindersoldaten gemacht. Man drillt die Kinder darauf, gegen ihre eigenen Familien zu kämpfen. Ihre beiden Töchter wurden versklavt. Mit dem Säugling konnten die Männer des IS nichts anfangen; sie brachen ihm vor den Augen der Mutter das Genick. Seither wird die Frau von diesem Bild verfolgt, sie wird es nicht mehr los.
Viele jesidische Frauen wurden wahnsinnig. Eine von ihnen rannte ins Feuer und zog sich schwere Verletzungen zu, weil sie dachte, die IS-Männer seien wieder hinter ihr her. Viele Jesiden haben den Terror überlebt, aber sie haben kein Leben mehr. Es wird schwer werden, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Die Überlebenden haben das Gefühl, die Toten hätten es leichter als sie. Das gilt für die Frauen wie für die Männer.
Bislang hatte ich jesidische Männer immer als stark erlebt. So bin ich aufgewachsen. Ich weiß, wie wichtig ihre Ehre für sie ist; oft ist sie das Einzige, was ihnen geblieben ist. Diese stolzen Männer gebrochen und zusammengekauert am Boden hocken zu sehen, Familienväter zu erleben, die um ihre verschleppten oder getöteten Kinder weinen – das hat mir das Herz zerrissen. Mein Weltbild geriet ins Wanken.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen nachts friedlich in Ihrem Bett, die Kinder schlafen ahnungslos. Mitten in der Nacht hören Sie Schritte, die Schritte werden lauter, kommen näher. Mit Gewalt dringen die IS-Milizen in Ihr Haus ein, sie tragen lange Bärte und Schwerter. Nun ist die ganze Familie wach, alle sind panisch vor Angst, keiner weiß, was er tun soll. Die Soldaten der kurdischen Peschmerga, die für ihren Schutz verantwortlich sind, sind geflüchtet. Ich bin mir sicher, dass in dieser Nacht im...