EIN EX-ZUHÄLTER
TRAINIERT MEINE KINDER
Andreas Marquardt, der knallharte Karate-Weltmeister, war der Schrecken des Berliner Rotlichtmilieus. Der Neuköllner machte manchmal 60 000 Mark im Monat, verprügelte Menschen ohne Grund. Erst als er achteinhalb Jahre im Knast saß, arbeitete er den jahrelangen Missbrauch durch seine Eltern auf. Er kehrte um, begann ein zweites Leben, will heute Kindern mit Karate Stärke geben. Und ja, natürlich dürfen meine Jungs bei ihm trainieren.
Würden Sie diesem Mann Ihre Kinder anvertrauen? Er war zwanzig Jahre lang Zuhälter, und zwar ein richtig brutaler. Seine Huren schlug er zusammen, erklärte ihnen dann, wie sie ihren Job richtig machen, und dann mussten sie ihm noch einen blasen. Einmal, als er als Geldeintreiber unterwegs war, schnitt er einem Mann einen Finger ab. Nach Jahren einer Karriere als gefürchteter harter Hund saß er achteinhalb Jahre im Knast in Berlin-Tegel. Also, würden Sie? Ich schon! Mein Sohn trainiert jetzt zweimal pro Woche Karate bei Andreas Marquardt.
So heißt der Mann, der 1956 in Neukölln geboren wurde und auf eine schreckliche und wechselhafte, mit diesem Stadtteil untrennbar verbundene Lebensgeschichte zurückblickt – auf eine mit gutem Ausgang. Sagt er. Seine Biografie, die er vor neun Jahren aufschrieb, hat der Regisseur Rosa von Praunheim verfilmt, Härte heißt der Kinofilm. Praunheim ist eine Ikone der Schwulenszene, ein sehr aktiver Berliner Undergroundfilmer und dem Rest der Republik eigentlich nur durch ein paar alte Talkshow-Auftritte bekannt. Als Andreas Marquardt vor über zehn Jahren aus dem Knast kam, war er ein neuer Mensch. Er ließ das Rotlichtmilieu hinter sich, nur seine Partnerin Marion blieb aus jener Zeit, seine einzige Begleiterin in beiden Welten und wahrscheinlich die Frau, die ihn gerettet hat. Heute betreibt er in Neukölln sein Sportcenter mit ihr. Die Zuhälter oder andere Kontakte von früher lassen sich hier nie sehen.
Wenn ich zu meinem großen Sohn Leo sage: »Tob hier nicht so in der Wohnung rum, sonst steck ich dich zweimal die Woche in das anstrengende Karate-Training, bei dem wir letztens zur Probestunde waren«, dann schreit er: »Ja, das will ich doch!« Die Übungen mit dreißig anderen Kindern, Deutschen und Migranten, Mädchen und Jungen, haben ihm imponiert. Besonders der Schrei, den man beim Schlagen und Treten ausstoßen soll. Der drang jedes Mal bis zu mir durch, der ich zwanzig Meter entfernt vor der Tür saß und fasziniert die dort ausliegende Lebensgeschichte des Trainers las.
Es war wie bei Karate Kid. Das 600 Quadratmeter große Studio von Marquardt, halb Fitnesscenter, halb Kampfsporthalle, liegt in einem kleinen Industriegebiet. Hier ist nichts mit Design zurechtgemacht wie bei den Yogastudios in Prenzlauer Berg. Wir fahren mit dem Rad die laute Lahnstraße entlang, am Baumarkt vorbei und beim Discounter-Supermarkt um die Ecke. Hinter einem kleinen, seltsamen Hof mit einem Laden für Großküchenbedarf und einer Country-Tanzkneipe liegt es dann, das Sportstudio.
Der Karatemeister Marquardt, der seine Fähigkeiten einst auf der Straße einsetzte, um andere fertigzumachen, nutzt sie heute nur noch, um Kinder und Jugendliche zu stärken. Sein Karatetraining richtet sich speziell an die Neuköllner Jugend, und er sagt den Kindern immer offen, was für einer er früher gewesen sei, dass er viele Fehler gemacht habe und dass Gewalt ins Nichts führe. Verteidigen sollen sie sich aber können und selbstsicher werden. Marquardt weiß, dass sein Weg in der Kindheit die falsche Abzweigung nahm: Der Vater schlug ihn, zertrümmerte dem Sechsjährigen einmal die Hand so heftig, dass über Monate mehrmals operiert werden musste, um die kleinen Knochen wieder zurechtzurücken. Und die Mutter nötigte ihn zum Sex. Jahrelang. Als der Teenager das nicht mehr wollte, drohte sie: »Du kommst ins Heim.« Aus diesem Elternhaus zog dann ein gefährlicher junger Mann voller Wut in die Welt.
Ich treffe Andreas Marquardt außerhalb seiner Trainingszeiten noch einmal in Ruhe, weil ich wissen möchte, wie Gewalt entsteht. Wenn einer es erklären kann, dann er, denke ich mir. Noch immer gibt es im Stadtteil Neukölln entsetzliche Straftaten. Greift man sich aus der Kriminalstatistik ein Delikt heraus, das die Lage in einem Stadtteil und auf seinen Straßen symbolisieren soll – zum Beispiel die Körperverletzung –, werden im gesamten Neukölln rund 4000 Fälle pro Jahr gezählt. In Pankow, dem Verwaltungsbezirk, der aus Prenzlauer Berg, Weißensee und dem eigentlichen Pankow selbst besteht, sind es nur 2800. Im eigentlichen Prenzlauer Berg selbst wurden im Jahr 2013 insgesamt 1280 Körperverletzungen gezählt, in Nord-Neukölln, also dem ursprünglichen Neukölln, dagegen 2865, mehr als doppelt so viele. Von der Einwohnerzahl her sind beide Stadtteile fast gleich groß.
Vor dem Treffen mit Marquardt habe ich etwas Angst, nachdem ich ihn aus seiner Biografie und dem Film mit den so grausamen Passagen kenne. Darüber hinaus heißt er mit Nachnamen genau wie der berüchtigte Türsteher des großen Berliner Szene-Clubs »Berghain«. Noch so ein Mensch, der einen Teil seines Lebens darauf gründete, andere einzuschüchtern. Nur dass mein Marquardt, der Karate-Marquardt aus Neukölln, viel gefährlicher sein kann.
Und dann sitze ich neben einem freundlichen Herrn, der Jogginghose trägt und wirklich höchst sympathisch wirkt. Am ehesten ist er: besorgt. Das Wort passt am besten. Davon, dass Neukölln sich wandele und angeblich teuer, ruhig und schick werde, spürt er nicht viel. Seine Kinder berichten ihm, wie sie in der Schule angegriffen werden, in den Bauch getreten, der Schulranzen wird ihnen abgenommen oder das Geld.
»Die Brutalität da draußen wird schlimmer«, sagt er. »Die menschlichen Werte sind nicht mehr da. Heute hauen sich die Jugendlichen an den Schulen nicht mehr in die Fresse wie wir, sondern treten den anderen halb tot.« Für die erwachsenen Kriminellen gelte das erst recht. Früher im Milieu habe man einem eine gescheuert, der sei umgefallen, und damit war der Streit beigelegt. Heute gehe das nicht mehr so, sagt Marquardt. »Heute wird gleich eine Waffe gezogen. Oder der Bruder kommt.« Die Hemmschwelle sei viel niedriger. »Wer ne Waffe trägt, benutzt die auch.« Er glaubt, dass wir »irgendwann amerikanische Verhältnisse« bekommen und in zehn Jahren eine noch viel härtere Szene auf den Straßen erleben. Da spricht ein kulturkonservativer Mann, der vieles kritisch sieht, auch die Eltern. »Die Erwachsenen holen den Kindern heute iPads und Ähnliches, um die einfach loszuwerden. Man gibt denen das in die Hand und lässt sie allein damit.«
Lieber wäre es ihm, die Kinder würden Kampfsport machen und lernen, ihren Mann zu stehen. Viel Hilfe hatte er nicht bei seiner Mission, ihnen das zu ermöglichen. Von Heinz Buschkowsky, dem Ex-Bürgermeister, dessen Name so eng mit dem Bezirk Neukölln verbunden ist, hält er zum Beispiel wenig. Der habe sich nur nach außen präsentiert. Als Marquardt vor einigen Jahren sein Sportstudio auflösen und in ein anderes umziehen musste, bot er dem Bezirk die Sportgeräte für einen symbolischen Euro an. Aber niemand nahm seine Idee auf, ein Fitnesscenter für ganz wenig Geld einzurichten, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße sind. Oft habe er im Rathaus angerufen, wurde immer nur abgewimmelt. Am Ende bot er das Studio im ganzen Land an – direkt am nächsten Tag schickte ein Jugendzentrum aus München einen Lkw. Vier Wochen später erhielt er einen Dankesbrief aus der bayerischen Hauptstadt mit Fotos von fröhlichen Jugendlichen an seinen Geräten.
Ich war auch mal Karateka, als Student. Zwei Jahre lang habe ich Wado-Ryu und Shotokan an der Universität trainiert. Ich hatte einen besonderen Lehrer, der sich aus Prüfungen nicht viel machte und seinen paar Schülern eher das Denken des Kämpfers nahebringen wollte, die Achtsamkeit und die schnelle Reaktion. Allerdings durchaus auch die schnell ausgeführten dreißig Liegestütze zu Beginn jedes Trainings. Weil ich davor und danach eher der Typ war, der an Schreibtischen rumsitzt und liest, darf ich sagen: So fit war ich nie wieder. Meine damalige Freundin packte mich irgendwann am Arm und sagte: »Du hast ja richtig Muskeln bekommen.« Große Freude im Leben eines Geistesarbeiters! Deswegen empfinde ich eine grundsätzliche Zuneigung zu dem japanischen Sport. Die schwindet immer dann ein wenig, wenn hart gekämpft wird und man echte blaue Flecken mit nach Hause nimmt. Die Gewalt schreckt mich eben auch in dieser sublimierten Form noch etwas ab, und in jeder Trainingsgruppe gibt es Schüler, die richtig heiß darauf zu sein scheinen, sich zu prügeln. Das führt mich zu der Grundfrage zurück, um die es auch bei der Straßenkriminalität oft geht: Letztlich verstehe ich nicht, warum jemand seine Wut brutal in die Umwelt trägt.
Danach gefragt, überlegt Marquardt erst einmal einen Moment. »Ein Verbrecher wird nicht geboren, der wird gemacht. Im Elternhaus geht’s los. Wenn das Kind Gewalt spürt, will es sich rächen. An Mama oder Papa kann es nicht ran, also sucht es sich einen Kleineren draußen«, sagt er. »Oder es passiert in der Gang, dann will man mitziehen, um weiter dazuzugehören.«
Ich habe eine unschöne Anekdote für den Karatemeister im Kopf. Gerade zwei Tage vor unserem Treffen wurde mein neunjähriger Sohn Leo auf der Straße angegriffen. Von einem anderen Jungen, der kaum älter ist. Leo ging mit seiner Freundin Sona auf den Bolzplatz. Plötzlich kam Diego, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie schon kannten, auf sie zu, beschimpfte sie und trat beide Kinder in den Rücken. Am nächsten Tag sprach ich mit der Rektorin unserer Schule über den...