Ad infinitum
und ad absurdum
Und nichtsdestotrotz verwehrte ich mich dagegen, dass alle Berichte über Jugendliche, die in den Vorstädten die Schulen mieden, ungeachtet der Tatsache, dass diese Jugendlichen einen französischen Pass besaßen und daher ipso facto Franzosen waren, früher oder später bei der Frage landeten, ob diese Jugendlichen denn wirklich französisch waren oder wenigsten so französisch, wie es Franzosen einforderten, die sich das Hoheitsrecht herausnahmen, zu bestimmen, welche kulturellen und sozialen Fähigkeiten ein Mensch zu besitzen und an welche kulturellen Standards er sich anzupassen hatte, um als Landsmann klassifiziert zu werden. Dass das Savoir-vivre französisch war und auch der Beaujolais nouveau, bestritt keiner. Dass l’amour und der Eiffelturm, die Cafés in Paris und die rot-weiß gewürfelten Tischdecken in den Bistros französisch waren, beteuerten doch die zahlreichen amerikanischen Touristen. Aber wie stand es mit der Revolte? War die Revolte französisch? Und Schulverweigerung? War Schulverweigerung ein französisches Phänomen? Und wie stand es mit der Gewalt? Und der Kriminalität? Und da wir schon einmal beim Fragen waren: War eine Moschee angesichts der Tatsache, dass fünf Millionen Muslime in Frankreich leben, französisch? Oder doch lieber nicht? War eine Synagoge französisch? War eine Synagoge französischer als eine Moschee? Eine Moschee französischer als eine Synagoge? War Couscous so französisch wie Coq au vin?
Man kann diese Fragen ad infinitum weiterführen. Und sie wurden und werden vom Front National ad infinitum und ad absurdum weitergeführt, wenn zum Beispiel ein Bürgermeister der rechtsextremen Partei fortan in den Schulkantinen seiner Stadt Schweinefleisch servieren lassen will, weil seine Schulen schließlich französische Schulen seien, in denen das Halal-Gesetz nicht eingehalten werden müsse. Natürlich müssen die Halal-Gesetze in der französischen Provinz nicht eingehalten werden, aber man sollte sie beachten – aus Respekt vor den Andersgläubigen. Denn Respekt gehört, bis zum Beweis des Gegenteils, auf jeden Fall auch zur französischen Kultur.
Viele rechte Intellektuelle warnen heute vor einer neuen Identitätskrise der Nation. Sie malen alle Schattierungen einer Überfremdung durch muslimische Einwanderer an die Wand und fürchten um den Fortbestand ihrer Werte. Die Schule dient in ihrer Beweisführung als eines der Hauptargumente, und sie werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Polen, Italiener, Chinesen, Vietnamesen, jüdische Einwanderer aus Osteuropa, dass sich all die Menschen, die seit Jahrhunderten nach Frankreich strömten, um ein besseres Leben zu leben und ihren Kindern eine Zukunft zu schenken, assimiliert haben, alle außer eben jene muslimischen Migrantenkinder aus Nord- und »Schwarzafrika«, die Schulen lieber anzünden, als sie zu besuchen.
Immigration und nationale Identität
Seit Nicolas Sarkozy 2007 ein Ministerium für Immigration und nationale Identität geschaffen und somit die Themenkreise Immigration und nationale Identität miteinander verbunden hatte, schüttelte sich die Linke vor Grauen, wenn das Thema nationale Identität auch nur angedeutet wurde, sah man darin doch eine rhetorische Finesse, um muslimische Bürger und Immigranten auszugrenzen und zu stigmatisieren. Das hat sich heute, nach den Attentaten 2015, radikal geändert, denn selbst linke Politiker haben für sich die republikanischen Symbole wiederentdeckt, singen als Antwort auf die Terroranschläge die Marseillaise und begeistern sich für die Trikolore, die in Paris von etlichen Balkonen hängt.
Auf die Frage, ob denn nun auch der Terror französisch sei, erhielt ich kürzlich eine Antwort, als ich beim Morgenkaffee in meiner Küche einem Interview lauschte, das der Innenminister Bernard Cazeneuve dem Radiosender RTL gab, ein Jahr nach dem Charlie Hebdo-Attentat: »Wir haben seit 2013 achtzehn Terrorzellen und Rekrutierungskanäle im gesamten französischen Staatsgebiet aufgelöst, die sich, unter anderem, in Nîmes, Orléans und Straßburg befanden. Wir haben Mitglieder von elf Terrorgruppen, die Attentate planten, festgenommen. Und seit dem Frühling 2015 haben wir sechs Attentate vereiteln können.« Eindeutiger kann es nicht bewiesen werden. Ob es uns also gefällt oder nicht: Der Terror ist auch ein französisches Phänomen.
»Wie soll denn das gehen mit der Bürgerbeteiligung?«
Der Präsidentschaftswahlkampf 2007 steht mir vor Augen. Die Kandidatin der Sozialisten, Ségolène Royal, stellte ihr Programm vor, mit dem sie das Land im Falle ihres Wahlsieges erneuern würde. Mein Sohn verteilte damals Flugblätter ihrer Partei, meine Freunde organisierten Treffen, und ich hörte daher genau zu, wenn Madame Royal über »Partizipatorische Demokratie« sprach. Sie gefiel mir, und weil sie mir gefiel, wollte ich es genauer wissen: »Wie soll das denn gehen mit der Bürgerbeteiligung?«, erkundigte ich mich als Erstes bei meinem Sohn. Da er aber wieder einmal viel zu beschäftigt war, um sich länger mit seiner Mutter abzugeben, und mir keine zufriedenstellende Antwort lieferte, wandte ich mich an Freunde: »Will sie die Bürger denn jedes Mal an die Urnen schicken? Geht das über Vereine? Oder über Institutionen? Kann sich da jeder melden? Wie sollen wir an einzelnen politischen Entscheidungen teilhaben?«, fragte ich, irritiert ob des allgemeinen Schweigens.
»Du immer mit deinen deutschen Fragen«, urteilte mein Sohn schließlich und verkündete stolz, dass Ségolène – wie so viele nannte er sie beim Vornamen, schließlich war er Mitglied der sozialistischen Jugend – mit ihrer Strategie der volksnahen Politikerin die Königin der Umfragen sei.
Ihr Konkurrent um das Präsidentenamt versprach etwas, was in meinen Augen so wenig Sinn ergab, dass ich es nicht einmal zu verstehen versuchte: »Wir müssen über unsere nationale Identität diskutieren. Ich werde Frankreich nicht wehrlos zurücklassen gegenüber Einwanderern«, beteuerte Nicolas Sarkozy und gewann damit prompt die Wahl. Nicht der Arbeitslosigkeit, nicht dem Klimawandel, nein, den Bewohnern der Banlieues und den Menschen in Asylbewerberlagern hatte Sarkozy den Krieg erklärt. Der Migrant als Staatsfeind Nummer eins, die Gefahr: Überfremdung.
Der »Abfall der Globalisierung«
Wer in der Politik über Identität redet, bleibt immer allgemein und spricht vor allem vom Verlust. Auch eine gewiefte Strategin wie Marine Le Pen äußert sich zu diesem Thema im Scherenschnitt. Denn müsste sie mehrdimensionaler umgrenzen, was nach ihrer Auffassung die nationale Identität der Franzosen ausmacht, könnten sich Teile ihrer Wählerschaft ausgeschlossen fühlen. Madame Le Pen sagt nie, was die Grande Nation ist – höchstens ab und an einmal, was sie war, damals in verklärten, glorreichen Zeiten –, sondern vor allem, was Frankreich nicht sein soll: ein Land voller Frauen mit Kopftüchern und Männern mit muslimischen Bärten. Warum Flüchtlinge, Heimatlose, Asylbewerber, Migranten, also jene Menschen, die der englische Soziologe polnisch-jüdischer Abstammung Zygmunt Bauman mit dem Zynismus des Verzweifelten den »Abfall der Globalisierung« nannte, Politikern jedweder Couleur immer dann gelegen kommen, wenn die Zeiten sich als schwierig erweisen, hat er in seinem Werk Verworfenes Leben dargelegt. Dass Fremde schon immer perfekte Sündenböcke abgaben, wissen wir auch aus der Geschichte. Und dass es leicht ist, unter Menschen, die sich verunsichert fühlen, Ängste zu schüren. Bauman sagt: »Diese Menschen umwandern den Globus auf der Suche nach einem Auskommen und versuchen sich dort niederzulassen, wo sie ein solches Auskommen finden. So bieten sie ein leichtes Ziel für das Abreagieren von Ängsten, die von der weitverbreiteten Furcht genährt werden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.«
Die Angst, in die Armut zu schlittern
Die Angst, in die Armut zu schlittern, wird durch einen Diskurs, der vor Überfremdung warnt, nicht behoben, aber man wird von ihr abgelenkt. Sarkozy ernannte allein zu diesem Zweck gleich nach seiner Wahl seinen Minister für Integration, nationale Identität und Immigration, der für »die Politik, das Gedenken und die Förderung der Staatsbürgerschaft und die Prinzipien und Werte der Republik« zuständig sein sollte. Es klingt etwas hölzern und pompös, vor allen Dingen aber frage ich mich, wie man der Staatsbürgerschaft gedenken und wie man sie fördern soll. Am Ende seiner Amtszeit war der Minister Éric Besson wie zu erwarten auch nicht viel schlauer. Er hatte zwar Seminare veranstaltet und das Volk befragt, aber was nun diese Zugehörigkeit ausmachte, dazu wollte auch er sich nicht näher äußern. Nur als Anekdote: Heute sitzt Besson im Aufsichtsrat des französischen Anbieters von weltweitem Bargeldtransfer, PayTop, der die Möglichkeit bietet, Geld schnell zu transferieren, was größtenteils von Arbeitsmigranten genutzt wird, die eine finanzielle Unterstützung an ihre Angehörigen in den Heimatländern schicken. Auch das ist Frankreich.
Die Integrationsdebatte
Die Integrationsdebatte wurde und wird in der Französischen Republik – wie nahezu überall in Europa – ideologisch geführt. Sie spaltet meine Familie wie meinen Freundeskreis in ein linkes und ein rechtes Lager auf, und jeder von ihnen beharrt auf seiner Schwerpunktsetzung. Wenn wir bei Tisch den Fehler begehen, über Integration zu reden, und ich, die ich im Grunde nichts mehr liebe als den Konsens, mich einmal mehr aufmache, zwischen den Fronten zu vermitteln, hört sich das ungefähr so an: Einer meiner linken Freunde postuliert,...