Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Was unser Buch bewirkt hat (und was noch nicht)
Das Erscheinen unseres Debattenbuchs Anfang 2014 löste heftige Reaktionen aus – nicht nur bei Ärzteverbandsfunktionären, die unsere Kritik reflexhaft zurückwiesen, sondern vor allem bei Praktikern innerhalb des deutschen Kinderschutzsystems, die uns in unzähligen Mails und Briefen überwiegend ihre Zustimmung zu unserer Darstellung des Systems versichert haben.
Auch die Medien berichteten breit über unsere Thesen, Falldarstellungen und Forderungen. Die Illustrierte stern widmete unserer Thematik eine Titelgeschichte; wir wurden von unzähligen Zeitungen und Radiosendern interviewt und in diverse TV-Sendungen eingeladen bzw. von Formaten begleitet, darunter das ZDF-Morgenmagazin, Frontal 21, 37 Grad, stern-tv und gleich zweimal in die Talkshow Markus Lanz. Zweimal waren wir auch bei Günther Jauch eingeladen, wurden jedoch jeweils im letzten Moment wieder ausgeladen, da sich die Redaktion für ein anderes, offensichtlich viel wichtigeres Thema entschieden hatte. Inwiefern die Schweizer Schwarzgeldkonten einer Alice Schwarzer brisanter sein sollen als das von uns angeprangerte tödliche Versagen des deutschen Kinderschutzsystems und inwiefern die Edathy-Affäre keine Überschneidungspunkte mit unserer Thematik aufweist, will sich uns allerdings bis heute nicht erschließen. Aus unserer Sicht lässt dies in Sachen Günther Jauch einen schalen Nachgeschmack zurück. Denn gerade so ein Format mit einem Millionenpublikum zur besten Sendezeit hätte die Möglichkeit, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Nur leider fehlte den Verantwortlichen bei Günther Jauch entweder der Mut, oder Kinder haben für sie schlichtweg keine Lobby.
Der Dachverband der evangelischen Einrichtungen, Verbände und Vereinigungen der Jugendhilfe, EREV, veranstaltete im Juni 2014 in Kassel ein Symposium zum Thema »Misshandelt Deutschland seine Kinder? Kinderschutz in der Diskussion«, zu dem wir beide eingeladen waren. Auf dieser Tagung setzten sich Praktiker verschiedener Fachrichtungen offen mit Missständen und Schwachstellen im deutschen Kinderschutz auseinander.
Professor Ludwig Salgo, renommierter Spezialist für Familien- und Jugendrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und langjähriger Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes, referierte zu den Allgemeinen Grundlagen und den ersten Evaluationsergebnissen des § 8a zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, und ein engagierter Familienrichter aus Frankfurt erläuterte dem staunenden Publikum, dass es für Familienrichter in Deutschland keine verbindlichen Qualitätsstandards gebe. Jeder junge Richter kann mit Ende zwanzig das Amt des Familienrichters bekleiden; dafür braucht er keine spezielle Aus- oder Fortbildung über seine juristischen Examina hinaus. Er kann also über Wohl und Wehe misshandelter Kinder entscheiden, ohne auch nur die nötige Lebenserfahrung, geschweige denn eigene Erfahrung im Zusammenleben mit Kindern vorzuweisen. Das ist in etwa dasselbe, wie wenn ein Medizinstudent direkt nach seinem letzten Staatsexamen in den Operationssaal spazieren und ohne jegliche Erfahrung Schwerstverletzte nach Verkehrsunfällen operieren oder Hirntumore entfernen würde.
Doch es fehlte auch nicht an uneinsichtigen Teilnehmern, die sich jede Kritik am deutschen Kinderschutzsystem und seinen Akteuren verbaten. Eine Landesjugendamtsmitarbeiterin aus Rheinland-Pfalz verkündete, dass der Jugendschutz in Deutschland außer in Einzelfällen vorbildlich funktioniere. Der Leiter eines freien Trägers verstieg sich gar zu der Behauptung, Kinder wollten doch eigentlich immer zu ihren Eltern zurück. Zum »Beweis« führte er die Kinder der Angehörigen der Zwölf Stämme an, die erklärt hatten, sie wollten zu ihren Eltern zurück, als sie vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, obwohl diese sie schwer misshandelt hatten. Willkommen zurück im Wildwest-Kinderschutz, dachten wir uns nur angesichts solch hanebüchener Deutungsversuche kindlichen Verhaltens.
Bei einer Tagung des Kinderschutzbundes im Juni 2014, zu der von uns beiden Dr. Guddat eingeladen war, bot sich ein ähnlich zwiespältiges Bild. Einige Teilnehmer brachten ihre Zustimmung zu den in diesem Buch vertretenen Thesen und Forderungen offen zum Ausdruck; andere hielten mit ihrer Missbilligung uns gegenüber nicht hinterm Berg.
Auf Einladung diverser freier Träger und Ämter hin führten wir zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen durch. Viele Jugendämter in Berlin sowie der städtische Kinder- und Jugendgesundheitsdienst nahmen unser Angebot gern in Anspruch, ihre Mitarbeiter zu schulen, damit diese dann in der Lage sind, misshandlungsbedingte Verletzungen von durch Unfällen im häuslichen Umfeld verursachten Verletzungen zu unterscheiden. Auch Kinderschutzfachkräfte, offiziell »insofern erfahrene Fachkräfte« (ISEF) genannt, und die Sanitäter der Berliner Feuerwehr wurden und werden von uns seither entsprechend geschult.
Wir wurden zu Botschaftern des bundesweit aktiven Deutschen Kindervereins Essen e.V. ernannt und stehen seitdem in engem Kontakt mit dessen Geschäftsführer Rainer Rettinger, mit dem derzeit eine bundesweite Aufklärungskampagne zum Thema Kindesmisshandlung in Vorbereitung ist.
Marco K. König, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbandes Rettungsdienst, kam nach Erscheinen des Buches auf uns zu und fragte, wie die Rettungsdienste zur Problemlösung beitragen könnten. Gemeinsam haben wir einen Flyer und eine sogenannte Kitteltaschenkarte entwickelt, auf denen für die Rettungssanitäter übersichtlich zusammengefasst ist, anhand welcher typischen Verletzungslokalisationen man erkennen kann, ob es sich um eine Misshandlung oder einen Unfall handelt. Ferner informieren sie darüber, wie das weitere Vorgehen in konkreten Fällen aussehen kann.
Im September 2014 suchten uns der Dekan der Katholischen Hochschule und der Lehrbeauftragte der Evangelischen Hochschule Berlin auf, um die Einrichtung eines Curriculums »Kindesmisshandlung« zu diskutieren – ein begrüßenswertes Weiterbildungsangebot für künftige Erzieher, Sozialarbeiter, Ärzte und alle anderen Praktiker, die bei ihrer Arbeit mit Kindesmisshandlungsfällen zu tun haben. Ob diese Idee in absehbarer Zukunft Wirklichkeit wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch ungewiss.
Das gilt genauso für etliche weitere Projekte zur Förderung des Kindeswohls, die an uns herangetragen wurden. Durch das Buch aufgerüttelt, kamen etliche Privatpersonen, Träger und Verbände mit Ideen und Projekten auf uns zu. Wir versprachen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen – doch viele dieser Initiativen scheinen inzwischen wieder versandet zu sein.
Mehr der Kuriosität halber seien einige äußerst bedenkliche Beiträge zu der von uns angestoßenen Debatte erwähnt.
Ein freier Träger hatte uns zu einem Kongress zum Thema »Kinderschutz in Berlin« eingeladen. Dr. Guddat sollte den Eröffnungsvortrag halten, anschließend sollte Professor Tsokos an der Podiumsdiskussion teilnehmen. Dann übernahm ein anderer Dachverband kurzfristig die Organisation der Tagung. Plötzlich sollte Dr. Guddat nicht mehr den Einführungsvortrag halten, sondern auf dem Podium sitzen, und Professor Tsokos stand überhaupt nicht mehr auf der Teilnehmerliste. Dr. Guddat erhielt überdies vor der Tagung einen Anruf, in dem sie aufgefordert wurde, sich bei der Diskussion »zu mäßigen«.
Die Tagung war dann eine reine Schlammschlacht. Jeder zweite Satz der Referenten richtete sich gegen unser Buch und die Autoren, die es gewagt hatten, angebliche Fehler des deutschen Kinderschutzsystems offen anzuprangern. Die Teilnehmer der Tagung machten ihrem Unmut immer wieder Luft und ließen dabei tief in ihre Seelen blicken: »Warum tun wir uns das hier überhaupt an?«, war ein typischer Beitrag. »Ich will nicht hören, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Mir müssten die Füße dafür geküsst werden, dass ich diesen harten Job überhaupt mache!«
Die abschließende Podiumsdiskussion dauerte gerade mal eine halbe Stunde; Dr. Guddat bekam keine Gelegenheit, ihre Position systematisch darzustellen. Dafür wurde nach der Tagung die Bitte an sie herangetragen, ihre Argumente aus der Diskussion und »alles, was Sie dort nicht loswerden konnten«, schriftlich zusammenzufassen; dieses Papier wolle man dann den Teilnehmern der Tagung zukommen lassen. Dr. Guddat lehnte ab; schließlich hatte sie den ganzen Tag auf dem Kongress verbracht, wo man sie kaum zu Wort kommen ließ.
Ein weiterer bizarrer Zwischenfall: Im April 2014 versuchte ein unter Mordverdacht in U-Haft einsitzender Mann, der beschuldigt wurde, ein kleines Mädchen durch wiederholte massive Schläge in den Bauch getötet zu haben, unser Buch per einstweilige Verfügung zu verbieten. Als Begründung führte er an, dass er sich selbst und die ihm zur Last gelegte Tat in einer unserer Fallgeschichten wiedererkannt habe.
In der fraglichen Fallgeschichte wie auch im gesamten Buch haben wir jedoch alle Akteure und Schauplätze so verfremdet, dass reale Personen keinesfalls zugeordnet werden können. Tatsächlich war der in seinen Grundzügen maßgebliche Misshandlungsfall zuvor in den Medien so breit und unverschlüsselt erörtert worden, dass von einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch unser Buch ohnehin nicht die Rede sein konnte.
Dem Antrag auf einstweilige Verfügung wurden vom zuständigen Gericht keine Erfolgsaussichten eingeräumt, woraufhin der Mann den Antrag zurücknahm. Stattdessen wurde er wenig später wegen Mordes an der kleinen Tochter seiner Lebensgefährtin zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Zumindest die...