Kai-Uwe Hugger
Mediatisierung und entgrenztes kommunikatives Handeln von Jugend und Jugendkulturen
Die These, die auf den folgenden Seiten entfaltet wird, ist, dass der heute zu beobachtende gesellschaftliche Mediatisierungsschub, der mit den digitalen Medien eng verknüpft ist, zu Entgrenzungen kommunikativen Handelns von Jugend und Jugendkulturen führt. Schulische Bildung muss diese Entgrenzungen berücksichtigen, um Medienkompetenzförderung mit den Bedingunen des heutigen jugendlichen Medienalltags zu verzahnen.
1. Medienkommunikation und kommunikatives Handeln unter Mediatisierungsbedingungen
Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen unterliegen einem ständigen sozialen Wandel, bei dem gesellschaftliche Metaprozesse, wie insbesondere Globalisierung, Individualisierung und Kommerzialisierung, mit Mediatisierungsprozessen in Wechselwirkung stehen. Mediatisierung lässt sich nach Friedrich Krotz (2001, 2017) zunächst als Prozess der zeitlichen, räumlichen und sozialen Entgrenzung von Medienkommunikation verstehen, bei der die »alten« Einzelmedien, wie zum Beispiel Zeitung, Radio oder Fernsehen, in technischer, organisatorischer und ästhetischer Hinsicht neu konfiguriert werden. Die neu entstehenden Medien sind als Hard- und Softwaresysteme in eine »computergesteuerte digitale Infrastruktur« integriert:
Das zeigt sich am deutlichsten schon bei dem Medium »Photographie«, deren alte Technik ebenso verschwunden ist wie die für den Betrieb relevanten Unternehmen und Organisationsformen. Auch haben sich die früheren Bildmotive verändert, wie etwa die Selfies zeigen, ebenso wie die Verwendungen von Bildern in Form von Instagram, zur Selbstdarstellung in den sozialen Netzen oder auch als Einmalbilder wie bei Snapchat. (Krotz 2017, S. 29)
Zugleich zeigt sich, dass die neuen Medien nicht mehr an besondere Wahrnehmungsformen sowie Vermittlungsweisen gebunden sind. So sind etwa Apps und die mit ihnen verbundenen kommunikativen Handlungsweisen sowohl auf Smartphone, Tablet und Laptop verfügbar und gebündelt organisiert. Die digitale Infrastruktur entwickelt sich somit zum Knotenpunkt gegenwärtiger Kommunikation. Dabei unterscheidet Krotz insgesamt drei entgrenzte und in der kommunikativen Alltagspraxis miteinander verwobene Formen der Medienkommunikation. Erstens: Die früher im Mittelpunkt stehende Massenkommunikation könne heute als »räumlich und zeitlich (voneinander getrennte) Produktion und Rezeption von standardisierten, allgemein adressierten Kommunikaten« verstanden werden, die in unterschiedlicher Form in die digitale Infrastruktur eingebettet sei, zum Beispiel in Form von YouTube-Videos, Blogs, Podcasts und Instagram. Zweitens habe sich die medienvermittelte interpersonale Kommunikation ausdifferenziert, indem für das Festnetztelefon und die Briefkultur heute verschiedenste Hard- und Softwaresysteme, wie zum Beispiel E-Mail oder WhatsApp, entwickelt wurden. Drittens sei die interaktive Kommunikation zwischen Mensch und Computer zu nennen, wie zum Beispiel das Spielen an Computer oder mobilem Endgerät, der Kontakt mit Robotern und das Steuern von Drohnen (ebd., S. 30).
2. Fünf Aspekte veränderter Medienkommunikation
Der so beschriebene Wandel der Medienkommunikation wirkt sich auf die Sozialisation und die kommunikative Alltagspraxis von jungen Menschen aus, indem hier ebenfalls Entgrenzungstendenzen festzustellen sind. Fünf miteinander verschränkte Ausdrucksformen entgrenzten kommunikativen Handelns von jungen Menschen mit digitalen Medien stechen gegenwärtig hervor und seien an dieser Stelle genannt:
1) Digitale Medien durchdringen die sozialen Wirklichkeitskonstruktionen von Kindern und Jugendlichen in selbstverständlicher Weise.
Somit kann von einer mediatisierten Kindheit und Jugend (Tillmann/Hugger 2014) gesprochen werden, was jedoch nicht technologisch-verkürzt misszuverstehen ist, sondern bedeutet, Medien und Medienwandel im Zusammenhang mit den subjektiven, sozialen und kulturellen Entwicklungen des Aufwachsens zu analysieren. Demnach sind digitale Medien und Medienwandel ein zentraler Bestandteil der Handlungs- und Erfahrungskontexte, in denen Kinder und Jugendliche agieren und in denen sie sich Medien zu unterschiedlichen Zwecken aneignen. Sie besiedeln die Online-Welten entsprechend ihrer Interessen und Hobbys, die mit der Offline-Welt verankert sind. Sie verfügen über differente Aneignungsmuster, die sich sowohl im zeitlichen Umfang ihrer Medienzuwendung abbilden als auch im kreativen Umgang mit den digitalen Medien sowie in unterschiedlichen Dimensionierungen von Medienkompetenz (Treumann u. a. 2007). Theoretisch-konzeptionell wird damit an die klassische mediensozialisatorische Einsicht auch für die digitalen Medien angeknüpft, nämlich dass Mediennutzung ein aktiver Vorgang ist und grundsätzlich Kinder und Jugendliche fähig sind, sich ihre mediale Umwelt aktiv anzueignen und auch an der (gemeinschaftlichen) Gestaltung der Medien bzw. sozio-technischer Gefüge aktiv zu partizipieren.
2) Im Vergleich zu den früheren Massenmedien eröffnen die in die computergesteuerte digitale Infrastruktur eingebetteten Medien ihren Nutzern erweiterte Partizipationsmöglichkeiten (deren Wirkmächtigkeit freilich nicht fraglos ist).
Diese sind im Social Web gekennzeichnet durch die technischen Möglichkeiten der partizipativen Interaktion, Annotation, Zitation, Kollaboration und Kommentierung (Marotzki 2008) und werden von Seiten wie zum Beispiel YouTube, Wikipedia, Facebook oder Instagram angeboten. Henry Jenkins hat dazu bereits 2006 betont, dass sich eine durch digitale Medien ermöglichte Kultur der Partizipation entwickelt, die sich kategorial von den früheren, massenmedial geprägten Vorstellungen vom passiven Zuschauer unterscheidet. Jugendliche seien immer mehr über das Internet in »participatory cultures« eingebunden. Darin nehmen jugendliche Fans eine wichtige Rolle ein. Von ihnen werde eine aktive Teilhabe erwartet, weil sie zum Beispiel von neuen Fernsehserien, aber auch von ihren Stars und Idolen ermutigt werden, nach zusätzlichen und weiterführenden Informationen im Internet zu suchen und sich in Foren darüber auszutauschen. Die Fans stellen medienkonvergente Verbindungen zwischen den in unterschiedlichen Medien verfügbaren Inhalten her. Dabei sind sie aber auch auf die sozialen Beziehungen zu Gleichgesinnten angewiesen, wodurch Gemeinschaften entstehen, in denen Wissen gemeinsam geschaffen, zirkuliert und debattiert wird (Jenkins 2006, S. 27).
Zugleich macht sich jedoch in den letzten Jahren Ernüchterung breit, ob diese neuen Teilhabemöglichkeiten des Internets gesellschaftlich nachhaltig und durchdringend sind. Ein Beispiel dafür ist, dass die hohen Erwartungen an die internetgestützten politischen Partizipationsprozesse, wie sie etwa rund um die Ereignisse des Arabischen Frühlings formuliert wurden, kaum eingelöst werden konnten. Heinz Moser (2014, S. 26) fasst als Ergebnis dieser Diskussion zusammen, dass zwar über die digitalen Medien eine Mobilisierung von jüngeren Bevölkerungsschichten gelang. Dadurch habe letztendlich aber keine Revolution von unten stattgefunden. Komplexere politische Strukturveränderungen seien weniger über Facebook oder Twitter organisiert worden, als mehr über die Demonstrationen, die auf der Straße stattgefunden hätten. Allerdings wird in der gegenwärtigen Debatte oft zu pauschal festgestellt, dass E-Partizipation häufig eher die Gestalt von Pseudo-Partizipation annimmt bzw. im passiv-rezipierenden Bereich verbleibt (vgl. Schmidt u. a. 2009). Für Jugendliche scheint es heute zwar naheliegender zu sein, eine Online-Petition zu unterzeichnen, als dies an einem Straßenstand zu tun, wie die Shell-Jugendstudie (2015, S. 200) festhält. Welche Wirkmächtigkeit diese oder jene Online-Aktivität hat, muss aber jeweils überprüft werden (Kutscher/Farrenberg 2014). Denn vieles spricht dafür, dass sich mit den individuellen und niederschwelligen (politischen) Partizipationsund Beteiligungsangeboten, die über das Internet zugänglich sind und in die sich Jugendliche online einbringen können (Shell Deutschland Holding 2015, S. 200), wichtige neue Möglichkeiten der Teilhabe ergeben.
3) Vergemeinschaftungs- und Gesellungsformen, in deren Rahmen Jugendliche sich selbst darstellen, sich mit ihrer Identität auseinandersetzen und ein soziales Miteinander mit Gleichgesinnten finden können, wandeln sich und sind heute nicht mehr denkbar ohne ihre Verflechtungen mit der computergestützten digitalen Infrastruktur.
Dabei korrespondiert die Pluralität jugendkultureller Vergemeinschaftungsformen mit der Pluralität digitaler Mediennutzung. Die digitale Infrastruktur bietet jeder nur erdenklichen Jugendkultur und Jugendszene einen geradezu unüberschaubaren Möglichkeitsraum, sich zu präsentieren, inszenieren, stilisieren, orientieren und vergemeinschaften. Dies bedeutet: Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie und warum Jugendliche und ihre jugendkulturellen Gesellungen die Online-Welt besiedeln und sich dort in Verankerung mit der Offline-Welt gewissermaßen hybrid sozialisieren, muss man sich von der homogenisierenden Generationengestalt der Netz-Generation verabschieden und sich den jugendkulturellen...