Erste Blicke
Erstes Kapitel, in dem der Rundheit Bayerns zunächst auf einer Insel, dann in einem Einkaufszentrum, dann in einem tropischen Nest und schließlich, nach einer kurzen Betrachtung heiliger Klangkörper, in einem Pornofilm gehuldigt wird.
1. Auf Frauenchiemsee
Zu den größten Irrtümern bezüglich Bayerns zählt die Annahme, dass Bayern ein Land sei. Sicherlich, man kann Bayern auf einer Landkarte mühelos lokalisieren, gefunden hat man damit jedoch nichts. Auch kann man sich in ein Verkehrsmittel setzen und durch Bayern fahren, gesehen hat man es trotzdem nicht. Man kann sogar aussteigen, sich in einem einschlägigen Trachtengeschäft einschlägig einkleiden, ins Hofbräuhaus pilgern, ein Almochsengulasch verspeisen, fünf Maß Bier hinterherschütten und irgendwann vom Stuhl kippen – gespürt hat man den Fußboden vom Hofbräuhaus, doch nicht Bayern.
Was aber ist Bayern dann? Ein Traum, ein Mythos, ein Irrtum, ein guter Witz, ein schlechter Scherz, eine clevere Idee, ein Versehen? »Nix Gwiss woaß ma ned«, lautet die bayerische Variante jener berühmten sokratischen Phrase, mit der der alte Grieche einst die prinzipielle Unmöglichkeit eines absoluten menschlichen Wissensbesitzes konstatierte, mit der er aber gleichermaßen das Nichtwissen auf paradoxe Weise relativierte. »Nix Gwiss woaß ma ned« bestreitet zwar endgültige Gewissheit, nicht aber das Recht auf spekulative Abenteuer. Schließlich weiß man in Bayern auch: »Zwoamoi schiaf is aa grod!«
Ganz in diesem die euklidische Geometrie sprengenden Sinn vertritt das vorliegende Buch die ziemlich steile These, dass Bayern ein eckiger Kreis sei. Das klingt dubios und ist es auch, weshalb wir zunächst einmal ganz entspannt zum Chiemsee fahren und mit einem Schiff der Chiemsee-Schifffahrt zur Fraueninsel übersetzen wollen. Frauenchiemsee gehört zur nicht ganz ungefährlichen Kategorie der sogenannten oberbayerischen Kleinode. Natürlich ist es Sommer und Ferienzeit und Samstag und herrlichstes Wetter, weshalb man vor lauter Menschenleibern weder den Chiemsee noch die Chiemgauer Berge oder das Schiff sehen kann, das den Besucher zur Fraueninsel übersetzt, die ebenfalls nicht sichtbar ist. Eingezwängt zwischen transpirierenden Bäuchen und Rücken wird man sodann mit sanfter Gewalt auf einem schmalen Weg unaufhörlich vorwärtsgeschoben, vorbei an Gartenzäunen, Bootshäusern, voll besetzten Biergärten, voll besetzten Wiesen, voll besetzten Bänken und voll besetzten Schiffsstegen.
Nach etwa einer halben Stunde beschleicht einen erstmals ein seltsames Gefühl, eine Art Déjà-vu-Effekt: Irgendwie glaubt man, Gartenzäune, Bootshäuser, voll besetzte Biergärten und ebensolche Wiesen schon einmal gesehen zu haben. Und auch den kleinen überlaufenen Töpferladen erkennt man wieder … Spätestens nachdem man zum dritten Mal die Außenfassaden eines klosterartigen Gebäudes passiert hat, beginnt man zu erahnen, dass man sich ganz offensichtlich im Kreis bewegt. Also hält man, eingezwängt zwischen fremden Bäuchen und Rücken, Ausschau nach einer Möglichkeit, diesem Circulus vitiosus zu entkommen und erst einmal zu pausieren. Allein die Bäuche und Rücken lassen einem keine Chance. Unaufhörlich nötigen sie einen weiter und weiter und weiter. Und auch die voll besetzten Biergärten, die voll besetzten Wiesen, die voll besetzten Bänke und die voll besetzten Stege reduzieren die Chancen, einen Abstellplatz für seinen eigenen, mittlerweile ebenfalls heftig transpirierenden Körper zu ergattern, auf null. Also geht man weiter und weiter und weiter.
Und weiter: Nach der zehnten Umrundung denkt man an ein Formel-1-Rennen, nach der elften an den Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«, nach der zwölften an Buddhas Lehre vom ewigen Kreislauf des Seins, aus dem auszubrechen nur dem Erleuchteten gelingt, nach der dreizehnten an nichts mehr. Und so findet man sich irgendwann auf dem Abfahrtssteg der Chiemsee-Schifffahrt wieder, wo man, eingekeilt zwischen schwitzenden Bäuchen und Rücken, zwei Stunden lang in absoluter Bewegungslosigkeit verharrt, bevor man schließlich in der Abenddämmerung auf einem unsichtbaren Schiff Frauenchiemsee wieder verlässt.
2. Mit Irmingard und Tassilo im Klosterladen
Zu Hause angekommen empfiehlt es sich unbedingt nachzulesen, woran man einen herrlichen Sommertag lang vorbeigelaufen ist: Da wäre zum Beispiel die Benediktinerinnenabtei Frauenwörth, ein Frauenkloster, dessen Geschichte bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht. Die selige Irmingard, Schutzpatronin des Chiemgaus, verbrachte dort ihr knapp 35 Jahre währendes gottgefälliges Erdendasein. Als Tote musste sie anschließend freilich gut 900 Jahre lang ohne Kopf in ihrem Marmorsarg liegen. Ein Bischof hatte ihn, den Kopf, im 11. Jahrhundert zur Verehrung ins nahe Kloster Seeon bringen lassen, von wo er erst im 20. Jahrhundert wieder zurückkehrte. Heute ruhen ihre vollständigen, DNA-geprüften Gebeine in einem edlen Glasschrein. Unter Wallfahrern besitzt die selige Irmingard Kultstatus.
Kultstatus besitzt auch Tassilo III., der Stifter von Frauenwörth und letzte Agilolfingerherzog. Er war einer der mächtigsten Bayernherzöge aller Zeiten. Seine zahlreichen Klostergründungen legen beredtes Zeugnis davon ab. Er war aber auch einer der bayerischsten Bayernherzöge aller Zeiten, ein Umstand, der sich vor allem darin äußerte, dass er an akuten Subordinationsschwierigkeiten litt. Lehensrechtlich an Karl den Großen gebunden verweigerte er sich diesem wiederholt und kochte lieber sein eigenes, bayerisches Süppchen. Dem großen Karl gefiel das gar nicht, und so kam es zum offenen Streit, an dessen Ende Tassilo seiner Herzogswürde verlustig ging und »gemöncht«, will heißen kahl rasiert, in ein Kloster gesteckt wurde. Klöster waren damals nicht nur heilige, sondern auch sichere Orte, sprich Staatsgefängnisse. Die selige Irmingard war übrigens eine Urenkelin Karls des Großen. So klein kann die Welt mitunter sein: Ein paar Hektar Land im Chiemsee genügen, um hautnah mit Bayerns Heiligkeit, Bayerns Kopflosigkeit, Bayerns Renitenz sowie Bayerns seltsamem Verhältnis zu anderen in Berührung zu kommen.
Wobei das Benediktinerinnenkloster nur knapp ein Drittel der Insel beansprucht und mitnichten die Hauptattraktion darstellt. Glaubt man den Bildern in diversen Reiseführern und einschlägigen Internetplattformen, so besteht der Rest – der selbstverständlich alles andere als ein »Rest« ist – aus einer atemberaubenden Mischung aus Dorfidylle und Gemütlichkeit. Natürlich nur, sofern keine Besucher anwesend sind, die, wenn sie denn da sind, prinzipiell in Heuschreckenformation über die Insel herfallen, weshalb es von jener Dorfidylle und jener Gemütlichkeit der Insel folgerichtig nur Fotos geben kann. Fotos, auf denen einsame Ufer zu blauen Blicken und einsame Wiesen zu grünen Träumen einladen. Fotos, deren bukolische Intensität fast schon wehtut. Fotos, die jeden zivilisierten Romantiker augenblicklich dazu zwingen, sich auf diese Insel zu wünschen, um dort im dottergelben Spätnachmittagslicht in einem der Biergärten zu sitzen und mit dem lieben Gott oder ersatzweise einem urigen Eingeborenen zu plaudern. Doch ist er dann dort, sind alle dort, und die Fotos – sind weg.
Was unweigerlich die Frage aufwirft, warum dennoch so viele Menschen die Fraueninsel besuchen? Ist es Naivität? Oder gar vorsätzliche Realitätsverweigerung? Kann man als durchtrainierter, mit allen Wassern der postmodernen Imagewerbung gewaschener Konsument ernsthaft noch an sentimentale Fotos glauben? Und schlimmer noch: Kann man als realitätsoffener, selbstkritischer Wochenendausflügler auch nur für einen Sekundenbruchteil den Gedanken hegen, an einem sonnigen Bilderbuchsamstag ein Ausflugsziel der nicht ganz ungefährlichen Kategorie »oberbayerisches Kleinod« in besinnlicher Einsamkeit anzutreffen? Oder aber geht es dem Gros der Besucher womöglich gar nicht um ein derartiges Unterfangen, sondern lediglich um den banalen Vollzug eines touristischen Rituals, das im geduldigen Abklappern von im Reiseführer aufgelisteten »Sehenswürdigkeiten« besteht? Herrenchiemsee, die andere große Inselattraktion im Chiemsee mit ihrem Märchenschloss, ihrem Schlosspark, ihrer Spiegelgalerie und ihrem »Tischlein deck dich«, liegt quasi »um die Ecke«. Da bietet sich ein Abstecher an. Digitalkameras sind immer hungrig. Warum nicht nach dem verrückten Märchenkönig noch ein bisschen Irmingard und Tassilo auf die Speicherkarte laden, eingerahmt von mittelalterlichem Trödel und einem gut sortierten Klosterladen, der neben Holzkreuzen, Bienenwachskerzen und Meditations-CDs (»Klänge des Labyrinths«) eine beeindruckende Kollektion an Kräuterlikören und Magenbittern führt? »Maßvoll genossen erfreuen sie das Herz und sind der Gesundheit zuträglich«, belehrt ein Schild an einem der Verkaufstresen.
Keine Frage, Romantiker, Wochenendausflügler und Touristen sind grundsätzlich zu allem fähig. Ausgerüstet mit den unterschiedlichsten Motiven suchen sie Glück, Unterhaltung oder Klosterlikör. Und finden sich, sofern sie Frauenchiemsee an einem sonnigen Feriensamstag die Ehre erweisen, doch nur Bauch an Rücken, Rücken an Bauch, mit anderen Romantikern, Wochenendausflüglern und Touristen in einer anonymen, heftig transpirierenden Menschenmasse wieder, welche langsam und geduldig, Schritt für Schritt, voll besetzte Biergärten, voll besetzte Wiesen und voll besetzte Bänke umkreist, immer und immer wieder. Wenn das nicht gaga ist!
Und das Erstaunlichste daran: Sie tun es ohne Murren, ohne Klagen, ohne Anzeichen von Protest. Friedlich, fast meditativ, umrunden sie das ovale Eiland zehnmal und öfter. Blickt...