Einleitung – »Ich bin ein Mensch, keine Farbe«
Kann man das Wunderschöne verallgemeinern? Oder ist es nur das, was man selbst als wunderschön empfindet? Und wie ist es mit dem Hässlichen? Dem Ungerechten? Dem Akzeptablen oder dem Angenehmen? Wie mit unseren Träumen und Vorstellungen? Oder unserem Geschlecht?
Es war ein später Abend im Sommer, als ich meine Aufzeichnungen zu meinem ersten Frauenseminar durchlas. Darin war es um Geschlechterrollen und ihre Klischees gegangen, nur wenige Tage erst lag die Veranstaltung zurück. Die Vorhänge hatte ich weit aufgerissen und die Fenster meines Arbeitszimmers geöffnet. Mich bewegte, was wir in den vergangenen Wochen aufgearbeitet hatten, dachte über meine eigenen Erfahrungen nach, die ich mit diesem Thema gemacht hatte.
In meinem Leben habe ich beruflich sehr viel mit Frauen zu tun gehabt. Als Autor, Filmemacher und von den Menschen Faszinierter setzte ich mich seit Jahren mit dem Widerspruch zwischen Image und Wirklichkeit auseinander, als Couch beriet ich hauptsächlich Frauen, wobei mein Fokus auf den Geschlechterklischees lag. Seit dieser intensiven Beschäftigung empfand ich es als Niederlage, würden sich Männer und Frauen als unterschiedliche Wesen betrachten, und zwar als Konsequenz unseres genetischen Pools, demzufolge Frauen angeblich »schwächer« und »weicher« sind und Männer »stärker« und »rationaler«. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen dagegen.
Was aber nicht heißt, dass weibliche und männliche Geschlechterrollen und damit verbundene Geschlechterklischees nicht existieren. Trotz aller emanzipatorischen Forderungen und ihrer Realisierungen halten sie sich hartnäckig. Fast scheint es, als wären sie in Stein gemeißelt. Als ich das erkannt hatte, wollte ich mehr über diese Unbeweglichkeit der Klischees in Erfahrung zu bringen. Das tat ich, indem ich mit ihnen zu spielen begann. Über einen längeren Zeitraum, insgesamt waren es zwei Jahre, schlüpfte ich immer wieder in die Rolle einer Frau und versuchte, das Leben aus weiblicher Perspektive kennenzulernen. Es war ein unfassbares Erlebnis, nie hätte ich gedacht, wie mächtig Geschlechterrollen noch waren. Das konnte ich nicht so einfach hinnehmen, und ich begann gegen sie zu kämpfen. Über meine Spurensuche und mein Aufbegehren schrieb ich dann auch ein Buch: Die Frau in mir.
Da ich eine Schauspielausbildung absolviert und Theaterwissenschaften studiert hatte, konnte ich sehr schnell die typischen Anzeichen eines Rollenverhaltens an mir selbst feststellen. Beim Method Acting, einer speziellen Schauspieltechnik, gestaltet man sein Rollenspiel, indem man in sich persönliche Identifikationspunkte mit der jeweiligen Rolle ermittelt. Auf der Bühne identifiziert man sich schließlich mit ihren psychologischen Aspekten. Doch nach der Vorstellung ist es wichtig, sich wieder von ihnen zu lösen, um keine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Die Geschlechterrollen, wie ich sie erlebte, erschienen mir jedoch wie ein Theaterspiel, von dem man sich nie gelöst hatte. Die Verwurzelung dieser Rollen in unserer Gesellschaft, die die Bühne für sie darstellt, konnte ich nur als sehr stark bezeichnen. Human war etwas anderes, denn es war einfach ein viel zu enges Korsett. Um Möglichkeiten der Loslösung zu ermitteln, versuchte ich nicht nur bei mir, sondern als Couch auch bei anderen – wie gesagt, meist Frauen – die Rollen umzugestalten, sie zu erweitern, zu variieren, mit Gewalt aufzubrechen.
Gerade nach der Veröffentlichung von Die Frau in mir kamen viele zu mir oder schilderten mir über Skype ihre Konflikte, die sie in sich trugen, Konflikte, die genau mit den immer noch zementierten Geschlechterrollen in Verbindung standen. Ungeheure Dimensionen taten sich da auf, wobei sich ein Problem als grundlegend abzeichnete. Fast alle diese Auseinandersetzungen gründeten auf einem – oft unbewusstem – Kampf der Frauen mit ihrer eigenen Weiblichkeit und in Verbindung damit auch mit der Männlichkeit des anderen Geschlechts. Viele erzählten von Krisen, spannten einen weiten Bogen von ihrem Privatleben bis in die männlich dominierte Arbeitswelt, wo sie ihre Frau zu stehen versuchten – und vielfach an besagten Klischees scheiterten.
Da ich auch auf Facebook und in Chats kommunizierte, erreichte mich auf diese Weise eines Tages Sophia, eine Mittdreißigerin und Managerin, die in einem Hightechkonzern tätig war.
»Stell dir das nur vor!«, chattete sie. »Weißt du, wie mich mein Chef genannt hat? ›Die Farbe auf dem Büroflur.‹ Unfassbar! Und das vor zehn Männern, noch dazu mitten in einem Meeting. Das zahl ich ihm heim!«
Eigentlich hätte sie die Aussage als Kompliment betrachten können, aber das schrieb ich Sophia nicht. Das gegenseitige Verstehen oder Nichtverstehen von Frauen und Männern konnte ein Minenfeld sein – besonders im Beruf. Wer vermochte schon zu sagen, wer dabei in die Luft flog?
Es dauerte etwas, bevor ich antwortete. Draußen stürmte es. Im Garten riss der Wind einen großen Zweig von einem Baum, und während er durch die Luft wirbelte, schlug er mit einem lauten Krachen gegen andere Äste. Obwohl ich sicher in meinem Arbeitszimmer am Computer saß, verspürte ich einen Hauch von Angst in mir aufkeimen. Wie konnte das sein? Unmöglich konnte mir etwas, geschützt in meinen vier Wänden, passieren? Laub wirbelte durch die Luft. Wunderschön war dieses Naturschauspiel im Grunde. Doch was war wunderschön?
Man soll sich niemals gegen etwas mit Gewalt wehren, was es auch sei, sinnierte ich weiter, außer man wird existenziell bedroht. Aber was wiederum empfindet jemand als existenzielle Bedrohung?
»Du hast die Situation anders wahrgenommen als dein Chef«, hackte ich endlich diplomatisch in die Tasten. »Ist auch kein Wunder, wenn man so etwas im Beisein von zehn Männern gesagt bekommt. Wie hast du überhaupt reagiert?«
Sophia ist eine hochintelligente Frau, gut aussehend, humorvoll, ehrgeizig, eine, die schnell einen flotten Spruch auf den Lippen hat, schneller als so mancher Mann. Sie gehört zu jenen Frauen, die Männer dazu bringen, dass sie zu grübeln anfangen: Ist sie nicht ein wenig zu taff? Hat sie nicht einen Tick zu viel Schubkraft? Aber warum sollte eine Frau nicht mit der gleichen Energie ihren Beruf ausüben, wie viele Männer es tun?
»Mir hat’s glatt die Sprache verschlagen«, erwiderte Sophia. »Hab nur ziemlich kleinlaut rausgebracht, dass ich mir so eine Äußerung nicht gefallen lassen muss. Daraufhin wurde ich nur verständnislos angeglotzt.«
Die Geschichte ging dann weiter. Nach dem Vorfall versuchte Sophias Boss, sich bei ihr zu entschuldigen. Er stellte ihr einen Strauß Tulpen in ihr Büro. Doch wieder rebellierte sie, auch diese Handlung empfand sie als Übergriff.
»Würden Sie sich in einer vergleichbaren Situation bei einem Mann ebenfalls mit einem Strauß Blumen entschuldigen?«, fragte sie ihren Vorgesetzten unverblümt. »Hätten Sie überhaupt einen männlichen Mitarbeiter jemals ›Farbe auf dem Büroflur‹ genannt?«
»Nein, dazu wäre es wohl kaum gekommen«, meinte ihr Chef lakonisch.
Sophia fühlte sich endgültig falsch verstanden. Nur weil sie eine Frau war, konnte ihr also Derartiges passieren. Wobei: Mit dieser Einschätzung hatte sie recht, ihr Beispiel stand stellvertretend für unzählige ähnliche Ereignisse, die mir im Laufe der Monate von berufstätigen Frauen auf meine Nachfrage hin berichtet wurden. Solche Geschehnisse drücken vor allem eines aus: Dass die Gleichstellung von Frauen im Berufsalltag mehr Theorie als Wirklichkeit ist, real prallen Frauen und Männer ständig aufeinander, oder sie driften aneinander vorbei.
Auch wenn ich bei diesen Erkundigungen von vorwiegend beruflichen Problemen hörte, ging es den Frauen letztlich immer um das Zwischenmenschliche, um Beziehungen ohne Sex und um den häuslichen Alltag, der Basis für ihr äußerliches Engagement ist. Sie wollten im Beruf vorwärtskommen, sie einte die Sorge, wie sie sich in jener Männerwelt durchsetzen, wie sie im anderen geschlechtlichen Lager erfolgreich agieren konnten, ohne dass Mann das Gefühl beschlich, dass ihm etwas weggenommen wurde. Unbewusst schien er zwar so etwas zu empfinden, doch welcher moderne Mann gab zu, dass im Beruf nur seinesgleichen etwas zu suchen hätten? Einen solchen Gedanken würde er sich nicht einmal zu denken trauen. Trotzdem berichteten die Frauen, wie sie von Männern in der Arbeitswelt überholt wurden, obwohl sie die gleichen, wenn nicht sogar bessere Qualifikationen besaßen. Einige Frauen – und es waren nicht wenige – hatten den Eindruck, dass sie viel mehr Fähigkeiten als ein konkurrierender Mann aufweisen mussten, um zumindest gleiche Chancen zu haben. Sie fühlten sich beruflich massiv diskriminiert.
In jener Nacht, als es draußen heftig stürmte, als Äste zerbarsten und Blätter beim Fallen sanft wirbelten, entschloss ich mich, diese Auseinandersetzung der Frauen mit den Männern zum Kernthema meiner nächsten Beschäftigung zu machen. Dazu organisierte ich ein weiteres Seminar, zu dem ich einige Frauen einlud, die sich in meinen Augen besonders für dieses Thema interessierten. Das Chatten oder Skypen reichte mir nicht mehr. Darüber hinaus wollte ich intensive persönliche Begegnungen herbeiführen, um über das zu sprechen, was ich für den Kern ihrer Probleme hielt: nämlich dass sie aufgrund veralteter Geschlechterrollen weiterhin mit klischeehaften Vorstellungen konfrontiert werden – Vorstellungen, die sie mit sich schleppen und die sie daran hindern, sich wirklich als vollständige Menschen fühlen zu können. Diese Rollen sind...