1.
Wie konnte es so weit kommen?
Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit einer alten Freundin von mir zum Mittagessen verabredet. Ich traf am verabredeten Restaurant zuerst ein und wählte einen Tisch draußen im Garten. Es war ein herrlicher Tag – sonnig, wolkenloser Himmel, leichte Brise –, und der Garten war proppenvoll mit Menschen, die den legendären Indian Summer in der San Francisco Bay Area genossen. Am Tisch neben mir saß ein Händchen haltendes Pärchen Ende 20, und ich sah die Eheringe in der Sonne funkeln.
Ich erinnere mich, wie sanft und liebevoll sie miteinander waren, wie zärtlich sie einander in die Augen sahen und wie sie zusammen lachten. Ist das nicht wunderbar?, dachte ich bei mir und schwelgte in diesem stillen Moment, während ich auf meine Freundin wartete. Dann hörte ich das typische »Pling« eines iPhones – mein Tischnachbar bekam eine SMS.
»Sieht aus, als würden die Jungs die Fahrradtour von Samstag auf Sonntag verschieben«, sagte der Mann, der seine freie Hand am Handy hatte.
Seine Frau wich prompt zurück. »Du sagst hoffentlich nicht zu.«
»Na ja …«, erwiderte er, während er bereits dabei war, eine Antwort zu tippen. »Ist unsere Wochenend-Radtour.«
»Gut, aber Sonntag ist unser Familientag. Und wir wollten auf den Bauernmarkt? Dim Sum probieren?«
»Oh, entspann dich, ist ja nur dieses eine Mal.«
Ich konnte förmlich zusehen, wie seine Frau immer angespannter wurde. »Aber, Schatz, wir hatten das fest vor!«
»Es ist doch nur dieses eine Mal«, sagte er wieder und verlieh seiner Stimme einen übertrieben nachdrücklichen Tonfall. »Ich weiß gar nicht, warum du immer gleich so ein Fass aufmachen musst.«
Und schon ging es hin und her, der Streit schaukelte sich rasch auf, und es war herzzerreißend. Eben noch hielten sie Händchen, und von einer Minute zur nächsten gerieten sie in einen erbitterten Streit über so etwas Banales wie die Wochenendplanung.
Alle Paare streiten. Aber wie kann es sein, dass manche Paare an einen Punkt gelangen, von dem aus es scheinbar kein Zurück mehr gibt? Wie gelangen sie von der Euphorie des ersten Kusses, vom alles überwältigenden Hochgefühl, den Traummann oder die Traumfrau gefunden zu haben, vom Glück einer gemeinsamen Zukunftsplanung, an den Punkt, an dem sie sich fragen, was um alles in der Welt sie in ihrem Partner einmal gesehen haben?
Die Sache ist die: In einer Beziehung streiten Sie sich fast nie über genau das, worüber Sie sich gerade streiten. Ob es Ihnen bewusst ist oder nicht, Sie streiten über etwas, dass am vergangenen Abend oder vor einem Jahr passiert ist, oder ja, es kann sogar sein, dass Sie alte Kamellen aus früheren Beziehungen wiederkäuen oder dass Sie Beziehungskämpfe wiederholen, wie Sie sie aus der Familie kennen, in der Sie aufgewachsen sind. Sie denken vielleicht, dass Sie über eine Radtour, ein Abendessen, Urlaubspläne oder finanzielle Ausgaben streiten, und Sie denken vielleicht, dass Sie viele verschiedene Ansichten über viele verschiedene Dinge haben. Sehr viel wahrscheinlicher aber ist, dass Sie den gleichen Streit immer und immer wieder führen, ein Streit, der viele verschiedene Facetten hat und der genau das widerspiegelt, was Ihnen an jedem beliebigen Tag den größten Verdruss zu bereiten scheint.
Immer wieder der gleiche Streit
Wenn ein Paar zu mir in die Praxis kommt, dann weiß ich meist, dass es nur eine Frage der Zeit ist: Sobald jeder der beiden in einer neutralen und kontrollierten Umgebung zu Wort kommen und darlegen konnte, worüber sie immer wieder streiten, kommen langsam die Ängste, die hinter diesen toxischen Wutausbrüchen stecken, zum Vorschein. »Es einfach wegzustecken« funktioniert deshalb nicht. Und genau deshalb streitet man sich auch immer und immer wieder wegen der gleichen Dinge. Nicht nur über dreckiges Geschirr im Spülbecken oder Wochenendpläne, sondern auch über Fragen wie: »Liebst du mich überhaupt noch?« – »Hörst du mir überhaupt zu?« – »Bin ich dir noch wichtig?« – »Werden wir irgendwann mal wieder Sex haben?«
Sie beide, Sie und Ihr Partner, bringen nicht nur Ihre jeweils eigenen unbewussten Reaktions- und Verhaltensmuster in die Beziehung mit ein, vielmehr bildet auch das Rohmaterial, das Ihnen jeweils zur Verfügung steht, eigene und neue Beziehungsmuster aus. Je mehr Sie mit reaktiven Mustern und eigenen Plänen auf Ihre Beziehung einwirken, desto stärker wirbelt es sie derart durcheinander, dass jede Menge Konfliktschleifen entstehen. Und je länger diese Konfliktschleifen bestehen bleiben, desto schwieriger wird es, sich davon zu lösen.
Nur, indem Sie die tieferen Wurzeln Ihres Beziehungsverhaltens gründlich erforschen, können Sie erkennen, worüber Sie wirklich streiten, und zum ursprünglichen Konflikt vordringen. Nur, indem Sie diesen Konflikt von seinem Schattendasein ans Licht holen, indem Sie ihn an der Wurzel packen und ausreißen, können Sie bewirken, dass er nicht immer wieder neu erwächst – als ein neuer Streit im neuen Tarnkleid. Stritt das Pärchen an meinem Nebentisch wirklich über eine Radtour? Wohl kaum. Aber wenn nicht über eine Radtour, worüber dann? Worüber streiten Sie wirklich in Ihrer aktuellen Beziehung?
Die sechs häufigsten Gründe für Beziehungsstreit
In jeder Konfliktschleife, die in den folgenden Kapiteln erörtert wird, liegt der Schlüssel darin, das tiefer liegende Problem zu ergründen, um von der Konfliktschleife in den Liebeskreis gelangen zu können. Doch es gibt auch häufige Gründe für einen Beziehungsstreit, die nicht auf eine Konfliktschleife beschränkt sind. Diese Ursachen zu erkennen und sie zu verstehen wird Ihnen helfen, sich Ihrer Verhaltensmuster bewusst zu werden. Ein kleiner Vorausblick an dieser Stelle lohnt daher durchaus.
»Da hast du meinen wunden Punkt getroffen!«
Waren Sie als Kind der Liebling oder das schwarze Schaf der Familie? Wurden Sie für Ihre Leistungen belohnt oder für Ihre Misserfolge bestraft? Wurden Sie gedrängt, einem naturwissenschaftlichen Verein beizutreten oder Tennis zu spielen – so wie Ihr Vater –, obwohl das überhaupt nicht Ihre Leidenschaft war? Oder mussten Sie sich Ihren Weg selbst suchen, mit wenig Orientierungshilfe … und möglicherweise noch weniger Unterstützung? Die Erfahrungen, die Sie als junger Mensch gemacht haben, haben Ihre Persönlichkeit geformt, und die Beziehungen, die Sie aufgebaut haben – mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Liebespartnern –, haben tiefsitzende Ängste, Unsicherheiten, Wunden und Erwartungen geschaffen. Niemand ist immun gegen die eigene Vergangenheit. Sie lässt sich nicht auslöschen. Wir alle tragen Gepäck aus unserer Vergangenheit mit uns herum. Vielleicht sind Sie schon ein Leben lang dabei, Ihre Probleme aufzuarbeiten. Vielleicht haben Sie sich noch nie damit befasst. Vielleicht wussten Sie bislang auch gar nicht, dass Sie Probleme hatten. Manchmal kommen erst durch das Sichverlieben die Hemmnisse zum Vorschein, sich der Liebe zu öffnen. Erst in einem Liebeskreis ist es möglich, sich so weit zu öffnen, dass ureigene Probleme an die Oberfläche treten.
Tiefe Liebe macht tief verletzlich. Wenn Sie von ganzem Herzen lieben, sind Sie einem höheren Risiko ausgesetzt, verletzt zu werden. Das Gefühl von besorgter Unsicherheit (Was, wenn er mich verlässt? Was, wenn wir uns trennen?) kann Ängste wachrufen, die tief verborgen in Ihrem Innersten liegen (Bin ich liebenswert? Bin ich gut genug?).
Bei meiner Arbeit mit Einzelpersonen, Paaren und Familien habe ich festgestellt, dass ungelöste Traumata und Verletzungen aus der Vergangenheit die häufigsten Hemmnisse sind, um gesunde Beziehungen in der Gegenwart zu erhalten. Anstatt diese alten Wunden zu heilen, projizieren wir sie nur allzu oft auf unseren Partner. »Da hast du meinen wunden Punkt getroffen« – wir alle kennen diesen Satz (und benutzen ihn wahrscheinlich auch). Nun, Ihre eigenen »wunden Punkte«, ebenso wie die Ihres Partners, wurden angelegt, lange bevor Sie beide sich kennenlernten. Doch indem Sie unbeabsichtigterweise immer wieder die wunden Punkte des anderen berühren, schaffen Sie die Voraussetzungen für eine fortwährende Konfliktschleife.
Zurück zu besagtem Pärchen an meinem Nebentisch im Gartenlokal und dem frustrierten Ehemann: Was, wenn er das Gefühl hätte, dass seine Frau seine Wochenendradtour durchaus respektieren könnte, als Ausdruck ihrer Wertschätzung dafür, dass er während der Woche so hart arbeitet? Was, wenn der sonntägliche Ausflug zum Bauernmarkt ihr nie genügen würde? Wenn sie (aufgrund ihrer persönlichen Geschichte) grundsätzlich immer eine zusätzliche Bestätigung dafür bräuchte, dass die Familie an erster Stelle steht? Dieses Pärchen vom Gartenlokal stritt wahrscheinlich gar nicht über die Wochenendpläne; gut möglich, dass sie in einem eskalierenden Machtkampf verfangen waren, in dem ihre Vorstellungen über den Stellenwert von Ich- und Wir-Zeit kollidierten. Ganz gleich, wie man es nennen mag – ob Altlast, wunder Punkt oder Problem –, der einzige Weg, einen Kreis wie diesen zu durchbrechen, besteht darin zu erkunden, woher er rührt. Fragen Sie sich, ob unverhältnismäßig heftige Reaktionen auf scheinbar kleine Ereignisse – etwa, wenn Ihr Partner die Wochenendpläne ändert – tatsächlich durch einen gegenwärtigen Umstand ausgelöst werden oder eher durch alte Ängste, die sich plötzlich entladen.
Sie könnten in einem immer wiederkehrenden Streit zum Ausdruck kommen oder auch darin,...