EINLEITUNG
»UNSINNIG IST ES, VON DEN GÖTTERN ETWAS ZU ERBITTEN, WAS MAN AUS EIGENER KRAFT ZU LEISTEN VERMAG.«
EPIKUR (341–271 V. CHR.)
Im Jahr 1907 veröffentlichte Alois Alzheimer in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin einen kurzen Artikel unter dem Titel »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«. Etwas über hundert Jahre später behauptet Christian Haass, Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen, Alzheimer sei ein unvermeidliches Schicksal.1* Er bringt damit auf den Punkt, was viele seiner Forschungskollegen denken und was uns die Pharmaindustrie glauben machen will: Alzheimer, Synonym für die Selbstzerstörung des Gehirns, sei eine Krankheit, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeden treffen wird – wenn nicht vorher eine andere Krankheit das Leben beendet. Und da unsere Gesellschaft immer älter wird, prognostizieren Alzheimer-Spezialisten eine weltweite Katastrophe, eine Pandemie mit geradezu apokalyptischen Ausmaßen. Für die moderne Forschung ist die Frage also nicht, ob wir Alzheimer bekommen werden, sondern lediglich, wann! Und dieses ebenso fatale wie falsche Denken beherrscht unser eigenes Tun und Trachten und wird gerade dadurch für viele von uns zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Populistische Bücher wie Cornelia Stolzes Vergiss Alzheimer erklären diese unnatürliche Entwicklung zur Normalität und bekräftigen so einen Volksglauben, der darauf hinausläuft, weiterzumachen wie bisher. Bücher wie der Ratgeber Das Herz wird nicht dement von Udo Baer und Gabi Schotte-Lange, so hilfreich sie für Betroffene und vor allem deren Angehörige sein mögen, bereiten uns darauf vor, sich mit dem scheinbar Unabwendbaren zu arrangieren. Dabei ist Alzheimer alles andere als ein natürlicher Prozess, sondern vielmehr eine Krankheit und schon heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar – ganz ohne Pillen!
Diese Aussage passt jedoch weder zu unserer Lebensweise, mit der wir uns vollends von chronischen Therapien abhängig gemacht haben und Selbstverantwortung weitgehend meiden, noch zur Intention der Forscher, die wegen dieser vermeintlich unvermeidlichen Not sich zu den einzigen Rettern hochstilisieren können und so ihren Forschungsetat immer gut gefüllt sehen.
Vor einigen Jahren zeigte ich in meinem Buch Die Methusalem-Strategie einen natürlichen Weg auf, wie wir Menschen auch ohne medikamentöse Dauertherapie weit über hundert Jahre alt werden können. Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass de facto selbst hier in Deutschland ein Massensterben stattfindet, weil unsere Lebenserwartung noch um Jahrzehnte darunter liegt. Aber warum soll es überhaupt erstrebenswert sein, ein biblisches Alter zu erreichen, wenn wir ja doch nur, wie uns die Experten weismachen, auf dem Weg dahin unsere geistigen Kräfte komplett einbüßen? Schon meine damaligen Recherchen ergaben, dass hier ein entscheidender Denkfehler vorliegen muss. Denn ganz offenbar hängt die Normalität zivilisatorischer Krankheiten, insbesondere derjenigen, die dem Älterwerden zugeschrieben werden, weniger mit dem Lebensalter als vielmehr mit der Lebensweise zusammen. Die Normalität ist jedoch nur das Resultat des Umstandes, dass sich die Mehrheit gleichförmig verhält, und die daraus abgeleitete Unausweichlichkeit, wie etwa an Alzheimer zu erkranken, nur ein Fehler in der Interpretation der statistischen Zusammenhänge.
Ein Gedankenspiel: Dass die meisten Menschen im Bett sterben, heißt das etwa, dass unsere an sich als harmlos erscheinende Schlafstätte über tödliche Kräfte verfügt? Kann man aus der statistischen Beziehung zwischen der Zeit, die wir im Bett verbringen, und der Wahrscheinlichkeit, dort zu sterben, auf ein verursachendes Risiko schließen? Sicherlich nicht, aber nach eben dieser »Logik« postuliert etwa die Alzheimer Forschung Initiative e.V. stellvertretend für die Mehrheit der Experten: »Das Alter ist unbestritten der größte Risikofaktor« für die Alzheimer-Krankheit und suggeriert damit eine ursächliche Beziehung.2 Man fragt sich also: Wie töten die Lebensjahre unser Gehirn? Ist das Verdämmern der geistigen Kräfte im Alter tatsächlich ein unvermeidbares Schicksal? Muss man wirklich Angst vor dem Älterwerden haben? Auf diese Fragen liefert dieses Buch ein entschiedenes und wissenschaftlich begründetes Nein! Ich versichere Ihnen, dass Sie weder das Bett meiden noch sich Sorgen über Ihr natürliches Älterwerden machen müssen.
Als mir klar geworden war, dass der Begriff Risikofaktor – streng mathematisch gesehen – nur einen statistischen, aber eben keinen Kausalzusammenhang beschreibt, konnte ich mich befreit auf die Suche nach den wahren Gründen der Demenz-Epidemie machen. Und ich wurde fündig. Das ist auch gut, denn wenn das Lebensalter tatsächlich der größte Risikofaktor und Alzheimer dadurch unvermeidlich wäre, dann blieben uns nur zwei Optionen, um uns vor dieser Krankheit zu schützen: der rechtzeitige Freitod (funktioniert, ist aber keine gute Idee) oder ein rigoroses Anti-Aging-Programm auf Medikamentenbasis (gute Idee, funktioniert aber nicht).
Halten wir vorerst fest: Alzheimer ist zwar eine Gehirnkrankheit, aber, wie ich zeigen werde, ebenso eine Kulturkrankheit, denn bei ihrer Entstehung spielt unsere Lebensweise die entscheidende Rolle. Daraus folgt: Wenn wir an Alzheimer erkranken sollten, dann liegt das nicht daran, dass wir älter geworden, sondern daran, wie wir gealtert sind.
Um diese Wechselbeziehung zwischen Gehirn und Kultur besser zu verstehen, müssen wir zwei Reisen unternehmen: eine entwicklungsgeschichtliche zum menschlichen Gehirn und eine durch die Geschichte der menschlichen Kultur. Interessanterweise enden beide am selben Ort, nämlich da, wo der Zerstörungsprozess der Alzheimer-Krankheit beginnt: exakt in dem daumengroßen und Hunderte von Millionen Jahre alten Bereich unseres Gehirns, in dem aus unserem Erleben Erinnerungen und aus Erfahrungen Einsichten gewonnen werden und letztendlich kulturelles Wissen entsteht, das wir weitergeben. Für mich war recht bald klar, dass dieses räumliche Zusammentreffen kein Zufall sein kann, und mit dieser Annahme hatte ich zugleich den logischen Ausgangspunkt für das Zusammensetzen des Alzheimer-Puzzles gefunden.
Alle Puzzleteilchen stammen aus der modernen Forschung, fast jedes aus einem anderen Labor. Oft erschien es mir jedoch, als begnügten sich die meisten Forscher bei der Suche nach der Krankheitsursache mit den von ihnen entdeckten molekularen Aspekten, sobald sie Optionen für die Entwicklung neuer Medikamente lieferten. Dabei suggerieren sie uns mit der Interpretation ihrer eigenen Ergebnisse, schon das komplette Bild in der Hand zu haben. Somit erscheint zunächst auch nur noch die Suche nach weiteren Pixeln sinnvoll. Das führt dazu, dass zwar der jeweilige Bildausschnitt ein wenig schärfer wird, doch immer neue Details in einem begrenzten Gebiet verhelfen nicht dazu, den wahren Ursachen der Krankheit entscheidend näher zu kommen; man sieht, wenn man so will, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Was wir dringend benötigen, ist ein Gesamtbild, ein Blick von ganz oben. Mit meiner Verhaltenstheorie der Alzheimer-Entstehung wage ich eine neue Sichtweise auf die bekannten Prozesse der Erkrankung und komme dabei ihrer wahren Ursache näher. Dabei ist mir klar geworden, dass Alzheimer zwar nicht behandelbar, aber vollends vermeidbar ist.
Dieses Buch ist ein Weckruf. Wenn wir erst einmal erkennen, dass wir unsere natürlichen Bedürfnisse nicht ohne Konsequenzen ignorieren können, und wenn wir anfangen, kleine, aber entscheidende Änderungen unseres Lebensstils vorzunehmen, wird die Bedrohung durch die Alzheimer-Krankheit wie eine schlechte, albtraumhafte Erinnerung verschwinden. Sie werden sehen, dass wir durch die ständige Verwendung des Begriffes Risikofaktor in Bezug auf das Lebensalter in die Irre geführt werden. Fear sells (Angst ist ein guter Verkäufer) heißt es in der englischsprachigen Geschäftswelt. Dabei ist das Einzige, was das Alter zum Prozess der Zerstörung des Selbst, also zur »Selbstzerstörung«, beiträgt, die Tatsache, dass mit jedem gelebten Jahr die Gefahr steigt, dass unser genetisches Programm die kulturbedingten Mängel, unter denen unser Gehirn leidet, nicht mehr kompensieren kann. Mit der erzeugten Angst vor dem unvermeidlichen Älterwerden und dem dadurch angeblich ebenso unvermeidlichen Alzheimer werden enorme Geldströme in eine Richtung gelenkt, die uns vordergründig helfen soll, aber insgesamt schadet. Denn die Gelder werden fast nur für die klinische Forschung und Behandlung, kaum aber für die Prävention eingesetzt, also für die Aufklärung über die wahren Ursachen dieser...