Chinesische Werte
So etwas wie universelle Werte gibt es doch gar nicht, pflegt Parteichef Xi Jinping gern zu sagen. Aber was soll die Welt für China und die Chinesen dann bedeuten? Warum ist es an der Front der Ideen generell so merkwürdig still in China? Warum erfüllt die chinesische Mittelschicht nicht die westliche Erwartung, dass wachsender Wohlstand das Verlangen nach Demokratisierung stärken werde? Warum zählen verborgene Regeln mehr als geschriebene Gesetze? Und warum landen Leute, die ihr gesetzlich geschütztes Recht auf Petitionen in Anspruch nehmen, so oft im Gefängnis? Die Stichworte des ersten Kapitels beschäftigen sich mit Normen hinter den Kulissen der offiziellen Sprachregelungen, mit dem System hinter dem System.
1. Mainstream
oder: Die Neutralisierung der Ideen
Wenn die Parteizeitung Global Times jemanden heruntermachen will, die inhaftierten Dissidenten Liu Xiaobo oder Xu Zhiyong zum Beispiel, muss sie dafür nicht notwendigerweise irgendeinen Gedanken bemühen. Sie braucht weder die Ideen der Regierungskritiker ihrer Falschheit oder Gefährlichkeit zu überführen, noch für das Handeln des Staats eine leitende Idee in Anspruch zu nehmen. Stattdessen kann der Zeitung zur Diskreditierung folgende Feststellung genügen: »Sie haben sich seit langem vom gesellschaftlichen Mainstream Chinas abgesondert und spielten innerhalb der marginalisierten Zone mit dem Feuer.«
Mainstream, auf Chinesisch »zhu liu«, ist, wie in aller Welt, erst einmal eine soziologische Kategorie, die beschreibt, was die meisten denken und tun. Doch dieses beschreibende Wort wird hier und auch sonst gern im offiziellen China als normativer Begriff für das gebraucht, was die Kommunistische Partei als akzeptabel definiert hat – und dies mit unverhohlen drohendem Unterton: Je mehr Macht China erringt, desto totaler werden die Isolation und die historische Verlorenheit derer sein, die sich seinen Bestimmungen nicht fügen. »China wird sich in Zukunft einer noch besseren Entwicklung erfreuen«, schreibt die Global Times und folgert daraus: Die Leute außerhalb des Mainstreams »werden weiterhin als Loser betrachtet werden«. Wenn das Blatt vor diesem Hintergrund die westlichen Ehrungen für die Dissidenten als »ideologiegeleitet« charakterisiert, spricht daraus der reine Hohn. Je reicher und mächtiger China wird, soll das wohl heißen, desto mehr kann es auf Ideen und Ideologien schlechthin verzichten, während diese für den Westen die letzte Stütze sein werden.
Perfiderweise ist das gar nicht so unrealistisch. Die Regierung hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht bloß eine gut funktionierende Marktwirtschaft installiert. Sie hat in dem Willen, dass sich so etwas wie die Konfrontation auf dem Platz des Himmlischen Friedens niemals wiederholen solle, auch ein System entwickelt, in dem Ideen, welcher Art auch immer, verblüffend erfolgreich neutralisiert sind. Den heutigen Chinesen stehen natürlich, nicht zuletzt durch das Internet, ungleich mehr Ideen, Informationen und kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten als den Chinesen in den achtziger Jahren zur Verfügung. Insofern ist die Welt tatsächlich viel flacher für sie geworden.
Als die Chicagoer Post-Rock-Band Tortoise in Peking auftrat, die ihre größte Zeit zu Beginn der neunziger Jahre hatte, als China noch vergleichsweise abgeschottet war, da jubelte das sehr junge Publikum schon nach den ersten Takten jedes einzelnen Stücks; ihm war das komplette Werkverzeichnis der Gruppe durch das Internet gut vertraut. Nicht anders verhält es sich im Kunstmilieu mit allem, was von Berlin bis New York als »zeitgenössisch« gilt, oder bei eher theoretisch Interessierten mit den international geläufigsten Thesen von Žižek bis Piketty: Das heutige China ist auf den ersten Blick so pluralistisch, wie man das von modernen Gesellschaften gewohnt ist, weit mehr jedenfalls, als man das in den achtziger Jahren bei einem kommunistisch beherrschten Staat jemals für möglich gehalten hätte.
Doch ein zweiter Blick zeigt, dass diese Vielfalt der Ideen und kulturellen Praktiken unter einem doppelten Vorbehalt steht: Sie sollen nicht ungeschützt mit ihrer ursprünglichen Energie existentiell berühren und zugleich die Gesellschaft als Ganze betreffen. Diese Mischung hatte sich auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989 als explosiv herausgestellt. Die achtziger Jahre waren in China eine Zeit des Kulturfiebers, in der nach jahrzehntelanger Abschottung Theorien aus der ganzen Welt und aus der chinesischen Tradition so hitzig diskutiert wurden, als wären sie gerade erst entwickelt worden. Der Idealismus der Studenten, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens China noch einmal neu erfinden wollten, als könne man ohne den ganzen Parteifilz mit der Demokratie noch einmal von vorn anfangen, war von diesen Debatten geprägt.
Dass es so etwas überhaupt jemals gegeben hat oder geben könnte, wissen heutige chinesische Studenten noch nicht einmal. Von einhundert Studenten, denen die Journalistin Louisa Lim das berühmte Foto von dem einzelnen jungen Mann vor dem Panzer vorlegte, konnten es 85 nicht zuordnen. Und selbst für die meisten, die es können, zählt es nicht besonders. Dass die Politik der Erinnerungsauslöschung bei jüngeren Leuten so gut funktioniert, hat zur Voraussetzung, dass Ideen und Ideale, die für die Studenten damals eine so entgrenzende, ermutigende Wirkung hatten, sich in ihrer Bedeutung generell relativiert haben. Wie konnte es dazu kommen?
Am offensichtlichsten sind die fortdauernden, auf Abschreckung zielenden Repressionen gegen Blogger, Bürgerrechtler und Künstler, die angeblich subversiv sind oder auch nur zu viel Wirkung außerhalb der vorgesehenen Kanäle haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das chinesische System stellt sich den Ausdifferenzierungen der modernen Gesellschaft nicht nur entgegen, es macht sich diese zum Teil auch zunutze und vermischt sie auf eine schwer zu entwirrende Weise mit den autoritären Strukturen der Partei. Luhmann würde Hören und Sehen vergehen, könnte er noch erleben, mit welcher Perfektion die gegenseitige Abgrenzung der Teilöffentlichkeiten mit ihren Spielräumen und Regeln in China heute reguliert wird.
Die Eigendynamik der Subsysteme wird dabei ergänzt und überformt durch die Anordnungen der sie jeweils überwachenden Behörden: In einem Hochschulseminar sind andere Dinge zu sagen erlaubt als in einem Zeitungsartikel, auf einem Wirtschaftskongress wieder andere als in einer Theateraufführung. Es gibt an den Hochschulen und in regierungsberatenden Institutionen bis hin zur Zentralen Parteihochschule Theoretiker von überraschender intellektueller Kühnheit, deren in geschlossenen Seminaren formulierte Thesen, würden sie in einem unautorisierten Nachbarschaftstreffen geäußert, die Polizei auf den Plan rufen könnten.
Die wichtigste Regel ist, dass sich die Teilöffentlichkeiten nicht miteinander zu einer allgemeinen Öffentlichkeit verbinden dürfen. Als dies bei Weibo, dem chinesischen Twitter, zu geschehen drohte, reagierte der Staat mit einer massiven Einschüchterungskampagne gegen prominente Blogger, was die Zahl der politischen Wortmeldungen auf einen Schlag drastisch reduzierte. Das Internet drohte auch schon die zweite Regel auszuhebeln: dass die wichtigen Diskursteilnehmer institutionell eingebunden sein sollen. Wenn die Intellektuellen in die Bürokratie der Partei, des Staats, der Universitäten oder der Kultureinrichtungen integriert sind, unterstehen sie der Beaufsichtigung der jeweiligen Institution, die sicherstellt, dass sie aus der Eigenlogik und Spezialisierung ihres Segments nicht ausbrechen. Die Botschaft dieser Art Ausdifferenzierung ist: Für sich genommen, zählen Ideen nichts, es gibt nur unterschiedliche Geltungsbereiche, in denen der jeweilige Inhalt einer Idee mit den jeweiligen Machtverhältnissen und Regeln abgeglichen werden muss.
Zugleich durchlaufen die Kulturformen und Ideen, sobald sie in eine größere Öffentlichkeit gelangen, einen zweifachen Filter: Wahrgenommen werden sie dort vornehmlich unter den Aspekten, wie gut sie sich auf dem Markt behaupten können und inwiefern sie der nationalen Macht nützen oder schaden. Auch so etwas ist den Kulturindustrien und Soft-Power-Strategen der westlichen Moderne vertraut. Doch ihre speziell chinesische Färbung erhalten sie durch ihre gegenseitige Verflechtung, ihre Verbindung mit den Direktiven des Parteiapparats und ihre Dominanz.
Wohlstand und Stärke der Nation sind seit mehr als hundert Jahren zentrale Motive der chinesischen Intellektuellen (auch der Demonstranten auf dem Tiananmen) gewesen, doch erst nach 1989 drängten Nationalismus und Kommerz das zuvor gleichfalls omnipräsente Thema der Demokratisierung zusehends in die dafür zuständigen Expertenzirkel ab. Für diejenigen, die in der Ära des leninistisch organisierten Kapitalismus groß geworden sind, sind Geld und Macht dagegen letzte, unüberbietbare, jeglicher Ideologie unverdächtige Kategorien, gewissermaßen der harte Kern der Wirklichkeit. Insofern verbinden sie auch jene Teile des Volkes mit der Regierung, die sonst mit ihr unzufrieden sind, und es ist keineswegs nur die Zensur, die für die Einhaltung der »Kultursicherheit« sorgt und dafür, dass Ideen und Praktiken entweder industriell oder patriotisch sind oder am besten beides. So erklärt es sich, dass es an der Front der Ideen eigenartig ruhig ist in China. An tausend anderen Ecken gärt es und bricht sich der Unmut über Funktionärswillkür, Korruption und Enteignungen in mehr oder weniger großen Zusammenstößen mit der Staatsmacht Bahn. Aber zur Abwehr widerspenstiger Gedanken kann es sich die Propaganda heute ungestraft erlauben, sie mit Verweisen auf ihre Instrumentalisierung...