II
Moderne und Antimoderne
Die Geschichte der Moderne wird seit ihren Anfängen von antimodernen Gegenbewegungen begleitet. »Moderne« steht für die Epoche rasanter gesellschaftlicher Veränderungen, die durch das Zusammenspiel von philosophischer Aufklärung, wissenschaftlich-technischer Revolution und dem Aufstieg von Demokratie und Menschenrechten in Gang gesetzt wurden. Dieser Impuls wirkt bis heute weiter, er hat durch die Globalisierung sogar neue Schubkraft erhalten. Alle Nachrufe auf die Moderne waren verfrüht. Wir sind nicht in ein neues Zeitalter der Postmoderne eingetreten – sie war nie mehr als eine akademische Fingerübung –, sondern in die Phase der globalen Moderne. Sie ist keine bloße Kopie der klassischen, in Europa und Amerika geformten Moderne, sondern bringt eine pluralistische Moderne mit regionalen Ausprägungen hervor.
Ein »One-fits-all«-Modell der Moderne gab es nie und wird es nicht geben. Doch gibt es gemeinsame Merkmale über alle Unterschiede hinweg: Die Transformation von Agrar- in Industriegesellschaften geht Hand in Hand mit einer rasanten Urbanisierung, dem Anstieg des Bildungsniveaus, sozialer und räumlicher Mobilität, einer Ausdifferenzierung der Lebensstile und dem Wachstum der Mittelklasse. Ob das auf lange Sicht auch für die demokratische Seite der Moderne gilt, also für das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstregierung, ist eine offene Frage. Wir können uns nicht mehr auf die gute alte »Stufentheorie« verlassen, nach der wirtschaftliche Modernisierung, steigende Einkommen, Bildung und Mobilität wie von selbst in Rechtsstaatlichkeit und Demokratie münden. Man möchte vermuten, dass eine selbstbewusste, global vernetzte Mittelschicht sich nicht auf Dauer mit den materiellen Annehmlichkeiten der Moderne begnügen, sondern bürgerliche Freiheiten einfordern wird. Auch spricht einiges dafür, dass der Übergang zu einer innovationsgetriebenen Ökonomie in Konflikt mit zentralisierten Machtstrukturen und autoritären Hierarchien gerät. Privateigentum verlangt nach Rechtssicherheit; komplexe Volkswirtschaften sind auf transparenten Informationsfluss, marktvermittelte Koordination und ein hohes Maß an Eigenverantwortung angewiesen. Aber unaufhaltsam ist der Trend zur Demokratie nicht. Nationalismus und die Furcht vor Instabilität sind starke Gegenkräfte. Das chinesische Beispiel wird zeigen, ob sich Modernisierung und Demokratisierung auf Dauer entkoppeln lassen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die künftige Weltordnung sich an dieser Frage entscheidet.
Flucht in die Gemeinschaft
Jede neue Stufe gesellschaftlicher Modernisierung ruft Ängste und Abwehr hervor. Es gibt eine ständig wiederkehrende Dialektik von Moderne und Gegenmoderne. Wissenschaftlich-technische Entzauberung der Welt und Romantik, Säkularisierung und religiöser Fundamentalismus, Individualisierung und Sehnsucht nach Gemeinschaft, Globalisierung und Nationalismus, ständiger Wandel und der Wunsch nach Sicherheit sind solche Gegensatzpaare, die in immer neuen Formen zutage treten. Karl Popper hat diese Konfliktkonstellation als Gegensatz zwischen »offener« und »geschlossener« Gesellschaft beschrieben. Seine monumentale ideengeschichtliche Studie Die offene Gesellschaft und ihre Feinde erschien 1945 in London. Popper schrieb sie in einer Zeit, als das Kontinentaleuropa von den beiden großen totalitären Mächten des 20. Jahrhunderts beherrscht wurde. Es war sein Beitrag zum Kampf für die Freiheit.
20 Jahre zuvor hatte Helmuth Plessner seine hellsichtige Schrift Grenzen der Gemeinschaft veröffentlicht, die sich mit dem »sozialen Radikalismus« von links und von rechts auseinandersetzte.6 Kommunismus und Faschismus haben für Plessner einen gemeinsamen Kern: den Kampf gegen die moderne Gesellschaft im Namen der Gemeinschaft. Das war nicht aus der Luft gegriffen. Als Antwort auf den Zusammenbruch des Kaiserreichs und den »Diktatfrieden« von Versailles formierte sich im Deutschland der Weimarer Republik eine konservativ-revolutionäre Strömung, die gesellschaftspolitisch für einen »nationalen Sozialismus« eintrat und außenpolitisch ein antiwestliches Bündnis mit der Sowjetunion propagierte. Einer ihrer einflussreichsten Vordenker war Arthur Moeller van den Bruck, dessen Hauptwerk Das dritte Reich zu einer wirkmächtigen Kampfschrift wurde. Moellers ideologischer Hauptfeind war der Liberalismus als individualistische, »gemeinschaftszersetzende« Theorie und Lebensform: »Der Liberalismus ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die nicht mehr Gemeinschaft ist.«7So gegensätzlich sie politisch auftreten, die einen national-völkisch, die anderen proletarisch-internationalistisch, gibt es doch einen gemeinsamen Nenner zwischen faschistischer Volksgemeinschaft und Bolschewismus. Beide sind Utopien der Homogenisierung. Das macht ihr Gewaltpotenzial aus. Die Homogenisierung moderner, sozial, ethnisch und kulturell hochgradig ausdifferenzierter Gesellschaften läuft auf eine Politik der Vernichtung hinaus. Was dem einen der Klassenfeind, ist dem anderen das Bluts- und Volksfremde.
Gemeinschaft steht für die Unmittelbarkeit persönlicher Beziehungen, Kontinuität von Traditionen, Vorherrschaft des Kollektivs über das Individuum – Gesellschaft ist die Sphäre der Öffentlichkeit, der Institutionen, der funktionalen Beziehungen, der »Geschäftskunst« und des Spiels mit wechselnden Rollen. Im antibürgerlichen Diskurs marxistischer wie faschistischer Provenienz wird Gesellschaft mit Entfremdung assoziiert. Der Herrschaft der Abstraktion (Recht, Geld, globaler Handel) wird die Utopie vom »wahren Leben« entgegengestellt, das Natur und Zivilisation versöhnt. Hier wie dort geht es um die Ausschaltung von Differenz – sei es in der vollendeten sozialen Gleichheit der klassenlosen Gesellschaft oder in der faschistischen Volksgemeinschaft. Die Beseitigung des Heterogenen treibt zur gewalttätigen Zuspitzung. Der Eliminierung des Klassenfeinds – der Bourgeoisie, der Kulaken, der konterrevolutionären Elemente – entspricht die Vernichtung der fremden Rasse, die den nationalen Zusammenhalt bedroht. »Zersetzung« und »Säuberung« sind nicht zufällig zentrale Kampfbegriffe des Stalinismus wie des Nationalsozialismus. Sie kehrten zurück im jugoslawischen Zerfallskrieg mit seinen ethnischen Säuberungen und im Genozid an der Tutsi-Minderheit in Ruanda. Der Weg zur Homogenität führt über das Massaker.
Der springende Punkt ist, dass die Moderne ihre Opposition aus sich selbst heraus erzeugt. Dieser Konflikt zieht sich bis ins Bewusstsein der Einzelnen. Die allermeisten Menschen haben ein gespaltenes Verhältnis zur Moderne – wenn auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Die Geschichte des Fortschritts ist ambivalent. Sie ist tatsächliches Fortschreiten zu einem längeren und reicheren Leben, Wohlstand, Komfort, steigenden Bildungsniveaus und in der langen Linie auch zu mehr Demokratie und Herrschaft des Rechts. Zugleich ist sie eine Geschichte von Verlusten und Schrecknissen aller Art. Walter Benjamin hat diese Dynamik in einem zutiefst pessimistischen Bild beschrieben: Die Moderne ist ein Wirbelwind, der uns rückwärts in die Zukunft reißt, während wir auf eine Kette von Katastrophen zurückblicken. Die rastlose Veränderung macht viele Menschen müde. Von Robert Musil stammt das Bonmot: »Fortschritt wäre wunderbar, wenn er einmal aufhören würde.«
Mit den beiden Weltkriegen, dem Holocaust und der Atombombe ist der Moderne ihre Fortschrittsgewissheit abhandengekommen. Ihr destruktives Potenzial verdunkelt die Zukunft. Tatsächlich ist die Moderne in vieler Hinsicht eine riskante historische Formation. Freisetzung des Individuums bedeutet auch Verlust von Bindungen. Globale Märkte sind volatil. Wissenschaft und Technik sind eine enorme Produktivkraft und bergen zugleich bedrohliche Potenziale. Wettbewerb erzeugt Gewinner und Verlierer. Nichts bleibt, wie es ist. Das erzeugt Ängste und den Wunsch nach Halt in einer festgefügten Gemeinschaft. Man sollte nicht vergessen, dass die beiden großen totalitären Gegenbewegungen zur liberalen Moderne, Faschismus und Kommunismus, in Europa geboren wurden. Sie waren kämpferische Alternativen zur »bürgerlichen Demokratie«, zur individualistischen und materialistischen Kultur des Westens. Sie füllten die metaphysische Leere der liberalen Demokratie mit einer innerweltlichen Religion, die dem Einzelnen das Gefühl gab, Teil eines heroischen Ganzen zu sein. Ideologie- und emotionsgeladene Bewegungen erfüllen eine elementare psychopolitische Funktion: Sie treffen »den Wunsch der Menschen, ihren bestimmten Platz in der Welt zu kennen, sowie das Bedürfnis, einem mächtigen Kollektivkörper anzugehören«.8
Alexander Dugins Kreuzzug gegen die Moderne
Wer sich mit den heutigen Vorkämpfern gegen die liberale Moderne befasst, stolpert früher oder später über den russischen Politiker und Publizisten Alexander Dugin, intellektueller Rasputin der Neuen Rechten und Grenzgänger zwischen Bolschewismus und Faschismus. »Die Moderne und ihre ideologische Basis – Individualismus, liberale Demokratie, Kapitalismus, Konsumismus und so weiter« – gelten ihm als Ursache der künftigen Katastrophe der Menschheit, die Dominanz des westlichen Lebensstils führe zum »endgültigen Niedergang der Erde«.9 Dugins Wüten gegen den Liberalismus ist alles andere als originell. Er bewegt sich damit in einer langen Linie...