ABGRUND
Eben noch hatte der Deutsche festen Grund unter den Füßen. Er vertraute der Welt, vertraute sich selbst, seinem Können, seinem Mutterwitz, doch im nächsten Augenblick: alles weg. Die ruhige Gewissheit ins Nichts gerissen, der Boden schwankend oder gleich zum gähnenden Schlund geöffnet. Es geht ihm wie dem armen Soldaten Woyzeck bei Georg Büchner, der auf freiem Feld Stöckchen schneiden will, doch plötzlich aufstampfen muss, weil er spürt: »Alles hohl da unten.« Und wenn er seine Geliebte anschaut, die ihn betrogen hat (oder auch nicht), denkt es in ihm: »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.«
»Die Welt oder wenigstens den Menschen an den Abgrund zu führen, war von jeher Sache der Deutschen«, schreibt der zu Unrecht vergessene Literat Friedrich Sieburg 1954 in seinem Essay Die Lust am Untergang. Und weiter: »Der Abgrund mochte schrecken oder locken, er mochte die Tiefe des eigenen Wesens sein oder den Untergang bedeuten, stets war der Deutsche bereit, Gedanken auszusprechen und in Umlauf zu setzen, vor denen es die Menschheit schauderte, sei es nun vor Wonne über ihre Größe oder vor Entsetzen über ihre Bodenlosigkeit.«
Knapp vierzig Jahre zuvor, mitten im Ersten Weltkrieg, formuliert es Sieburgs Vorbild Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch knapper und störrischer: »Das Deutsche ist ein Abgrund, halten wir fest daran.«
Festhalten am Abgrund: Gibt es einen Gedanken, der selbst abgründiger ist – und deutscher? Klüfte, Schlüfte, Schlünde, Grüfte – die deutsche Sprache läuft zur Höchstform auf, wenn es darum geht, das Bodenlose in den Begriff zu bekommen. Wie kein Zweiter kreist der wohl deutscheste aller deutschen Philosophen, Martin Heidegger, über den Abgründen des Denkens und Seins. Er verurteilt die Philosophie, die nach Letztbegründungen sucht, die hofft, ihre Sicherungshaken in irgendeiner unverbrüchlichen Idee vom Guten, Wahren oder Schönen einschlagen zu können. Der Philosoph muss den Schwindel aushalten, der ihn erfasst, wenn er erkennt, dass es keinen verlässlichen Grund gibt: »Das Seyn ist der Ab-grund, darin erst die Not alles Grundlosen ihre Tiefe und die Notwendigkeit jeder Gründung ihre Gipfel hat.«
Sätze wie dieser sind nicht geschrieben, um im schlichten Sinne verstanden zu werden. Denn Heidegger appelliert nicht an den Verstand, will nicht einleuchtende Gründe für oder gegen etwas benennen. Er appelliert an die tief sitzende Lebensangst, die sich der Mensch mit seinen alltäglichen Routinen und Versicherungssystemen sorgsam zugestellt hat: das Grauen, dass seine scheinbar stabile Welt einschließlich der eigenen Existenz jederzeit einstürzen kann. Und, noch trostloser: dass der Mensch auf die Frage, warum es ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hat, keine sinnvolle Antwort erwarten darf. Die Anrufung des »Ab-grunds« läuft auf nicht weniger hinaus als auf die Verabschiedung des Kausalitätsprinzips: Halte dich nicht länger mit Grübeleien auf, aus welchem Grund etwas geschehen ist – lerne, mit dem Gefühl der Grundlosigkeit zu leben! Wie unerquicklich diese philosophische Haltung werden kann, wenn sie sich in die Politik hinauswagt, wird sich zeigen.
Jede Religion versucht zu erklären, warum die Welt ist, wie sie ist – wie Gott/die Götter sie gut erschaffen hat/haben, und die Menschen sie pervertieren und mit entsprechenden Strafen rechnen müssen. Seit Platon beteiligt sich auch die Philosophie an diesem erbaulich-kritischen Unterfangen. Heidegger macht endgültig Schluss damit. Der Philosoph soll der Angst vor dem nihilistischen Schlund nicht länger zu entkommen versuchen, indem er Gewissheitstürme errichtet, von deren Zinnen aus er die Lage zu überblicken glaubt. Im Gegenteil: Er soll sich mit Begeisterung in die Tiefe stürzen – das Leben im Sturzflug erfassen. Bis es an einer Klippe zerschmettert.
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Denker im Abgrund: Friedrich Nietzsche, 1899.
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Denker des »Ab-grunds«: Martin Heidegger, 1933.
In seinen Dionysos-Dithyramben lässt Friedrich Nietzsche, der deutsche Denker, der ein halbes Jahrhundert vor Heidegger dazu aufrief, mit dem Hammer zu philosophieren, einen Raubvogel höhnen: »Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt.« Und Zarathustra, an anderem Ort noch als Verkünder des Übermenschen gefeiert, zagt das Herz. Er hängt fest, in sich, in der Welt, weiß, dass er den Sturzflug nicht überleben wird.
Nietzsche ahnt wohl bereits, dass seine Versuche, das Nichts zu umarmen, bald dazu führen werden, dass er in Turin auf offener Straße einen geprügelten Gaul umarmt. »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«, schreibt er noch hellsichtig in Jenseits von Gut und Böse. Die eigene Warnung verhallt. Sein Geist verabschiedet sich ins unergründliche Dunkel des Wahnsinns.
Aber geht er damit den riskanten Weg nicht konsequenter zu Ende als sein Nachfolger Heidegger, der – zumindest für kurze Zeit – glaubt, über den Abgrund ließe sich im Braunhemd hinwegmarschieren? Oder verfällt der Denker des »Ab-grunds« der nationalsozialistischen Bewegung nur deshalb, weil er spürt, dass es sich bei der »Herrlichkeit und Größe dieses Aufbruchs«, die er in seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede von 1933 beschwört, in Wahrheit und von Anfang an um jenes »wunderbare Sehnen dem Abgrund zu« handelt, wie es sein Idol, der andere im Wahnsinn verdämmerte Friedrich (Hölderlin), bei ganzen Völkern ausgemacht hat? Heidegger selbst widersteht dem letzten Sog der Tiefe, indem er immer wieder ins erdverbundene Dasein flieht: in seine einsame Hütte bei Todtnauberg im Schwarzwald, in der er selbst Holz machen und Wasser vom Brunnen holen muss.
Doch auch dieser vermeintlich un-abgründige Ort wird in den späten 1960er Jahren zum Schauplatz einer durch und durch abgründigen Begegnung: Paul Celan, der deutschsprachig-jüdische Dichter aus der Bukowina, dessen Eltern von den Nazis deportiert und ermordet wurden, besucht Heidegger in Todtnauberg. Was immer sich der Autor der Todesfuge von einer Begegnung mit dem Autor von Sein und Zeit erhofft hat – Gründe, warum sich Heidegger mit dem Faschismus eingelassen hat, bekommt Celan auch an jenem Ort nicht genannt, an dem der Philosoph so »gegründet« ist wie nirgends sonst. Stattdessen notiert dieser, dass es »heilsam« wäre, »Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen«.
Nun sind die Deutschen wahrlich nicht die Einzigen, die es in die Tiefe zieht, deren Geist durch die Vorstellung, unter der vertrauten Oberfläche lauere etwas, das sich kaum in Worte bannen lässt, ebenso erregt wird wie erschreckt. Die antiken Griechen vermuten den Hades im Erdinneren, Dante schreibt sich im ersten Teil seiner Göttlichen Komödie in immer tiefere Höllenkreise hinab. Doch weder vom griechischen Sänger Orpheus, der vergeblich versucht, seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt ans Tageslicht zurückzuholen, noch vom italienischen Dichter werden diese unterirdischen Reiche sehnsüchtig oder gar hoffnungsvoll besungen. Bei aller Faszination bleiben sie Orte des Grauens. Auch Immanuel Kant, der klare Kopf aus Königsberg, spricht ohne Verlangen in der Stimme vom »Abgrund des Verderbens«.
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Als politische Ikone hat der alte Barbarossa ausgedient, sein Denkmal auf dem Kyffhäuser bleibt eines der meistbesuchten Deutschlands. Liegt es auch daran, dass Architekt Bruno Schmitz den Bruch, aus dem der Sandstein geschlagen wurde, nicht zuschütten, sondern als lockenden Abgrund offen ließ?
Je mehr die deutsche Seele aber zerfranst und sich vom Diesseits abwendet, ohne auf den Trost im himmlischen Jenseits zu setzen, desto mächtiger zieht es sie zum unterirdischen Jenseits, zum Abgrund hin, in dem alles möglich scheint. Wer den Erdrücken als kalt und unwirtlich empfindet und den Himmel für eine allzu wolkige Utopie hält, der sucht sein (vermeintliches) Heil im Schoß der Erde. Die unentfremdete, wahre Heimat wandert in die Tiefe ab.
Bis heute gibt es zahlreiche schlesische Volkstanz-, Trachten- und sonstige Vereine, die sich in wehmütiger Erinnerung an den verschrobenen Erdgeist, der im Innern des Siebengebirges hausen soll, »Rübezahl« nennen. Ihren wirkmächtigsten politischen Ausdruck findet die Sehnsucht nach einer unterirdischen Heimat aller Deutschen jedoch im Barbarossa-Mythos.
Nüchtern betrachtet dürfte der Stauferkönig, der von den Deutschen hochverehrte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, im Jahre 1190 beim Dritten Kreuzzug auf dem Weg nach Jerusalem in einem Fluss ertrunken sein. Seit dem 16. Jahrhundert meint die Legende allerdings zu wissen, dass der Rotbärtige sich lediglich in den Kyffhäuser-Gebirgszug im Harz zurückgezogen habe und dort in unterirdischer Kammer schlafend auf seine Rückkehr warte. Diffuse, aber starke Hoffnungen ranken sich um den Schlummerkaiser: Die Aufständischen des ausgehenden Mittelalters haben ihn im Sinn, wenn sie auf tief greifende Veränderung der sozialen Verhältnisse drängen. Deutsch-nationale Kräfte von den Befreiungskriegen gegen Napoleon bis ins zweite deutsche Kaiserreich verbinden mit ihm den Wunsch nach nationaler Einheit und Größe. Zur »Kultfigur« erhebt ihn der Dichter Friedrich Rückert, indem er ihm 1817 jene Ballade widmet, die seine berühmteste werden sollte: »Der alte Barbarossa / Der Kaiser Friederich, / Im unterird’schen Schlosse / Hält er verzaubert sich [...]«
Für immer heim ins »unterird’sche Schlosse« schicken die Nazis den...