Konzerne außer Kontrolle
Als der weltgrößte Onlinehändler Amazon im Spätsommer 2017 bekanntgibt, einen Standort für eine zweite Konzernzentrale in Nordamerika zu suchen, beginnt ein wochenlanges Buhlen von 238 Städten, Regionen, Bundesstaaten und Territorien in den USA, Kanada und Puerto Rico. Amazon lässt die Bewerber wissen, man präferiere ein »wirtschaftsfreundliches Umfeld« und konkretisiert: Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über den Zuschlag spielen die angebotenen »Anreize« – gemeint sind damit Steuervergünstigungen, Umzugszuschüsse, Gebührennachlässe und anderes mehr. Seit dem Jahr 2000 hat der Konzern nach Recherchen von Good Jobs First annähernd 1,4 Milliarden Dollar an staatlichen Subventionen von Städten, Landkreisen und Bundesstaaten dafür eingestrichen, dass er seine Verteil- und Datenzentren bei ihnen und nicht anderswo ansiedelte.[1] Und auch diesmal soll es nach diesem Muster laufen: Investitionen und Arbeitsplätze nur gegen üppige Staatshilfe. »Amazon verkauft seine neue Firmenzentrale meistbietend«, ätzt der U.S. News & World Report und warnt die Politiker: »Beteiligen Sie sich nicht an Amazons Steuersparspiel, der Internetgigant spielt die Bewerber gegeneinander aus.«[2] Tatsächlich verweigern sich manche Städte demonstrativ, aber ausreichend viele beteiligen sich eben doch. Der Bundesstaat New Jersey zum Beispiel und seine größte Stadt, Newark, versprechen, im Fall der Zusage ein Fördergesetz so anzupassen, dass Amazon während der folgenden zwanzig Jahre Steuervorteile bis zu sieben Milliarden Dollar abgreifen kann. Eher putzig – und dennoch vielsagend in seiner Anbiederung – nimmt sich das Angebot einer Kleinstadt aus, einen Ortsteil in »Amazon City« umzubenennen und Konzernchef Jeff Bezos, den reichsten Mann der Welt, zum Bürgermeister auf Lebenszeit zu ernennen.[3] Mayor for sale – Amt zu verkaufen.
Diesel-Deutschland ist keinen Deut besser dran. Mitte 2017 wird bekannt, dass Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zwei Jahre zuvor den Entwurf einer Regierungserklärung »mit der Bitte um Überprüfung« an den Cheflobbyisten von Volkswagen schickte, bevor er sich in der Lage sah, im Landtag über den VW-Abgasskandal zu sprechen. Die Staatskanzlei muss einräumen, dass sie Pressemitteilungen und andere Veröffentlichungen zum VW-Skandal sogar regelmäßig mit VW abgesprochen hat, um juristische Fakten überprüfen zu lassen – ausgerechnet von jenem Konzern, der mit seinen manipulierten Motoren das Recht millionenfach verletzte. Gibt es, so fragt man sich, in der niedersächsischen Staatskanzlei keine Juristen, die ihre Faktenchecks unabhängig von VW leisten könnten?[4] Wie sich in der Affäre dann noch herausstellt, hat auch die schwarzgelbe Vorgängerregierung Formulierungen mit VW abgesprochen. Wenn gilt, was ein CDU-Oberer über den ertappten SPD-Ministerpräsidenten sagt – der habe sich zum »Handlanger eines VW-Vorstandsvorsitzenden« gemacht –, dann müssen wohl alle Vorgänger in der Hannover’schen Staatskanzlei als »Handlanger« von VW gelten.[5] Inklusive Sigmar Gabriel (SPD), der selbst einmal Ministerpräsident von Niedersachsen war.
Denn nur wenige Wochen nach der aufgeflogenen Abstimmung mit VW, als es in Brüssel um schärfere CO2-Grenzwerte für Pkw geht,[6] schreibt Sigmar Gabriel, obwohl damals Außenminister, an den EU-Klimakommissar: Er fordert »genügend Freiraum« für die deutsche Automobilindustrie, deren »Innovationskraft« dürfe »nicht durch zu eng gestrickte EU-Gesetzgebung erstickt« werden.[7] Man wusste schon immer, dass für Gabriel die Interessen von VW ganz oben standen. Neu war in diesem Fall, dass er gar nicht mehr wahrzunehmen schien, wie ihm dabei die Metaphorik entglitt: »Freiraum« für die »Innovationskraft« einer Branche zu fordern, die ihre unternehmerische Freiheit für die »Innovation« einer millionenfach eingesetzten Betrugssoftware missbrauchte – darauf musste Gabriel erst mal kommen; und vor Gesetzen zu warnen, die Autobauer »ersticken«, war nur noch geschmacklos, wo es um geschädigte Atemwege und Lungen durch Abgase aus manipulierten Motoren ging.[8]
Politiker, die Konzerninteressen über Bürger- und Verbraucherinteressen stellen, sind leider etwas, woran man sich zu gewöhnen droht. Umso wichtiger ist es, die Hintergründe auszuleuchten, in denen sich Politik und Wirtschaft gefährlich vermengen. Ein weiteres Beispiel: Als es Mitte 2017 um die Übernahme der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin geht, bekommt das private Unternehmen nicht nur einen 150-Millionen-Euro-Überbrückungskredit der Bundesregierung, der zu großen Teilen verlorengegangen sein dürfte;[9] zudem sprechen sich zahlreiche Politiker dafür aus, dass der innerdeutsche Beinahe-Monopolist Lufthansa den Zuschlag für die Reste von Air Berlin erhalten solle. Das Argument: Deutschland brauche nun mal einen »nationalen Champion«. Jeder Ökonom weiß, dass das wettbewerbspolitisch blanker Unsinn ist: Kein Fluggast, kein Geschäftspartner wünschen sich einen von der Politik protegierten »nationalen Airline-Champion« – es wäre nur zu ihrem Schaden. Daniel Zimmer, ehemaliger Vorsitzender der Monopolkommission, warnt denn auch mit deutlichen Worten vor einer Komplettübernahme durch Lufthansa, deren enorme Marktmacht dadurch weiter steigen würde: »Ich habe den Eindruck, dass wir in Deutschland eine bedenkliche Nähe mancher führender Politiker zu den Leitungen großer Unternehmen haben (…) Diese Politiker merken vielleicht zum Teil nicht einmal, dass sie gerade der Entstehung eines Monopols das Wort reden, das zur Ausbeutung der eigenen Bevölkerung in diesem Falle durch überhöhte Ticket-Preise führen würde.«[10]
Amazon, VW, Lufthansa – drei fast beliebig herausgegriffene Beispiele aus jüngster Zeit, die als erste Belege für die Entwicklung dienen sollen, die in diesem Buch beschrieben wird: Große transnationale Konzerne sind immer besser in der Lage, ihre wachsende Marktmacht zu instrumentalisieren und in politische Macht zu transformieren. Immer erfolgreicher sind sie darin, ihre eigenen Interessen gegen die Ansprüche der Gesellschaft durchzusetzen. Ein beunruhigender Befund, der es notwendig macht, genauer hinzuschauen.
Zum Beispiel auf internationale Handels- und Investitionsschutzabkommen, die solchen transnationalen Unternehmen das Sonderrecht einräumen, vor privaten Schiedsgerichten Schadensersatzklagen gegen Regierungen des Gastlandes anzustrengen. Auf diese Weise halten sie den Staat von Regulierungen für das Allgemeinwohl ab, wie es im gescheiterten Freihandelsabkommen TTIP vorgesehen war und im CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada realisiert wurde. Allein die Androhung von Schadensersatzklagen hat Regierungen oder Kommunen schon einknicken und von Regulierungsvorhaben Abstand nehmen lassen. In einer Studie[11] von 2016 zeigen zwei kanadische Wissenschaftler, dass in 214 untersuchten Investor-Staat-Klagen »extra große« Unternehmen (Jahresumsatz über 10 Mrd. US-Dollar) und große Unternehmen (zwischen 1 und 10 Mrd. US-Dollar Umsatz) von den beklagten Staaten Entschädigungen in Höhe von 7,5 Milliarden Dollar erhielten und »superreiche« Einzelpersonen weitere rund 1,1 Milliarden Dollar. Demgegenüber erstritten Firmen und Einzelpersonen von geringerer Größe »nur« eine Entschädigungssumme von insgesamt rund 600 Millionen Dollar. Bitter daran ist, dass für die höchst fragwürdigen privaten Schiedsgerichte stets mit dem Argument geworben wird, sie würden Rechtssicherheit gerade für kleinere Firmen herstellen. Tatsächlich liest sich die Liste in der Studie jedoch wie ein »Who is who« der internationalen Großkonzerne: Occidental Petroleum (USA) gegen Ecuador (Entschädigung plus Zinsen: 2,4 Mrd. Dollar), Mobil (Niederlande) gegen Venezuela (2,1 Mrd.), EDF (Belgien, Frankreich) gegen Argentinien (205 Mio.), Siemens gegen Argentinien (278 Mio.), Cargill (USA) gegen Mexiko (86 Mio.), Deutsche Bank gegen Sri Lanka (70 Mio.) …
Eigene Interessen über die Ansprüche der Gesellschaft zu stellen – das kennt man auch von der Finanzbranche. Bei ihr handelt es sich zweifellos um eine Macht im Staat, die diese Macht weidlich auslebt – Finanzkrise hin oder her. Kaum beachtet feierte sie im Herbst 2017 einen großen Erfolg: »Heimlich und verschämt«, notierte das Handelsblatt, zog die EU-Kommission ihren Entwurf für ein Trennbanken-Gesetz zurück – es hätte große Geldhäuser gezwungen, riskante Manöver im Wertpapierhandel vom klassischen Bankgeschäft mit Einlagen und Krediten zu trennen. Damit sollte eine Lehre aus der Finanzkrise...