An die Musik
Ich höre ihn noch, wie er sich aus dem Unterdorf hocharbeitet, der Spielmannszug zur Kirmeszeit. Zuerst pochte nur das Lang-Lang-Kurz-Kurz-Kurz der Bauchtrommel, dann mischte sich das Schrillen der Piccoloflöten ein, der Schellenbaum, dann die Blechbläser, anschwellend. Vor jedem Haus blieb dieser Zug stehen, dann erschnorrte sich der Tambourmeister ein Tablett voller Schnapsgläser und führte die Hausfrau zum Tanz auf die Straße, während der Fahnenschwenker schwenkte und die längst besoffenen Bläser bliesen und niemand den Rhythmus halten konnte. Meine Mutter wurde in den Armen des Kapellmeisters von einer Straßenseite zur anderen gewalzt, und mein Bruder und ich standen hinter der Hecke und pissten uns in die Hose vor Lachen. Später sagte unser Musiklehrer immer: »Muzzick ist, wenn der Zoch kütt.« Muzzick, mit Betonung auf der ersten Silbe, also ist, wenn die Marching Band kommt.
Diese Musik war unzerstörbar, denn sie war die erste, so fröhlich wie banal und in der Drum-and-Bass-Line kaum anspruchsloser als ein Großteil des Mainstream-Rocks der Sechziger. Später las ich, dass Gustav Mahler sich auf den Jahrmärkten gerne zwischen die Musikquellen stellte und sich dem Verfließen der Stimmen auslieferte. Als ich es auch versuchte, hörte ich keine Kirmes mehr, nur noch Mahler. Und mehr als das: Architektur und Musik sind die einzigen Künste, die Räume erschaffen. Im Durcheinanderfließen der akustischen Quellen auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen fand ich die erste moderne Klangarchitektur, simultan und eklektisch.
Zeitgleich überschwemmte eine andere, neuartig unscheinbare Musik den öffentlichen Raum, die dudelnde, berieselnde, dem Happy Sound verpflichtete Instrumentalmusik, die John Lennon abfällig »Muzak« taufte. Der Begriff von der »akustischen Umweltverschmutzung« wurde geboren, und es war gut zu wissen, was für ein Scheißdreck »Musik« heißen kann, eine auf synthetische Belanglosigkeit kalkulierte Klangmasse, die nichts hinterlässt als Vergessen.
Darf man das sagen? Wohl nicht. Denn die Musik ist ja eines der Rückzugsgebiete der Moral, das heißt, wer die falsche hört, ist für die einzig Wahren schon im Handumdrehen selbst vom Teufel. Andererseits gibt es nun einmal Allergien, manchmal schon allein gegen einen Sound oder eine fortgesetzte rhythmisch-harmonische Unterforderung, die aus der Musik Tapete macht. In die versenkt man sich schließlich auch nicht.
Die wahren Paradiese der Musik, fand ich, liegen außerhalb von »Muzzick« und »Muzak«, aber dem Soundtrack der Kindheit und der Pubertät ist man noch weitgehend wehrlos ausgeliefert, der Kindheit, weil andere die Musik auflegen, der Pubertät, weil sich die Musik glücklicherweise mit Erfahrungen mischt, die das musikalische Urteil außer Kraft setzen.
Der Jazz wählte viele Wege in mein Leben, und vielleicht war ja schon der Spielmannszug ein Trojanisches Pferd gewesen, in dessen Bauch die Swing Bands aus New Orleans schliefen. Jedenfalls weckte dieser dörfliche Schellenzug die Lust an der Havarie der Musik, an unwillentlich gegeneinanderlaufende Rhythmen, an Synkopen und Blue Notes.
Ein anderer Weg in die Musik des Jazz aber führte über Domenico Scarlatti. Dieser, ein barocker neapolitanischer Glücksspieler im spanisch-portugiesischen Exil, ließ immer wieder die Volksmusik seiner Heimat durch die Trillerketten klingen, und er brachte den Spaniern, als diese nach Italien und seiner Oper schielten, den Flamenco zurück, die missachtete Volksmusik der Zigeuner im eigenen Land. Er komponiert Fingerfertigkeiten von hoher Oberflächen-Brillanz, aber darunter tönte es wie die Musik des Heimwehs. Seine musikalischen Rituale sind die der Spieluhr, des Glockenspiels, mit Arpeggien, die sich in den immer selben Scharnieren drehen und trotzdem, im Melancholischen wie im Heiteren oder Bizarren, frei sein wollen. Dieser Drang in ein Klima der Freiheit, der Selbstbefreiung und Emanzipation vom autoritären Bann besitzt in jeder Musik etwas Hypnotisches und ist, was der Jazz auch ist: Musik im Zustand der Hervorbringung, Musik, in der sich die Produktivität selbst Bahn bricht.
Ein weiteres Einfallstor in mein Leben fand der Jazz durch das Radio. Von dort klangen Swing und Gospel wie aus weiter Ferne herangespülte Stimmungsbilder von Festen, aus Ballsälen und Gottesdiensten, es war Musik aus dem Sehnsuchtsraum, und der Melancholie der Kindheit antwortend, waren sie Sprache des Mangels und der Entbehrung, der Trauer, des Blues. Ich ging mit dieser Musik Schritt für Schritt, erregt vom Vibrato des Sidney Bechet, hypnotisiert vom Swing Lester Youngs, mitgerissen von der Spätromantik eines Oscar Peterson, oder – eingelassen in »das größte Duett aller Zeiten«, wie Duke Ellington es nannte: »ein liebender Mann und eine liebende Frau« –, ich lernte dem Sound zu folgen, der eine eigene Persönlichkeit besitzt wie der Stimmklang, und dem Geschwader dieser Ausdrucksformen folgte ich bis zum katatonischen Rasen eines Charles Mingus oder zur Selbstauflösung der Musik im Werk John Coltranes.
Als sie sich mir eröffnete, da hatte ich schon längst begriffen, dass der Jazz »falsche« Musik war, dass er nicht nur erlaubte, sondern forderte, was Thelonious Monk zu einem Drummer in den Sechzigern gesagt hatte: »Du weißt, wie man richtig spielt. Jetzt spiel falsch und mach das richtig.« Und hatte nicht Miles Davis von seinen Musikern verlangt, sie sollten öffentlich proben, vergessen, was sie beherrschten? Und wie hatte Wynton Marsalis’ Lehrer ausgerufen, als der junge Trompeter aus der großen Familie erstmals in der Jugendband gespielt hatte, und zwar so, dass dieser fand, »etwas Schieferes und Unzusammenhängenderes hatte ich nie gehört«? Dieser Danny Barker hatte gerufen: »Meine Herren, das ist Jazz!«
Man kann sagen, Jazz sei die klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Man kann sagen, er sei Ausdruck der Emanzipation von Diskriminierung und politischer Unterdrückung. Man kann auch sagen, er enthalte die schönsten Formen existentieller Freiheit, er sei Klima, Atem, Luft von vorn, er synchronisiere das Innenleben des modernen Menschen mit der Großstadt, dem Tempo der Bewegungen, den zerstückten Wahrnehmungen, dem Kino, der Erotik. Das alles kann man sagen, und doch wird das Erste, was den empfängt, der in den Jazz eintritt, etwas Grundsätzlicheres sein: Das Lebensgefühl, das Jazz heißt, entwickelt sich in einem Klima der Wahrhaftigkeit, der Geradlinigkeit, der Evidenz. Es ist künstlerisch zugleich so komplex, und andererseits ist es einschüchternd unverblümt, ansteckend »live« – am Leben.
Die Vitalität des Jazz bestimmt alles, was er sagt und will. Seine Formen und Stile sind beschreibbar, sie sind in Kategorien zu bringen, man kann fragen, was Bebop formal ist und wie eigentlich die triolische Spielweise der Achtelnoten funktioniert. Aber noch eigentlicher fließt etwas nicht Rubrizierbares, fließt Magma durch diese Musik hindurch, jener inspirative Strom, der im Herzen des Jazz pumpt, der seinen Puls, seine Improvisationen treibt, wie zur Feier der produktiven Energie, ihrer Selbstgerechtigkeit und Souveränität.
Ausgestattet mit dem Privileg, einige der mir liebsten, vielsagendsten Titel aus der Welt des Jazz versammeln zu dürfen (sofern die Lizenz dafür vergeben würde), bin ich keinem Kriterium gefolgt als dem der persönlichen Vorliebe. Das Lyrische zieht mich besonders an, die Durcharbeitung von einfachen Melodien, die Ergründung des Stimmungshaften, die immer wieder neuartige Zusammensetzung gemischter Gefühle, die den Eindruck hinterlässt: Manchmal kann die Musik, was Robert Musil der Literatur zuschrieb, den »inneren Menschen erfinden«.
Der Jazz hat sich, wo er sich ernst nahm, nicht einschränken lassen – von tonalen Gewohnheiten so wenig wie von kommerziellen Spekulationen und Gewissheiten. Er hat einen Raum besetzt, in dem es mehr gibt als ein paar stereotype Dreiklänge und einen durchgehaltenen Beat, er hat sich allen Schichten geöffnet und die Bildung einer exklusiven Kunst-Kirche verweigert. Nicht für Eingeweihte allein soll er sein, sondern auch für Priester, Sklaven, Arbeiter, Großstädter, Jugendbewegte, Lyriker und Impressionisten, er will aus dem Muff evangelischer Wollwaren treten, will nicht Pfeifenraucher-Musik sein, nicht an die geheimsprachlichen Diskurse vollbärtiger Feierabenddozenten erinnern. Direkt will er genommen, verstanden werden in seinem Ringen um das Gemeinschaftliche in der musikalischen Kommunikation, als Reflex von Erfahrungen, die außerhalb der Musik liegen, als expressives Massiv. Lange war jene Musik, die mich seit frühen Jahren begleitet hatte, meine Privatmusik, die wenige teilen mochten, vielleicht weil sie ein Imageproblem hatte, diese Musik, die ihre ganz eigene Schwingung auf mich übertrug und in unabschließbarer Vielfalt die Formen variierte, sich frei zu fühlen, diese im Ausdruck der Improvisation wurzelnde Musik. Unterdessen wurde mir diese Musik zum Strom, den auf- und abwärts zu reisen ich nie müde wurde – aufwärts zu den Quellen in der afrikanischen Volksmusik, im Gospel, im...