Kapitel 2 Ein Gefühl für das Ich
Eine sehr treffende Beschreibung des Verhaltens von Heranwachsenden findet sich in einem Brief, den Dinah Hall aus Lustleigh in Devon 2013 an die Zeitung Guardian schickte:
Nichts eignet sich so gut wie Teenagertagebücher, wenn man historische Ereignisse in einen Zusammenhang stellen will. Mein Eintrag vom 20. Juli 1969 lautet:
Ich bin (ganz allein) mit gelber Cordhose und Bluse zum Kunstzentrum gegangen. Ian war dort, aber er hat nicht mit mir gesprochen. Habe in meiner Handtasche ein Gedicht von irgendjemandem, der anscheinend auf mich steht. Ich glaube, es ist Nicholas. UGH.
Mensch auf dem Mond gelandet.[11]
Dinahs Tagebucheintrag macht wunderschön deutlich, was ihr als Teenager zu jenem Zeitpunkt in ihrem Leben wichtig war. Die Tatsache, dass Menschen an jenem Tag zum ersten Mal den Mond betraten, war für sie von geringerer Bedeutung als ihre Kleidung und wen sie mochte oder nicht mochte. In der Adoleszenz achten wir häufig zum ersten Mal genauer darauf, wie unsere Identität sich auf unser Leben und die Sicht anderer auf uns auswirkt. Alles, was wir sind, ändert sich. Wir entwickeln ein komplizierteres Moralgefühl und werden uns der politischen Realitäten in der Gesellschaft um uns herum bewusst. Es entwickelt sich ein Musikgeschmack, der zumindest in manchen Fällen ein Leben lang bestehen bleibt. Auch unser Modegeschmack entwickelt sich, er bleibt aber bei den meisten Menschen nicht so lange konstant. Komplexe soziale Gefüge entstehen, an denen wir teilhaben. Kurz gesagt, konstruieren wir, wer wir sind und wie wir von anderen gesehen werden.
Als ich mit 19 Jahren als Studienanfängerin an die Universität kam, packte ich als Erstes meine Habseligkeiten aus. Ich hängte Poster von Bob Dylan und Jimi Hendrix an die Wände, stellte Souvenirs auf, die ich in den Jahren zuvor aus verschiedenen Ländern mitgenommen hatte, und reihte Bücher, Schallplatten und CDs auf den Regalen auf. Diese Besitztümer sagten über mich, über mein Ich etwas aus, das mir wichtig war und zeigte, wie andere Menschen mich sehen sollten. Meine (größtenteils ungelesenen) Exemplare von Ulysses und Krieg und Frieden wurden an auffälliger Stelle platziert (was zuzugeben mir heute peinlich ist). Wann und wie hatte ich dieses Ich-Gefühl entwickelt?
Ansätze eines Ich-Gefühls entstehen schon sehr früh im Leben. In den 1990er Jahren richteten Philippe Rochat und seine Kollegen im schweizerischen Lausanne in einer Geburtsstation ein Labor ein und führten an neugeborenen Babys mit Einverständnis der Eltern einige einfache Tests durch.[12] In einem eleganten Experiment verglichen sie die Reaktionen der Babys, wenn ihre Wange entweder von einem Wissenschaftler oder von der eigenen Hand berührt wurde (beispielsweise wenn das Baby sich zufällig über die Wange fuhr). Die Berührung war (ungefähr) die gleiche, aber die Quelle war unterschiedlich. Interessanterweise waren die Babys schon 24 Stunden nach der Geburt in der Lage, den Unterschied wahrzunehmen. Wenn ein anderer die Wange des Babys berührte, neigte es dazu, den Kopf stärker in Richtung der Berührung zu wenden als bei spontanen Selbstberührungen. Dieses einfache Experiment offenbart eine tiefgreifende Erkenntnis über Neugeborene: Sie können zwischen sich selbst und anderen unterscheiden.
Menschenbabys werden also mit einem Ich-Gefühl geboren – allerdings einem sehr primitiven. Natürlich ist es ganz anders, wenn wir als Erwachsene spüren, wer wir sind und was andere von uns denken. Das Ich-Gefühl der Babys ist eher ein unbewusstes Spüren der eigenen Physis und der Wahrnehmung des Unterschieds zwischen dem eigenen Körper und dem anderer Menschen. Dennoch ist es wichtig, denn wir müssen zwischen uns selbst und anderen unterscheiden können, um mit anderen Menschen zu interagieren; und Babys lernen durch die Interaktion mit den Menschen in ihrem Umfeld Sprache und Sozialverhalten.
Nach der Geburt entwickelt sich das Ich-Gefühl allmählich weiter. Im Alter von sechs Monaten blicken Säuglinge auf ein Video eines anderen, gleichaltrigen Babys mit derselben Kleidung länger als auf ein Video von sich selbst. Der längere Blick lässt darauf schließen, dass sie nicht nur den Unterschied zwischen sich selbst und anderen Säuglingen wahrnehmen, sondern dass sie sich auch für das Bild des anderen Kindes stärker interessieren. Das ist bemerkenswert, denn mit einem halben Jahr hat ein Säugling sich selbst vermutlich noch nicht oft betrachtet – weder im Spiegel noch in einer Videoaufnahme. Vielleicht verfügt ein Baby mit sechs Monaten über eine grundlegende Wahrnehmung seiner eigenen Bewegungen, so dass ein Video, auf dem es zu sehen ist, eine gewisse Vertrautheit herstellt und deshalb weniger interessant ist als die Aufnahme eines fremden Säuglings, der sich hin und her bewegt.[13]
Im zweiten Lebensjahr wird die Selbstwahrnehmung ausgeprägter: Mit 18 Monaten entwickeln Säuglinge fortgeschrittene Anzeichen für das Wissen, dass sie als Individuen existieren und von anderen Menschen getrennt sind. Ein klassischer Nachweis ist der Spiegel-Selbsterkennungstest.[14] In einer Reihe bahnbrechender Experimente brachten Wissenschaftler mit einem weichen Pinsel auf der Stirn einiger Babys einen farbigen Fleck an. Bei anderen wurde die Stirn mit demselben Pinsel berührt, ohne dass aber Farbe aufgetragen wurde. Was tun Babys dieser beiden Gruppen, wenn man ihnen ihr Bild im Spiegel zeigt? Im Alter von weniger als 18 Monaten schenkten die Kinder beider Gruppen dem Spiegelbild kaum Aufmerksamkeit. Ungefähr mit eineinhalb Jahren jedoch betrachteten die Babys, die eine Markierung auf der Stirn trugen (im Gegensatz zu denen ohne Markierung), den Fleck und versuchten häufig, ihn selbst wegzuwischen. Mit 18 Monaten haben Babys also offensichtlich ein Gefühl dafür erworben, dass ihr Körper und Gesicht zu ihnen gehört, und anscheinend verstehen sie auch, dass dieses Ich im Spiegel wiedergegeben wird. Mit zwei bis drei Jahren zeigen Kinder ein Verständnis dafür, dass andere Menschen sich ihrer selbst genauso bewusst sind wie sie selbst, und differenzieren nun auch beim Sprechen zwischen sich und anderen.[15] Das Ich-Gefühl entwickelt sich während der gesamten Kindheit weiter.
Wie werden wir zum Individuum? Bis zu einem gewissen Grade bestimmt unser genetisches, von unseren Eltern ererbtes Material darüber, wer wir werden. Charakter, Intelligenz, Vorlieben und kognitive Stärken sind in einem gewissen Umfang erblich – sie werden mit den Genen von Generation zu Generation weitergegeben. Zusätzlich und durch die Wechselwirkungen mit unseren Genen bestimmt auch die Umwelt mit darüber, was für Menschen wir werden. Unsere vielen Kindheitserlebnisse, Erziehung, Bildung, zwischenmenschliche Beziehungen, Hobbys und anderes fließen allmählich zusammen und lassen gemeinsam das Gefühl entstehen, wer wir sind.
Dieses Gefühl wird während der Adoleszenz besonders wichtig. Mit 19 Jahren, während meiner ersten Wochen an der Universität, war ich erpicht darauf, mich der Studentinnengruppe anzuschließen. Frauenthemen waren für mich in dem Jahr zwischen Schule und Universität besonders wichtig geworden. Ich hatte drei Monate in neurowissenschaftlichen Labors in Kalifornien gearbeitet und war dort zum ersten Mal mit dem gesellschaftlichen Klischee in Kontakt gekommen, dass es für eine Frau ungewöhnlich ist, Wissenschaftlerin zu werden. An meiner weiterführenden Mädchenschule war das kein Thema gewesen – keiner meiner Lehrer hat dieses Vorurteil geäußert, viele Schülerinnen hatten Naturwissenschaften für den Schulabschluss gewählt und beschäftigten sich auch später an der Universität mit wissenschaftlichen Themen.
Aber in Kalifornien, wo ich zum ersten Mal selbständig lebte, wurde mir bewusst, dass viele Menschen vorgefasste Meinungen darüber hatten, wie das Leben von Frauen auszusehen hatte, und danach galt die Karriere, die ich mir vorgenommen hatte, nicht als besonders »weiblich«. Wissenschaftler waren doch Männer mit weißem Kittel und ungekämmten Haaren, die Tag und Nacht im Labor schufteten, oder? In Kalifornien kam ich mit Menschen zusammen, die sich lautstark für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzten. Diese Menschen lernte ich in den wissenschaftlichen Labors kennen, in denen ich arbeitete. Sie wurden für mich zu beruflichen Wegbereitern. Einen besonders starken Eindruck auf mich machte Elaine Andersen, eine Professorin für Psychologie an der University of Southern California, die für mich noch heute Freundin und Mentorin ist. Sie war überzeugt, dass nicht nur Männer Wissenschaft betreiben können oder sollten, und ich teilte ihre Ansicht.
Nach den drei Monaten in Kalifornien unterrichtete ich ein halbes Jahr Englisch an einer Schule nicht weit entfernt von Kathmandu in Nepal. Ich brachte Kindern zwischen drei und 18 Jahren (ich selbst war damals erst 18!) die Sprache bei und lebte bei einer nepalesischen Familie. Dieser Aufenthalt öffnete mir die Augen für eine vollkommen andere Lebensweise und für die gewaltigen kulturellen Unterschiede zwischen der nepalesischen Gesellschaft und meiner britischen Heimat. Wenn ich nicht unterrichtete, verbrachte ich viele Stunden allein oder in der Gesellschaft meiner Lehrerkollegin (und heutigen engen Freundin) Camilla...