Vater und Sohn
Wir fangen an. Die Rollenspiele, die wir mit ihnen durchführen, sollen überspitzt Situationen aus Familien beschreiben: Ein Vater kommt nach Hause, sieht seinen Sohn vor dem Computer sitzen und spielen. Der Vater wird wütend, gibt dem Sohn einen Schlag auf den Hinterkopf.
»Was machst du hier? Spielen, spielen, spielen! Den ganzen Tag spielst du. Gehst nicht in die Schule, sitzt nur zu Hause rum und machst nichts, außer zu spielen.«
»Ja, aber Baba …«
»Deine Mutter weint jeden Tag wegen dir. Und warum warst du heute nicht in der Moschee? Alle fragen mich ständig nach dir. Und ich? Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich schäme mich.«
»Ich weiß auch nicht …«
»Ich weiß auch nicht, ich weiß auch nicht! Was weißt du denn, Sohn? Sag’s mir!«
»Ich …«
»Was?«
»Mir geht’s nicht so gut …«
»Kein Wunder. Du hängst ja auch nur zu Hause rum und spielst. Zur Schule gehen sollst du, arbeiten, beten sollst du, auf deine Schwestern aufpassen. Nichts davon machst du. Was soll nur aus dir werden? Eine Schande bist du!«
»Baba, ich …«
»Sei ruhig. Ich will nichts mehr hören. Geh mir aus den Augen. Sofort.«
Ende.
Applaus.
Ich warte einen Moment, dann frage ich: »Was fällt euch dazu ein?« Manche Antworten kommen unmittelbar, manche sehr zögerlich – und sie sind sehr unterschiedlich:
»Ha, genauso ist mein Vater. Als ob ihr in meiner Familie zu Besuch wart.«
»Ich wünschte, ich hätte so einen Vater gehabt. Meiner hat mich eigentlich immer nur ignoriert. Da konnte ich machen, was ich wollte.«
»Ich verstehe den Vater. Er will dem Sohn etwas vermitteln. Da muss man auch streng sein. Die Eltern meinen es ja nicht böse. Sie wollen, dass man etwas von der Familie, Religion und Tradition lernt.«
Am Anfang gibt es von den Gefangenen häufig viel Zuspruch für den Vater. Ich sage zu meinem Kollegen: »Was bist du für ein Vater? Wo ist die Liebe? Hast du dich gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass dein Sohn jetzt so ist?« Der Vater antwortet: »Ich gehe jeden Tag zwölf Stunden arbeiten, nur für ihn, das ist doch Liebe.« Dann frage ich, wieso er so mit seinem Kind redet und wie seine Erziehung bis jetzt gewesen ist.
Auf einmal melden sich auch andere Stimmen zu Wort:
»Also ich sehe nur Dominanz. Da wird nicht nachgefragt, warum spielst du? Nur Vorwürfe, ein Gewitter an Ansagen. Es wird ihm ein schlechtes Gewissen gemacht, mehr nicht. Da ist null Interesse für den Sohn.«
»Ich kenne das von meinem Vater, die Erniedrigungen, die Vorwürfe. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Ich war einfach nicht religiös und hab mir das dann einfach nur angehört. Ich konnte ja nicht einfach meinen Vater schlagen, auch wenn ich …«
»Und dann bist du auf die Straße gegangen und hast andere dafür geschlagen. Stimmt’s?«, sagt ein Mitgefangener.
Stille.
Ein anderer redet weiter:
»Was soll er denn auch tun? Den Vater kritisieren? Das macht man doch nicht. Wenn ich öfter auf meinen Vater gehört hätte, säße ich heute nicht hier. Ganz bestimmt nicht.«
»Aber da kommt nur Kritik. Ich sehe keine Liebe. Meine Eltern haben mir das auch nicht beigebracht. Ich habe irgendwann gemerkt, dass mir etwas fehlt. Deshalb möchte ich das ändern. Ich möchte lernen, über meine Gefühle zu sprechen. Ich mache deshalb eine Gewalttherapie.«
Ich bin überrascht, wie sich diese Männer den anderen Gefangenen und uns gegenüber allmählich öffnen, über Fehler nicht nur nachdenken, sondern auch sprechen, sie zugeben, sie reflektieren. Und das, obwohl wir uns erst eine halbe Stunde kennen.
Sicherlich schafft die Tatsache, dass meine Kollegen und ich selbst Migranten sind, oft die gleiche Sprache sprechen und manchmal sogar die gleichen Namen tragen, Vertrauen. Wir sind nicht die Polizei, nicht die Justiz. Wir sind nicht die anderen, wir sind nur wir. Manchmal reicht es, unsere Namen zu nennen und automatisch ist ein gewisses Grundvertrauen da. Wir spielen ihnen nichts vor, sondern interessieren uns tatsächlich für ihre Meinungen und Einstellungen. Wir schließen niemanden aus, wir bewerten weder ihr Aussehen noch ihre Strafen oder ihre Äußerungen. Hier dürfen sie drei Stunden lang mit ihren Gedanken frei sein, nach unserem Motto: Freiheit beginnt im Kopf.
Auch die Art, wie wir ihnen gegenüber auftreten, gibt den Teilnehmern nicht das Gefühl, dass wir auf der einen und sie auf der anderen Seite stehen: Wir demonstrieren unterschiedliche Meinungen, streiten uns ein bisschen und machen zwischen all den ernsten Themen immer mal wieder ein paar Späße, damit die Teilnehmer sich trauen, frei zu reden. Durch all das werden ihre Gedanken aktiviert.
Wir spielen weiter. Wir bitten den jungen Mann, der gerade die Dominanz und das Gewitter an Ansagen des Vaters kritisiert hat, nach vorne. Er ist erst Anfang 20, trotzdem soll er die Rolle des Vaters einnehmen. »Versuch es«, sage ich. »Wie würdest du als Vater reagieren?« Er zögert. »Komm, mach schon«, sagt ein älterer Gefangener. Da steht er auf, setzt sich auf den freien Stuhl und schaut mich an, als solle ich ihm helfen. »Also, du kommst nach Hause und siehst deinen Sohn vor dem Computer«, sage ich. »Was machst du?«
»Hallo.«
»Hallo, Baba.«
»Was machst du?«
»Ich spiele.«
»Ah.«
Stille. Lange Stille. Unangenehme Stille. Als er es selber nicht mehr aushält, dreht sich der Junge, der den Vater spielen soll, zu mir und sagt: »Ich weiß, dass ich es anders machen will, aber ich weiß nicht, wie.« Ich nicke ihm zu und antworte: »Das ist o.k. Danke, dass du nach vorne gekommen bist und es probiert hast. Wie dir geht es vielen.« Er steht auf und setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Er wird den Rest des Workshops schweigen, so, als würde er die ganze Zeit überlegen, was er hätte sagen können.
Wenn ich sehe, dass einer nicht weiß, was er sagen soll, frage ich manchmal, ob ich seine Frau spielen darf. Die Gruppe lacht dann immer. Gemeinsam gehen wir zum Sohn, und ich versuche, dem Vater beizustehen und ihm als Mutter Ideen zu geben, das Gespräch mit dem Sohn anders zu führen.
Heute brauche ich das nicht. Denn als wolle er dem jungen Gefangenen beistehen, meldet sich einer und sagt: »Ich bin mir sicher, dass man etwas ändern kann, wenn man in eine gewaltfreie Kommunikation geht.«
Was er damit meint, soll er uns jetzt zeigen. Er spielt den Vater. Er kommt ins Zimmer, sieht seinen Sohn. Doch anstatt ihm mit Vorwürfen zu begegnen, setzt er sich neben ihn und sagt: »Ich sehe dich sehr oft vor dem Computer. Geht es dir gut, mein Sohn?« Der Sohn antwortet: »Nein, Baba. Gar nicht.« Dann fängt er an zu reden, erzählt von den Problemen, die er in der Schule hat, von den Mitschülern, die ihn hänseln, von seinen Versagensängsten. Der Vater sagt nichts. Keine Vorwürfe. Er hört nur zu. Dann fragt er: »Wie kann ich dir helfen?«
Die Gruppe beobachtet. Einige lachen leise. Einige, das merkt man, können das alles kaum aushalten. Man sieht ihnen an, wie viele Gedanken ihnen durch den Kopf gehen. Einige sehen traurig aus, andere schauen aus dem Fenster. Die meisten aber hören aufmerksam zu. Vater und Sohn reden weiter. Der Vater zeigt Verständnis, es interessiert ihn, was in seinem Sohn vorgeht, und er verspricht, ihn zu unterstützen.
Auch wenn man dem Gefangenen, der den Vater spielt, anmerkt, dass er abwechselnd erst stolz auf sich selber ist, so einfühlsam zu sein, und sich dann aber wieder schämt und lacht, weil es ihm schwerfällt, diese ihm so fremde Situation, diesen liebenden Vater zu spielen – die Gefangenen erleben ihn als einen Vater, der Liebe und Interesse zeigt, der da ist für Probleme. Einen Vater, der nicht nur Macht ausübt und Gewalt als probate Erziehungsmaßnahme betrachtet. Einen Vater, der anwesend ist und auch Schwäche zulässt. Einen Vater, den sie früher – und vor allem auch jetzt – gebraucht hätten. Viele dieser Jungen und Männer kennen einen solchen Vater gar nicht. Die Islamisten nutzen das aus. Sie wissen, wie sie junge Männer dazu bringen, sich vom eigenen Vater zu lösen. Gleichzeitig bieten sie ihnen eine neue Vaterfigur an. Eine, die aber noch stärker, mächtiger und patriarchalischer ist: Einen Allah, der zornig ist, der bedroht, belohnt und bestraft.
Zu alldem wollen wir Alternativen aufzeigen. Wir wollen ihnen eine dritte Möglichkeit anbieten, die auf Mündigkeit, Liebe, Kommunikation und Interesse basiert. Wir wollen Sozialarbeit betreiben, die die Themen dieser Generation erkennt und behandelt und nicht – wie es so oft geschieht – irgendwelche Maßnahmen ergreifen, die kaum etwas mit den Welten dieser Jugendlichen zu tun haben.
»Danke, Baba, dass du mir zugehört hast. Das hat schon geholfen.«
Ende.
Applaus.
Wie es mit dem Vater und seinem Sohn weitergeht, kann oder muss jeder der Männer selber überlegen. Vielleicht hat die kurze und vorsichtige Annäherung des Vaters ja schon ausgereicht, bei den Männern Gedanken über sich selbst und über ihr Verhältnis zu ihren Vätern und Söhnen auszulösen. Vielleicht hat sie ihnen gezeigt, dass Empathie keinen Machtverlust zur Folge haben muss. Oder anders: Dass man als Vater und Mann trotzdem respektiert werden kann, auch wenn man seine Autorität nicht ständig zur Schau stellt.
Ich merke: Manchen fällt es unheimlich schwer, plötzlich zu sprechen, weil es ihnen bisher immer verboten worden war. Aus manchen sprudelt das, was in ihnen seit Jahren schlummert, nur so heraus. Jeder Teilnehmer ist anders. Jeder Workshop ist anders.
Es geht weiter:...