Einleitung
Daniel Bindernagel
Dieses Buch möchte Interesse wecken an der Vielfalt und Vielschichtigkeit und am Reichtum von Eigensprache. Ein Kind, dessen eigene Sprache aufgegriffen wird, spürt, dass ihm zugehört wird. Dieses Kind macht eine für die spätere Entwicklung sehr wichtige Grunderfahrung: »Meine Äußerungen werden wahrgenommen und beantwortet.« Und wenn diese Erfahrung fortlaufend und verlässlich gemacht werden kann, könnte es über sich sagen: »Ich fühle mich sicher und gehalten.« Dies trägt zum Aufbau einer sicheren Bindung und eines guten Selbstvertrauens bei. Mit zunehmendem Alter und wachsenden kognitiven Fähigkeiten kann das Eingehen auf die Eigensprache neben den erwähnten positiven emotionalen Grunderfahrungen den Zugang des Kindes zu sich selbst fördern. Es kann sich selbst über die eigene Sprache entdecken und verstehen. Es erfährt Anerkennung und Wertschätzung in der Einzigartigkeit seines Seins. Da Kinder gerne in Bildern sprechen, können sie mit einfachen Fragen zu Bildern viel anfangen und in der Regel leicht und spontan antworten. Weil die Idiolektik bildhafte Sprache fokussiert und ein effektives Handwerkszeug für das Eingehen auf Bilder zur Verfügung stellt, eignet sie sich gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Viele Kinder haben noch die Fähigkeit, einfache und konkrete Fragen zu stellen. Genau das müssen wir Erwachsenen für diese Form der Gesprächsführung wieder neu lernen.
Fachpersonen, die mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern arbeiten, liefert dieses Buch Grundlagen und Handwerkszeug, Kinder besser zu verstehen und auf sie einzugehen. Im Zentrum der Methode steht die Erkenntnis, dass jedes Individuum seine eigene Sprache spricht. Unter dem aus der Linguistik stammenden Begriff des Idiolekts versteht man das individuelle Sprachmuster eines Sprechenden mit all seinen phonetischen, grammatischen und die Wortwahl betreffenden Vorlieben (Encyclopedia Britannica). Der Idiolekt bezeichnet also die individuelle Sprache eines einzelnen Menschen. Mit dem Idiolekt werden Besonderheiten beschrieben, aufgrund deren man die Sprache unterschiedlicher Sprecher einer Sprachgemeinschaft unterscheiden kann. In der Soziolinguistik werden die Idiolekte von Mitgliedern einer definierten Sprachgemeinschaft analysiert mit dem Ziel, daraus gemeinsame Merkmale eines Soziolekts abzuleiten. Der Soziolekt bezeichnet sodann die sprachlichen Eigenheiten einer sozialen Gruppe. Der Dialekt wiederum stellt die sprachlichen Eigentümlichkeiten einer Region dar, während der Idiolekt eben die eigentümlichen Sprachmuster des Individuums abbildet. Der Idiolekt lässt sich mit dem sprachlichen Fingerabdruck eines Individuums vergleichen. Diese Metapher verweist auf einen wesentlichen Aspekt von Eigensprache, nämlich den der Unverwechselbarkeit und der Einzigartigkeit. Gleichzeitig hinkt dieser Vergleich, da er fälschlicherweise nahelegt, dass der Idiolekt wie der Fingerabdruck etwas biologisch Festgelegtes und Unveränderliches sei. Das Gegenteil ist der Fall: Unsere Sprache ändert sich fortlaufend, ist etwas Interaktives und passt sich an Kontext und Situation an. Häufig nehmen Menschen sprachliche Eigenheiten von einer Gruppe oder von einzelnen anderen Menschen an, mit der oder dem sie neu zusammen sind. Auf diesen Umstand haben auch schon forensische Linguisten hingewiesen. Forensische Linguisten versuchen beispielsweise, in anonymen Erpresserschreiben über die Analyse des Idiolekts den Verbrechern auf die Spur zu kommen. Es wird dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass die forensische Linguistik keinen Fingerabdruck im Sinne der Spurensicherung nachweisen kann, weil sich eben Sprache im Laufe des Lebens verändert und kontextabhängig ist. Allenfalls könne man wichtige Hinweise auf den Verfasser eines Schreibens bekommen (Krischke 2013).
Doch zurück zur Idiolektik, in der es in keiner Weise um detektivische Arbeit oder das Festlegen einer Autorenschaft geht, sondern eher um das Gegenteil: um ein zieloffenes, sorgfältiges Zuhören und eine gemeinsame Entdeckungsreise durch die »Sprachlandschaft« unseres Gesprächspartners. Der Idiolekt beinhaltet alle Aspekte kommunikativen Verhaltens: Wörter, Sprachklang und Körpersprache. Durch präzises Aufgreifen der Wörter unseres Gesprächspartners und konsequentes Orientieren an positiv gefärbten nonverbalen Signalen gelingt es rasch, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und dem Gesprächspartner einen Zugang zu sich selbst zu erleichtern. Nicht nur Wörter haben eine sehr individuelle Bedeutung, sondern auch der Klang der Sprache und die Körpersprache sind unverwechselbar und eigentümlich. Sprachklang und Körpersprache rücken desto mehr ins Zentrum, je jünger ein Kind ist. Menschen, die professionell mit Kindern arbeiten, will dieses Buch anregen, ihre Art und Weise des Zuhörens und Zuschauens zu reflektieren. Die Möglichkeiten, auf die Sprache von Kindern, Jugendlichen und Eltern einzugehen, will es erweitern. Indem ich teilhaben kann am nahezu unerschöpflichen Reichtum der Eigensprache meines Gegenübers, bekomme ich selbst als Professioneller mehr Zugang zu meiner eigenen Lebendigkeit. So kann die Beschäftigung mit der Eigensprache des anderen auch meine eigene Explorationslust fördern und ganz allgemein zur Freude an der und Befriedigung durch die Arbeit beitragen. Die vielen Fallbeispiele, in denen verschiedene Autoren mit langjähriger Erfahrung in der idiolektischen Methode zu Wort kommen, machen dies nachvollziehbar. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Lektüre dieses Buches nicht nur für Professionelle, sondern auch für Eltern von Interesse sein kann. Denn das Wissen über Eigensprache und einfache Techniken, darauf einzugehen, können die familiäre Kommunikation verbessern. Dabei sollen Eltern natürlich nicht zu Therapeutinnen und Therapeuten ihrer Kinder werden, aber so manches Konfliktmuster und daraus resultierendes Verhalten können durch sorgfältiges Zuhören und einfaches Nachfragen gelockert und zum Positiven verändert werden. Kurz gesagt: Gut zuhören und einfach nachfragen kann die halbe Miete für eine gute Kommunikation sein.
Im Anschluss an diese Einleitung wird darauf eingegangen, wie sich Eigensprache entwickelt. Dabei stellen wir fest, wie eng unsere sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten mit der Entwicklungspsychologie verknüpft sind. Hier werden in verdichteter Form die wissenschaftlichen Grundlagen und Anknüpfungspunkte bezüglich anderer Theorien geliefert. Der weitere Aufbau des Buches gliedert sich dann entlang den kindlichen Entwicklungsstufen. Die Struktur der einzelnen anschließenden Kapitel gestaltet sich nach folgendem Muster: Nach einer kurzen Einführung werden die für das entsprechende Alter anstehenden Entwicklungsaufgaben zusammengefasst und die jeweilige Bedeutung der Eigensprache für dieses Entwicklungsalter herausgearbeitet. So können Leser, die sich ausschließlich für die Anwendung der Idiolektik in einem bestimmten Alterssegment interessieren, zunächst auf das entsprechende Kapitel beschränken und je nach Bedürfnis die Theorie aus dem Kapitel »Wie entwickelt sich Eigensprache?« später vertiefen. Der Hauptteil des jeweiligen Kapitels besteht dann aus Fallbeispielen aus der Praxis, welche ausnahmslos mit geänderten Namen und so weit anonymisiert dargestellt werden, dass Rückschlüsse auf die Identität nicht möglich sind. Ein Fallbeispiel repräsentiert Erfahrungswissen der Autorin/des Autors und spricht Erfahrungswissen der Leserin/des Lesers an. Ein Transfer in den eigenen Berufsalltag wird so erleichtert. Dieses Werk ist aus der Praxis entstanden und richtet sich an die in der Praxis Tätigen. Theoretische Aspekte werden jeweils an den Fallbeispielen demonstriert und hervorgehoben. Auch hier steht die Verständlichkeit im Vordergrund.
Erstmals wird die idiolektische Methode systematisch in ihrer Anwendung bei Kindern und Jugendlichen dargestellt. Es kommen Autorinnen und Autoren zu Wort, die zwischen einem und drei Jahrzehnten Erfahrung sammeln konnten im professionellen Einsatz dieser Methode mit Kindern, Jugendlichen und Eltern.
David Jonas, der Begründer der Methode, war Psychiater und ursprünglich Psychoanalytiker. Etwa zur gleichen Zeit wie John Bowlby (vgl. 1969), der auch als Psychoanalytiker ein biologisches Konzept, nämlich die Bindungstheorie, in die Psychoanalyse einbrachte, entwickelte Jonas ein psychosomatisches Konzept, das »archaischen Relikte«, das ebenfalls auf Verhaltensbeobachtung und evolutionsbiologischen Grundlagen aufbaut. David Jonas hat hauptsächlich mit Erwachsenen gearbeitet. In seinen Veröffentlichungen vor allem aus den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es allerdings zahlreiche Hinweise zur Entstehung der Eigensprache mit Bezug auf die Kindheit. So kommt er beispielsweise im Kapitel »Der Einfluss frühkindlicher Erziehung auf verschiedene Stressreaktionen« im Buch Signale der Urzeit (Jonas u. Jonas 1977, S. 325) zu dem Schluss:
»Eine spezifische Wirkung [auf psychosomatische Reaktionen, die über sogenannte neurophysiologische Mechanismen vermittelt werden; Anm. des Hrsg.] wohnt nur den Erziehungsmaßnahmen inne; inadäquate Verhaltensmechanismen haben ihren Ursprung entweder im Kind oder in den Eltern. Sie entstehen im Kind, wenn die Widersetzlichkeit gegenüber Erziehungsmaßnahmen erfolglos ist; in Eltern entweder, wenn sie in ihren Anweisungen widersprüchlich sind oder wenn sie keine ausreichende Dominanz über ihre Kinder haben.«
Jonas hatte gemeinsam mit seiner Frau, die Anthropologin war, zwölf Familien mit jeweils fünf bis acht Kindern, von denen nur eins oder zwei an rheumatischer Arthritis litten, während die übrigen Geschwister gesund waren, sorgfältig über...