1 Gunthard Weber und Claude Rosselet im Gespräch über Entwicklungen in der Aufstellungsarbeit
CLAUDE ROSSELET Die Organisationsaufstellung hat sich aus der Praxis der Familienaufstellung heraus entwickelt. Dabei hat sie bei letzterer – zumindest in den Anfängen – viele Anleihen genommen: auf der Ebene der Interventionstechniken, des Settings und natürlich auch auf der Ebene von Erklärungsversuchen hinsichtlich dessen, was im Prozess des Aufstellens passiert. Erst nach und nach wurden neue Formate und Settings entwickelt sowie Erklärungsansätze von Organisationstheoretikern wie Edgar Schein, Karl E. Weick, C. Otto Scharmer und Dirk Baecker einbezogen. Du warst von Beginn an dabei und hast so manches auf den Weg gebracht. Magst du erzählen, was damals geschah?
GUNTHARD WEBER Da hatte der nicht zufällige Zufall seine Hand im Spiel. Und es verlief ähnlich wie im Jahr 1986, als ein paar Wiener Organisationsberater an Fritz Simon gelangten mit der Frage, ob er versuchen könne, mit ihnen die Prinzipien und Vorgehensweisen der systemischen Familientherapie auf die Organisationsberatung zu übertragen. Fritz Simon bat mich, mit ihm gemeinsam ein Seminar durchzuführen. Diese Veranstaltung war eine der Keimzellen, wenn nicht die Geburtsstätte der systemischen Organisationsberatung.
Acht Jahre später – 1994 – fragten die beiden Organisationsberater Thomas Siefer und Michael Wingenfeld dann Bert Hellinger, ob er in einem Seminar ausprobieren wolle, die Grundlagen und das Vorgehen aus den von ihm entwickelten Familienaufstellungen auf Beziehungen in Arbeits- und Organisationskontexten anzuwenden. Bert Hellinger bat Brigitte Gross und mich dazuzukommen, weil er damals noch wenig Erfahrung in der Bearbeitung von Themen aus der Welt der Organisationen bzw. Unternehmen hatte.
Ich war einigermaßen skeptisch: Gibt es nicht zu große Unterschiede zwischen Organisationen und Familien, was die Formen der Emergenz betrifft? Wie würde das hier mit der repräsentierenden Wahrnehmung funktionieren? – Auf überzeugende Art und Weise wurde ich eines Besseren belehrt: Ich stellte dort in Kufstein meine damalige Arbeitssituation auf. Ich war am Heidelberger Institut für systemische Therapie und Beratung (IGST) tätig. Ohne auf die Details der Aufstellung einzugehen, möchte ich die entscheidende Intervention von Bert Hellinger beschreiben. Er nahm zu einem bestimmten Zeitpunkt der Aufstellung meinen Stellvertreter aus dem Beziehungsgefüge des Instituts heraus, stellte ihn ans Fenster mit Blick nach draußen und bemerkte: »Man könnte ja auch noch woanders arbeiten.« Die Miene des Stellvertreters veränderte sich unmittelbar; sein Gesicht hellte sich auf und er atmete tief durch: »Hier ist Leichtigkeit, hier ist Freiheit und Kreativität. Hier ist neue Energie!«, sagte er und schien dabei große Erleichterung zu verspüren. Darauf bemerkte Bert Hellinger in seiner unverwechselbaren Art »Hier lass ich‘s!« und beendete die Aufstellung. Ich war beeindruckt. Zum einen widerspiegelte die Aufstellung tatsächlich vieles, was sich damals im Institut abspielte. Zum anderen gab es mir den Impuls, das Institut – das ich mit aufgebaut hatte, dem ich lange vorstand und das mir viel ermöglicht hatte – zu verlassen und in Wiesloch ein neues Institut zu gründen. Und dort waren wir auch kreativ und es fühlte sich leicht an.
Am Schluss des Seminars sagte Bert Hellinger zu mir: »Organisationsaufstellung ist für mich nicht so von Interesse – entwickle du das weiter.« Dieser »Auftrag« kam mir nicht sehr gelegen, hatte ich doch eigene Pläne. Doch im Verlaufe meiner weiteren Tätigkeit machte ich vermehrt Aufstellungen zu Themen aus dem Arbeits- und Organisationskontext. Ich begann mich zunehmend mit der Frage zu beschäftigen, welche Dynamiken in Organisationen als sozialen Systeme wirksam sind und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegen. Das Ergebnis war faszinierend. Und weil die Organisationsaufstellung rasch Interesse hervorrief, entschloss ich mich, 1998 in Wiesloch eine erste Tagung dazu durchzuführen. Auch schrieb ich einen Artikel, der eine gute Resonanz fand, und gab dann im Jahr 2000 das Buch »Praxis der Organisationsaufstellungen« heraus. Bis heute hat mich das Thema nicht losgelassen und die Organisationsaufstellung ist ein fester Bestandteil meiner Arbeit geblieben.
CLAUDE ROSSELET Mich interessiert, wie du zu den Ordnungsprinzipien – Klarheit hinsichtlich Zugehörigkeit, Vorrang des Ranghöheren, Vorrang des Dienstälteren, Vorrang des besonderen Einsatz Leistenden und Vorrang des wichtigeren Leistungsträgers – gekommen bist. Hast du diese direkt aus der Familienaufstellung abgeleitet oder haben sie sich in der Arbeit– durch Experimentieren – selbst herausgeschält? Ein wichtiges Element in Organisationsaufstellungen ist ja neben den involvierten Akteuren die Aufgabe als konstituierendes Moment, das du oft mit aufstellst.
GUNTHARD WEBER Ausgangspunkt waren die in der Familienaufstellung relevanten Ordnungsprinzipien. Meine Fragen lauteten: Gelten ähnliche Prinzipien in Organisationen? Gibt es eine entsprechende Platzierung der Stellvertreter im Raum? Was entspricht in Organisationen eventuell dem Vorrang der Eltern vor den Kindern? Das testete ich aus und schaute auf die Wirkung. Über Versuch und Irrtum kam ich zu den von dir angeführten Prinzipien und der entsprechenden Platzierung der Stellvertreter für die Leitung, die Mitarbeitenden und die Aufgabe im Raum. Wichtig war mir auch der Kontakt zu den Stellvertretern, die ich nach einer Umstellung immer fragte: »Ist es da besser oder schlechter? Gibt es einen Impuls zur Veränderung?« Dabei stellte sich heraus, dass es Konstellationen gab, die sich leicht und richtig anfühlten.
Ein weiteres Thema war jenes der Zugehörigkeit. Zur Familie gehört man durch Geburt. Diese Bande lässt sich nicht auflösen. Das gilt hinsichtlich der Organisation nicht: Zu ihr gehört man aufgrund eines freien Entscheides. Dieser kann jederzeit rückgängig gemacht werden. Ich beobachtete aber, dass die Länge der Zugehörigkeit zu einer Organisation Wirkung zeigt: Dienstältere Mitarbeiter wollen entsprechend geachtet werden. Ich sah auch die Folgen für das ganze System, wenn jüngere Mitarbeitende sich einen zentralen Platz anmaßten. Und ich entdeckte, dass der besondere Einsatz für die Organisation anerkannt und gewürdigt werden wollte. Ja, und dann ist immer eine (gemeinsame) Aufgabe zu bewältigen. Ihr – und vor allem der Ausrichtung auf sie – kommt in Organisationen eine zentrale Bedeutung zu. Organisationen werden kreiert, um spezifische Aufgaben zu erfüllen. Zu oft konzentriert man sich auf die Gestaltung der Beziehung zueinander und vergisst, dass die gemeinsame Aufgabe im Zentrum stehen sollte. Ist die Aufgabe im Blick, dann kommt es zur Fokussierung und zur Konzentration.
CLAUDE ROSSELET Mit Blick auf deine langjährige Erfahrung würde mich noch Folgendes interessieren: Was haben die Klienten gesucht, wenn sie bei dir eine Organisationsaufstellung machen wollten?
GUNTHARD WEBER Das variiert sehr – eher weniger Antworten auf Fragen des Managements, sondern Anliegen wie »Wie komme ich in der Organisation in meine Kraft?«, »Ich plane, ein Unternehmen oder Institut zu gründen, und möchte das mal aufstellen«, »Soll ich bleiben oder gehen?«, »Wie kann ich Konflikte mit Kollegen lösen?«, »Ich hätte gern Unterstützung bei einer Entscheidungsfindung.« Viel habe ich zu Themen in Familienunternehmen aufgestellt. Dabei kam mir zugute, dass ich mich sowohl in Familiendynamiken als auch in Organisationsdynamiken gut auskenne. So konnte ich beide Seiten in den Blick nehmen. Denn zwischen den beiden Systemen gibt es ja immer Kontextvermischungen, Interferenzen und Überschneidungen. Natürlich kamen auch Manager zu mir mit Fragen wie: »Welche Auswirkungen könnte die geplante Umgestaltung der Holdinggesellschaft haben? Was wäre möglich? Worauf sollte man besser verzichten?«
Schon recht früh entwickelte ich die Überzeugung, dass die Aufstellungsarbeit zu Organisationsdynamiken eher in die Hand von Organisationsberatern gehört. So gab ich den Anstoß zur Gründung der »Ostergruppe«, aus der im Jahr 2004 das »Internationale Forum für Systemaufstellungen in Arbeits- und Organisationskontexten« (Infosyon) hervorging. Darin haben sich vor allem Coachs und Organisations- bzw. Unternehmensberater zusammengeschlossen.
CLAUDE ROSSELET Dort stellte sich von Beginn an die Frage: Wie lässt sich die Aufstellungsarbeit – außer im Einzelsetting und im Standardsetting des offenen Seminars – auch organisationsintern im Rahmen von Workshops mit Teams einsetzen? Damit taten sich viele Berater schwer. Ich erinnere mich an folgende Äußerung eines sehr erfahrenen Organisationsberaters: »Ganz selbstverständlich wende ich die Aufstellungsarbeit im Rahmen meiner Coaching-Sitzungen – also im Einzelsetting – an. Doch es fällt mir nicht leicht, in einem Strategie Workshop beispielsweise meinen Kunden eine Organisationsaufstellung vorzuschlagen.«
GUNTHARD WEBER Wären Aufstellungen im Kontext der Organisationsberatung entstanden, so wäre dies möglicherweise anders gewesen. Aufstellungsarbeit wurde oft belächelt und die Menschen, die sie anboten, nicht ganz ernst genommen. Diese Vorstellungen haben dann wohl auch, wie eine Art Schere im Kopf, Berater daran gehindert, Aufstellungen ganz selbstverständlich im Workshopsetting anzubieten. Die Fälle allerdings, die mir bekannt sind, verliefen oft erfolgreich und die Manager waren überzeugt von der Effektivität und Effizienz des Verfahrens.
CLAUDE ROSSELET Manager mit Erfahrung in der Organisationsaufstellung zeigen...