1 Perspektiven der Paarbeziehung
Vor gar nicht allzu langer Zeit war das Leben jedes Menschen an die Familie gebunden. Familienzugehörigkeit und Familiengründung waren die wesentlichen Merkmale für ein geglücktes Leben. Die Funktion des Psaares bestand darin, Kinder zu bekommen und eine neue Familie zu gründen. Oft bedeutete dies, sich von beiden Herkunftsfamilien abzulösen und eine Kleinfamilie zu gründen oder, was wahrscheinlicher war, sich in eine der beiden Herkunftsfamilien einzufügen. Durch Krieg, Krankheit, Tod im Wochenbett und andere Schicksalsschläge war diese Einfügung in eine der Ursprungsfamilien selten komplett. Auch wenn die Paarbeziehung sich nicht als sehr glücklich erwies, ergaben sich oftmals Räume persönlicher Beziehungsgestaltung. Der Beziehungsgestaltung des Einzelnen waren dadurch Grenzen gesetzt, dass sich das Leben in der Familie und im Rahmen der Fortpflanzungsaufgabe vollzog. Die Notwendigkeit zu individueller Beziehungsgestaltung, die in der Regel dann auftrat, wenn man plötzlich allein dastand, wurde eher als Schicksalsschlag denn als Befreiung erlebt. Wenn ein Paar keine Kinder bekommen konnte, war dies eine Tragödie. Gerne nahmen solche Paare Kinder aus größeren Familien mit ökonomischen Schwierigkeiten an. Oder sie waren als Onkel und Tanten sehr aktiv und unterstützten die kinderreiche Verwandtschaft auch ökonomisch. Der kollektiven Vorstellung nach war ein glückliches Leben nur im Familienverband möglich. Die Bezeichnungen Jungfer oder Junggeselle, auf Personen ab einem bestimmten Alter angewandt, haben heute noch eine negative Bedeutung. Wir ziehen jetzt die Bezeichnung Alleinstehende oder Alleinstehender vor.
Heutzutage herrschen in der westlichen Kultur andere Vorstellungen davon, wie ein geglücktes Leben aussieht: »Wir dürfen uns etwas wünschen, sei wer du bist, verwirkliche dich selbst, folge deinen Träumen.« »Selbstverwirklichung« war ein Schlagwort in den 70er-Jahren, doch als Ziel individuellen Lebens blieb sie in unserer Zeit verbindlich. Auch Paarbeziehung kann heute nur innerhalb dieser neuen Vorstellungen gedacht und gelebt werden. Die Paarbeziehung ist einer von mehreren Aspekten des Lebens geworden, der zur individuellen Selbstverwirklichung beitragen soll. Auch wenn diese Veränderungen durch einen jahrhundertelangen Prozess vorbereitet wurden, entstand Paarberatung, gemeinsam mit dem endgültigen Siegeszug der Selbstverwirklichung, in den 70er-Jahren. In dieser Zeit, nach den ersten dramatischen Scheidungserfahrungen, versuchten zunächst Sozialarbeiter, Pfarrer und andere öffentliche Instanzen durch Zureden auf die Einsicht der Betroffenen zu setzen. Ein klassischer, an den Ehemann gerichteter Satz eines »Paartherapeuten« konnte lauten: »Sie müssen einsehen, dass Ihre Frau auch ihren Freiraum braucht, darum müssen Sie Ihr Verhalten verändern.« In dieser Zeit begann sich auch die Psychologie mit dem Thema Paar zu beschäftigen, und in den 80er-Jahren versuchten Psychoanalytiker und Systemiker im Anschluss daran Pathologien der Paarbeziehungen (Willi 1975; Walsh 1994 usw.) zu beschreiben, die aber in den darauffolgenden Jahrzehnten wenig rezipiert wurden, da sie in der Regel vom Blick auf das Paar wegführten und die Pathologie weiterhin im einzelnen Partner suchten.
Erwartungen an die Paarbeziehung
Entsprechend der neuen Funktion des Paares, ein Vehikel zur Selbstverwirklichung zu sein, entstanden neue Erwartungen an die Paarbeziehung. Heute werden eine Reihe solcher Erwartungen von einer breiten Mehrheit in der westlichen Welt als legitim angesehen. Interessanterweise ist dabei zu beobachten, dass diese kaum geklärt bzw. besprochen werden und dass sie oft oder gar meistens nicht erfüllt sind. In 40 Jahren Paarbeziehung als Mittel zur Selbstverwirklichung ergriff bisher nur die katholische Kirche die Initiative, ehewilligen Paaren einige Informationen über ihr Vorhaben mitzugeben. Da Paarbeziehungen in ihrer heutigen Form aber vorwiegend weltliche Funktionen haben, wäre hierfür eher die Schule der richtige Ort. Offensichtlich ist die Paarbeziehung seit der Veränderung ihrer Funktion nicht mehr Teil der zivilgesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Sie ist Privatsache! Auch der faktisch enorme Ressourcenaufwand, den die Gerichte und zuständigen Dienste für die Regelung von strittigen Scheidungen nach wie vor leisten müssen, hat diese Sicht nicht geändert.
Ganz oben auf der Liste der Erwartungen der Partner steht die exklusive Wertschätzung. Die offene Gesellschaft, in der es keine festen Plätze für den Einzelnen mehr gibt, stellt jeden vor die Aufgabe, sich um einen Platz und um Anerkennung zu bemühen. Auch besteht ständig das Risiko, den einmal eingenommenen Platz zu verlieren. Wir entdecken, dass wir für die offene Gesellschaft den Preis bezahlen, unser Leben lang unseren Wert beweisen und unseren Platz verteidigen zu müssen. Das bedeutet, dass unter den Bedürfnissen, die wir an eine Paarbeziehung herantragen, sehr oft das nach einem »sicheren Ort« und danach, in unserer Einzigartigkeit wertgeschätzt zu werden, zu finden sind. Letzteres ist eine Folge der Selbstverwirklichung als Lebensziel. Eine Paarbeziehung kann in diese recht anstrengende Lebensaufgabe etwas Ruhe bringen. Gelingt es, vom anderen eine exklusive Wertschätzung zu bekommen, so kann man gelassener in die anderen Lebensbereiche gehen. Das klarste Zeichen für die Anerkennung dieser Einzigartigkeit ist die sexuelle Treue. Auch wenn sie nicht genügt.
Im Alltag zeigt sich das Bedürfnis nach Wertschätzung oft durch Rechthaberei. Jeder von uns kann bei einer ehrlichen Reflexion feststellen, dass sich die Situationen im Leben, in denen es wichtig war, recht zu haben, an einer Hand abzählen lassen oder höchstens an zweien. Wie oft verfällt man stattdessen gegenüber dem Partner in Rechthaberei? Tausende von Malen. Die Differenz ergibt sich daraus, dass es bei Rechthaberei nicht um die Sache geht, sondern um das Bedürfnis, vom anderen endlich zu hören: Du hast recht, du bist intelligent, ich schätze und bewundere dich. Leider ist Rechthaberei der beste Weg, genau diese Antwort nicht zu erhalten, sondern im Gegenteil vom anderen sogar für dumm erklärt zu werden.
Eine zweite wichtige Erwartung ist eine gewisse »sexuelle Harmonie«. Ich nenne es an dieser Stelle nicht Begehren, weil die einen gerade im Begehren etwas Bedrohliches sehen, während es für die anderen eine Form der Wertschätzung ist. Oftmals ist Begehren sowohl bedrohlich als auch reizvoll. Die Erwartung der sexuellen Harmonie wird als legitim empfunden, denn sowohl wenn »gar nichts geht« als auch wenn der eine den anderen sexuell »überfordert«, kann dies als Grund angesehen werden, dass das Paar nicht zusammenpasst. Die mit Sexualität verbundenen inneren Bilder, die wir im Laufe unserer Biografie konstruiert haben, und die Vorstellungen der Öffentlichkeit und der Fachleute von »Normalität« hemmen die Einzelnen, ihre eigenen Wünsche zu formulieren oder auch nur wahrzunehmen. Diese Wünsche sind schambehaftet und weichen in der Regel von den vom Einzelnen wahrgenommenen Normalitätsvorstellungen ab. So liegt wilder Sex, mit der Einbeziehung aller Körperöffnungen, gleichermaßen außerhalb dessen, was als normal gilt, wie die Vorstellung, dass ein glückliches Paar auch fünf Jahre ohne Sex verbringen kann. Ist ein Mann, der zugibt, dass es ihm nichts ausmacht, wenn seine Frau und er seit mehreren Jahren keinen Sex haben, überhaupt noch ein Mann? Ist eine Frau, die bestimmte Praktiken zulässt, zu freizügig? Dennoch sind beide Phänomene weitverbreitet. Sexualität ist ein Bereich immenser Missverständnisse. Über Sexualität sprechen fällt schwer. Nicht nur weil sie schambesetzt ist, sondern auch, weil jedes Wort schwer wiegt. Jedes Wort bedroht die eigene geschlechtliche Identität. Wenn man anfängt, darüber zu reden, endet es oft in einer endlosen Richtigstellung falsch verstandener Worte.
Beim Heranwachsen in der Herkunftsfamilie gibt es viele Enttäuschungen, Schmerzen und Kränkungen. Es gibt Wünsche und Fähigkeiten in uns, die dort keinen Platz gefunden haben oder zu kurz gekommen sind. Wir haben einzelne oder eine Reihe von Situationen erlebt, die uns beschämt, bedrückt oder Angst gemacht haben. Für diese alten, nie verheilten Wunden wünschen wir uns vom Partner Linderung. Gleichzeitig gibt es Dinge, die uns in unserer Ursprungsfamilie glücklich gemacht haben, die uns geholfen haben und gut waren. Diese würden wir in der Paarbeziehung gerne wiederfinden. Die Hoffnung auf das Gute und der Wunsch nach Vermeidung sind legitim und können kaum kritisiert werden. Doch führen diese Hoffnung und dieser Wunsch oftmals zu der unrealistischen Haltung, den anderen für die eigenen Emotionen verantwortlich zu machen. Zweifellos findet in einer Paarbeziehung eine gegenseitige emotionale Unterstützung statt. Auch verleihen gerade erst die Beziehungen den Dingen Bedeutung und durch Beziehung lernen wir den Umgang mit Emotionen. Trotzdem bleibt jeder hauptverantwortlich für die eigenen Gefühle und ist für sich als Erster gefordert, einen Weg zu suchen, der Linderung verschaffen kann.
Bei all den Erwartungen geht es weniger um die Frage ihrer Legitimität, also um die Frage, ob sie grundsätzlich berechtigt sind, sondern vielmehr darum, in welchem Maß sie bestehen und mit wie viel Nachdruck sie eingefordert werden. Es handelt sich in der Regel um unbewusste Erwartungen, über die man weder mit dem Partner noch mit Freunden gut »rational« reden kann.
Der lange Weg dahin, sich selbst über die eigenen Erwartungen klar zu werden, kann damit beginnen, dass es Situationen gibt, in denen es gelingt, Gedanken und Empfindungen nebeneinanderzustellen,...