A Der Hochsitz
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I Der Hochsitz in der germanischen Überlieferung
Der Begriff „Hochsitz“ ist die altnordische Bezeichnung für den Thron einer Gottheit, einer Seherin, eines Magiers oder eines Fürsten.
Die „Seelenweg-Säulen“ sind ein Teil des symbolischen Jenseits-Tores, das aus diesen beiden Säulen und einem Querbalken besteht.
Der Hochsitz steht oft vor diesen beiden Seelenweg-Säulen.
I 1. Wortschatz
I 1. a) „öndvegi“
Der Hochsitz wurde meistens „öndvegi“ genannt. Das Wort „önd“ geht auf das germanische „and“ zurück, das „entgegen, gegenüber“ bedeutet und mit dem deutschen „anders“ und dem lateinischen „ante, anti“ verwandt ist. Daher wird in der Regel für den Hochsitz die wörtliche Übersetzung „Platz gegenüber dem Eingang“ angegeben.
Der Begriff „öndvegi“ kann jedoch auch noch auf mehrere andere Weisen gedeutet werden, da „önd“ auch die Bedeutung „Vorderes“, „Vorhaus“, „Gang“, „Ente“ sowie „Atem“ und „Seele“ haben kann und „vegi“ entweder ein „Weg“, die „Ehre“ oder ein „Hebel“ ist. Es ergeben sich somit die folgenden 18 Kombinationsmöglichkeiten:
Vorder-Weg Vorder-Ehre Vorder-Hebel | Gang-Weg Gang-Ehre Gang-Hebel | Atem-Weg Atem-Ehre Atem-Hebel |
Vorhaus-Weg Vorhaus-Ehre Vorhaus-Hebel | Enten-Weg Enten-Ehre Enten-Hebel | Seelen-Weg Seelen-Ehre Seelen- Hebel |
Von diesen Möglichkeiten ergeben die Kombinationen mit dem Wort „Hebel“ als Bezeichnung des Hochsitzes offenbar wenig Sinn, sodaß noch 12 Möglichkeiten bleiben. Auch die vier Kombinationen „Gang-Weg“, „Gang-Ehre“, „Vorhaus-Weg“ und „Vorhaus-Ehre“ kann man als die ursprüngliche Bedeutung von „öndvegi“ ausschließen, da kein Zusammenhang mit dem Hochsitz erkennbar ist.
Es bleiben somit noch acht Möglichkeiten übrig:
Vorder-Weg Vorder-Ehre | Enten-Weg Enten-Ehre | Atem-Weg Atem-Ehre | Seelen-Weg Seelen-Ehre |
Der „Vorder-Weg“ könnte der „vordere Platz“, d.h. der „erste Platz“ sein, was als Bezeichnung für einen Thron schlüssig wäre.
Die „Vorder-Ehre“ ist als Bezeichnung eines Platzes nicht allzu plausibel, auch wenn der Sitzplatz gemeint ist, mit dem die größte Ehre verbunden ist.
Die Ente ergäbe in diesem Zusammenhang nur einen Sinn, wenn sie bei den Germanen der typische Seelenvogel gewesen wäre (was jedoch der Schwan gewesen ist), da der Hochsitz dann der „Ort, zu dem die Seelenvögel der Ahnen kommen“ sein könnte. Es heißt jedoch „Enten-Weg“ und „Enten-Ehre“ und nicht „Schwanen-Weg“ oder „Schwanen-Ehre“, sodaß man diese beiden Möglichkeiten einigermaßen sicher ausschließen kann.
Somit bleiben noch die vier Möglichkeiten „Atem-Weg“, „Atem-Ehre“, „Seelen-Weg“ und „Seelen-Ehre“.
Der Atem, das Leben und die Seele sind im Germanischen eng miteinander verbunden – wer atmet, lebt und es ist eine Seele im Körper. Dieser naheliegende Zusammenhang findet sich auch in sehr vielen anderen Kulturen – in der Bibel werden z.B. alle drei als „ruach“ bezeichnet.
Ein großer Teil der spirituellen und magischen Dinge und Tätigkeiten wurde im Germanischen daher durch das Wort „and“ für „Atem, Leben, Seele“ umschrieben. „Öndvegi“ könnte daher auch „Weg des Atems, des Lebens und der Seele“ bedeuten, was diesen Sitzplatz als mit den Göttern und den Ahnen verbunden kennzeichnen würde, was ausgesprochen gut zu dem Sitz der Seherinnen und Seher passen würde, die von diesem Stuhl aus eine Verbindung zum Jenseits haben.
Es bleiben nun die drei Deutungen „Platz gegenüber dem Eingang“, „Platz, der die größte Ehre verleiht“ und „Weg der Seelen“ übrig. Die letzte dieser Deutungen trifft die praktische Bedeutung des Hochsitzes am besten und hat auch den Vorteil, daß man das Wort „veg“, das „Weg“ bedeutet, nicht zu „Sitzplatz“ umdeuten muß.
Die Übersetzung von „öndvegi“ mit „Seelen-Weg“ ist somit die wahrscheinlichste.
Für diese Deutung spricht schließlich noch, daß auch der Begriff „öndvegis-säti“, also „öndvegi-Sitz“ bekannt ist, der nur dann einen Sinn ergibt, wenn „vegi“ nicht ebenfalls „Sitz“ bedeutet, da sich sonst ein „önd-Sitz-Sitz“ ergäbe. Die Übersetzung „Sitz vor dem Seelenweg“ für „öndvegis-säti“ ist hingegen sehr schlüssig.
Möglicherweise ist die Ente einst ebenfalls als Seelenvogel aufgefaßt worden, auch wenn ansonsten der Schwan diese Rolle innehat. In dem Wort „öndvegis“ wäre „Önd“ dann sowohl die abstrakt aufgefaßte „Seele“ als auch der konkrete Seelenvogel in der Gestalt einer „Ente“.
I 1. b) Zusammensetzungen mit „öndvegi“
Es gibt vier Fachbegriffe, die mit „öndvegi“ zusammengesetzt worden sind:
öndvegis-madr | = Mann auf dem Hochsitz |
öndvegis-höldr | = Mann auf dem Hochsitz |
konungs öndvegi | = Königs-Hochsitz |
öndvegis-sula | = Hochsitz-Pfosten, Hochsitz-Säulen |
Ein wichtiges Element des Hochsitzes war der Pfosten oder die beiden Säulen, die ein Teil des Hochsitzes waren oder hinter ihm stand.
Diese einzelne Säule ist vermutlich mit dem Weltenbaum identisch gewesen, der der Weg zwischen den beiden Welten (Diesseits und Jenseits) ist. Es wäre daher denkbar, daß der Hochsitz seinen Namen „Weg der Seelen“ von dieser Säule übernommen hat, die der Weg der Seelen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ist.
Das Paar von Säulen bildet mit dem Querbalken über ihm ein Tor, das in das Jenseits führt – die Symbolik ist dieselbe: entweder der Weg in das Jenseits oder das Tor zum Jenseits.
Die Seherinnen setzten sich vermutlich vor diese eine Säule bzw. vor diese beiden Säulen, um den Kontakt zu den Göttern und Ahnen im Jenseits zu erhalten.
I 1. c) weitere Begriffe
Eine am konkreten Aussehen des „Thrones“ orientierte Bezeichnung des Hochsitzes ist „ha-stoll“, was „hoher Stuhl“ bedeutet.
ha-seti | = Hochsitz, Ehrenplatz |
hasetis-madr | = Mann auf dem Hochsitz/Ehrenplatz |
Dieser Platz wurde auch „Stuhl des Weisen“ genannt, womit offenbar der Sitz eines Sehers gemeint ist. Der bekannteste dieser Seher-Hochsitze ist Odins „Hlidskjalf“, was „Tor auf der Insel“ bedeutet und diesen Sitz als das Jenseitstor auf der Jenseitsinsel „Walaskialf“ („Toteninsel“) bezeichnet, was genau zu der Bezeichnung der beiden Säulen hinter diesem Sitz als „Weg der Seelen“ paßt.
thular-stoll | = „Stuhl des Weisen“ |
hlid-skjalf | = „Tür-Insel“ = Jenseitstor auf der Jenseitsinsel = Odins Sehersitz |
Die Inthronisierung eines Fürsten bestand im Wesentlichen darin, daß er sich auf den Hochsitz seines Vaters setzte. Bevor er dies tat, trank er den Erinnerungs-Met für seinen Vater, was der Rest eines Rituales sein könnte, durch den er um den Segen seines Vaters bat, d.h. bei dem er wie beim Utiseta (siehe „Utiseta“ in Band 50) in das Jenseits reiste, um dort von seinem Vater Rat und Hilfe zu erhalten.
Dieses Ritual wäre dann eine der wesentlichen Anwendungen dieses „Sitzes des Weisen“ vor den beiden „Seelenweg-Säulen“ in der Halle der König, Fürsten, Jarle und wohl auch der einfachen Bauern.
Die erste Handlung des Thronfolgers ist es, den Kontakt zu seinem toten Vater mithilfe des „Seelenweges“ aufzunehmen, sodaß der Thronfolger anschließend mit Berechtigung auf dem „Seelenweg-Sitz“ Platz nehmen kann, da er tatsächlich mithilfe des „Seelenweges“ den Kontakt zu seinem toten Vater im Jenseits aufgenommen hat und daher nun mit dem Rat und Schutz seines Vaters versehen von dem „Seelenweg-Sitz“ aus über...