2. Auf der Suche nach Utopia – die Rolle der Medien in der Energiewende
Matthias Vollbracht
„Energie“ und „Wende“ sind im deutschen Sprachgebrauch durchweg positiv belegt: Ohne Energie herrscht Stillstand, Kälte, Kraftlosigkeit, eine Wende signalisiert die Möglichkeit zur Umkehr in einer Sackgasse, Abschied von einem falschen Weg. Warum ist dann die sogenannte „Energiewende“ in Deutschland jedenfalls im Bild der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung so negativ belegt?
Der vorliegende Beitrag geht zunächst der Frage nach, welche Rolle die Medien in einer offenen Gesellschaft wie Deutschland spielen und wie sich Medienbilder der Realität konstituieren. Der zweite Abschnitt widmet sich der Beschreibung von Themen und Akteuren, über die die deutschen Medien (und ausgewählte internationale Titel) in den vergangenen Jahren berichtet haben, wenn es um Energie, Energieversorgung und Energiepolitik ging. Dabei wird erkennbar, welche große Rolle die Medien spielen und welche Auswirkungen Verzerrungen in den Darstellungen haben können. Der letzte Abschnitt widmet sich der Frage, wo mögliche Auswege und Alternativen zum Status Quo der Berichterstattung liegen.
Welche Rolle spielen die Medien in der Gesellschaft?
In einer Mediengesellschaft speist sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Bürger aus zwei Quellen: Medien und Eigenerfahrung (vergleiche zum Beispiel Brettschneider 2002). Zur Eigenerfahrung wird hier auch die persönliche Erfahrung von Vertrauenspersonen gerechnet, die von den Bürgern wie direkte Eigenwahrnehmung empfunden wird. Diese Eigenerfahrung kann man vereinfacht als Realität bezeichnen. Hinzu kommen auch Beschreibungen der Realität in Form von Daten und Zahlen, anhand derer sich ein Bürger informieren kann. Zu nennen wären hier beispielsweise die Angaben des Statistischen Bundesamtes.
Daneben gibt es das Bild der Realität, welches von den Medien vermittelt wird. Diese Medienrealität setzt sich aus den Aspekten der Realität zusammen, die die Medien aufgreifen und auf ihren Kanälen zum Bürger transportieren. Aufgrund zahlreicher Faktoren kann dies lediglich ein Ausschnitt der Realität sein. Das fängt mit dem begrenzten Raum (z. B. Zeitung/Zeitschrift, Länge einer TV-Sendung) an, den Zugangsmöglichkeiten von Journalisten zur Realität (z. B. in anderen Regionen und Ländern, in Krisengebieten), den Kosten für die Berichterstattung, der Beherrschung von Sprache und Kultur etc. Hinzu kommen noch Faktoren, die mehr mit den Auswahlkriterien selbst zu tun haben und die in der Journalistenausbildung vermittelt werden und somit eine gewisse Allgemeingültigkeit im Rahmen des Berufsstandes erlangen, zum Beispiel „nahe“ versus „ferne“ Ereignisse, Prominenz, Negativität (vergleiche zum Beispiel La Roche 2006). Laut Eigenangaben der Tagesschau (im Jahr 1993 bei einem Redaktionsbesuch) sichtet die Nachrichtenredaktion jeden Tag rund 4.000 Nachrichten von Nachrichtenagenturen und Korrespondenten. Nach Messungen von Media Tenor werden im Durchschnitt in einer Sendung um 20 Uhr 19,8 Nachrichten in den 15 Minuten präsentiert. 3.800 Nachrichten, vereinfacht gesagt, beschreiben auch Dinge, die in der Realität geschehen sind, kommen aber nicht auf den Schirm. Und die weitaus größte Zahl der Ereignisse, die sich täglich ereignen, schafft es nicht unter die 4.000 gesichteten Nachrichten. Damit wird bereits deutlich, dass das Bild der Realität in den TV-Medien (die gleichen Beschränkungen gelten prinzipiell auch für alle anderen Medien) nur ein kleiner Ausschnitt ist.
Die Wirksamkeit der Medien ergibt sich aus der Kombination von begrenzter Aufmerksamkeit der Rezipienten und der Vorauswahl im Nachrichtenangebot. Die Medienwirkungsforschung der letzten 100 Jahre hat sich zwischen den beiden Extremen totaler Beeinflussung (Propaganda) und Wirkungslosigkeit bewegt. Eine stärker empirisch gestützte Forschung in den 60er Jahren am Beispiel von Wahlkämpfen hat zur Formulierung der Agenda-Setting-Hypothese geführt: die primäre Wirksamkeit der Medien besteht demzufolge in der Strukturierung von Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen, weniger in der unmittelbaren Beeinflussung von Einstellungen. Die sogenannte „Chapel-Hill-Studie“ (McCombs et al. 1972) zeigte eine außergewöhnlich starke Korrelation zwischen der Berichterstattung über wichtige Themen und der Meinung der Bürger, welches die wichtigsten Themen sind. In den folgenden Jahren hat sich eine Vielzahl von Studien mit dem Ausbau und der Verfeinerung dieser These befasst, zum Beispiel, dass Leit-Journalisten/Leit-Medien die Themen/Aufmerksamkeit für andere Medien vorstrukturieren (Inter-Media-Agenda Setting, z. B. Golan 2006), wodurch bestimmten Medien eine besondere Rolle zukommt. Daneben kann noch die Rolle politischer Agenda-Setter untersucht werden: Hier geht man der Frage nach, wie aus dem Zusammenspiel von einflussreichen Akteuren und Medien Aufmerksamkeit von anderen Akteuren strukturiert wird.
Themen setzen und Perspektiven bestimmen
Abb. 1: Die Agenda-Setting-Funktion der Medien (Quelle: Brettschneider 2002)
Es wird bereits deutlich, dass das Medienbild der Realität nicht als Spiegel derselben zu verstehen ist, sondern eher ein Bild oder eine Komposition, die nach bestimmten Regeln zusammengestellt wird. Um die Rolle der Medien in der Energiewende zu verstehen, gilt es, diese Zusammenhänge im Hinterkopf zu behalten. Ein weiteres wichtiges Phänomen ist, dass die Medien die gleiche Realität aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen können. Zum Beispiel zeichnen deutsche Medien ein bestimmtes Bild von Deutschland oder ausländischen Volkswirtschaften. Im Gegenzug zeichnen auch ausländische Medien ein bestimmtes Bild von Deutschland oder anderen Ländern, die aus ihrem Blickwinkel Ausland sind. Der Blick aus dieser Warte kann zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. In einer Studie über einen Zeitraum von 2001 bis 2003 zeigt das Bild der führenden US-Medien und der wichtigsten Fernsehnachrichten dort eine relativ ausgewogene Beurteilung der Zustände, Chancen und Risiken in der Welt im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage und die Lage der Branchen und Unternehmen. Lediglich Lateinamerika fällt aus dem Raster, wie die Bewertungen verdeutlichen. Zur gleichen Zeit zeichneten die meinungsführenden Medien in Deutschland ein wesentlich stärker risikobehaftetes Bild der Welt. Die unbestreitbar vorhandene globale Vernetzung der Medien führt nicht notwendigerweise zu einer homogenen Sichtweise auf die Dinge. Hier gibt es unterschiedliche Deutungen und Theorien, zum Beispiel Asymmetrie in den Nachrichten als Ausfluss einer Warnfunktion (Soroka 2006), aber auch Negativismus als Nachrichtenideologie (Kepplinger et al. 1991).
Nationale Klischees prägen die Wahrnehmung
Abb. 2: Ton der Berichterstattung über Unternehmen und Branchen mit Blick auf verschiedene Länder in deutschen und US-Medien, 2001–2003 (Media Tenor International, 2003)
Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für die Beurteilung der Lage oder der Perspektiven von Unternehmen oder Volkswirtschaften, sondern auch im Hinblick auf die Bewertung der Chancen und Risiken von Technologien. Ein weiteres Phänomen der Medienberichterstattung ist die Auswahl von Sichtweisen auf ein und dasselbe Thema. Es liegt in der Natur der Sache, dass viele Journalisten keine Gelegenheit haben, sich tiefen Sachverstand über komplexe Themen anzueignen. Wenn sie über Themen berichten, geschieht das häufig, indem als wichtig angesehene Personen oder Institutionen mit ihren Meinungen zitiert werden. Die Auswahl der zitierten Stimmen gibt der Berichterstattung in der Regel eine bestimmte Richtung, was nicht grundsätzlich verwerflich ist. Es ist allerdings erstaunlich, dass ausgewiesene Experten zu bestimmten Themen in wichtigen öffentlichen Diskursen eher sporadisch ein Thema prägen. Beim Thema „Staatshaushalt / Staatsverschuldung“ beispielsweise kommen in mehr als 36 Prozent aller untersuchten Beiträge überwiegend Politiker, Gewerkschafter oder andere Dritte vor. Der Anteil der Wissenschaftler beträgt lediglich 1,1 Prozent. Beim Thema „Arbeitsmarkt“ beträgt der Anteil der wissenschaftlichen Experten, die vorrangig das Bild in einem Artikel prägen, 1,6 Prozent.
99,7 % der Firmen bekommen 5 % der Aufmerksamkeit
Abb. 3: Berichterstattung über Unternehmen nach Betriebsgrößen. Basis: Betriebsgrößen: Institut für Mittelstandsforschung; Media Tenor International, 80.289 Beiträge über Unternehmen in TV-Nachrichten, Bild, Spiegel, Focus
Im Hinblick auf das Bild von Unternehmen gibt es eine gewisse Verzerrung: In Deutschland sind 99,7 Prozent aller Unternehmen kleine und mittlere Unternehmen. Nur 0,3 Prozent der Unternehmen sind Großunternehmen. In den tonangebenden überregionalen Medien erhalten diese 0,3 Prozent aber 95 Prozent der Aufmerksamkeit.
Der hier geschilderte Sachverhalt ist nicht nur von akademischem Interesse. Die...