2. DER EXISTENTIALISMUS JEAN-PAUL SARTRES
Nachdem Jean-Paul Sartre 1934 seinen Studienaufenthalt in Berlin beendet hatte und seinem Beruf als Gymnasiallehrer wieder nachkam, wandte er sich in den folgenden Jahren verstärkt jener phänomenologischen Methode zu, erweiterte den Begriff des Phänomens, wie Heidegger ihn gebraucht hatte und begründete damit seinen Existentialismus. Im Sep-tember 1939 wurde er dann zur Armee eingezogen, geriet aber schon bald – nämlich 1940 – in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Über dreihundert Jahre nach Descartes fand wieder ein französischer Denker in einem Winterlager auf deutschem Boden Zeit und Muße, - jedoch unter weit weniger angeneh-men Umständen wie dieser damals – nachzudenken und die Philosophie noch einmal völ-lig neu zu begründen. Denn eines war ja selbst den Phänomenologen nicht gelungen, näm-lich den Beweis zu erbringen dafür, dass es außer dem eigenen Bewusstsein noch anderes, also fremdes Bewusstsein oder den Anderen geben musste. Seine philosophischen Gedan-ken erschienen 1943 in seinem ersten philosophischen Hauptwerk „L’Etre et le Néant“ – „Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie“.
Auf den achthundert Seiten dieses Werkes stellt Sartre erstmals seine Philosophie voll-ständig dar. Natürlich wird es mir im folgenden nicht möglich sein, den Inhalt dieser Abhandlung auf ein paar Seiten aufs genaueste wiederzugeben. Dennoch will ich versuchen, die Grundgedanken des Existentialismus – auch anhand einiger Beispiele – zu beleuchten.
Ausgangspunkt dieser philosophischen Theorie ist jener berühmt gewordene Satz: Die Existenz geht dem Wesen voraus. Was ist damit gemeint? Wenn wir mit Hilfe der Phäno-menologie so tun, als ob uns die Phänomene der uns umgebenden primären Wirklichkeit zum allerersten Male begegnen würden (und genau darin liegt die Schwierigkeit dieser Me-thode), so erscheint uns das bloße Vorhandensein der Dinge, also die Gegenständlichkeit von Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen, ja selbst der des eigenen Körpers, als rein zufällig. (Sartre, 1981) Darin kommt jene Erweiterung des Heideggerschen Phänomenbe-griffs zum Vorschein, die ich zuvor kurz angedeutet habe. Sartre lässt damit das Sein alles Seienden vollständig in seiner Erscheinung, also dem Phänomen aufgehen.
Wenn wir z.B. einen Stein betrachten – wohlgemerkt: immer so, als würden wir dies zum allerersten Mal tun – so gibt es dabei absolut keinen Hinweis auf ein Wesen, welches gleichsam hinter diesem Stein ihm zugrunde liegen würde. Der Stein ist bloße Existenz als Stein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich nur um die Erscheinung eines Steins handeln könne, welche auf ein dahinter sich befindendes Sein eines Dinges an sich verwei-sen würde. Es weist nichts darauf hin, dass es sich bei dem vor mir liegenden Stein nur um eine Erscheinung handeln könne, quasi die Erscheinung einer geistigen Idee eines Steines, die Rückschlüsse zulassen würde auf so etwas wie das Wesen des Steins an sich; oder auch, dass dieser Stein nur ein Abbild sein könnte von einem absoluten Stein. Ein solches Wesen des Steins gibt es nicht.
Damit hob Sartre das Hauptproblem der klassischen Metaphysik auf, nämlich den Dua-lismus von „Ding an sich“ (oder auch: Wesen, Essenz) und Erscheinung dieser Essenz oder dieses Wesens im Gegenstand. Dieser Stein ist ein Gegenstand, ein Objekt; und sein Sein ist ein Sein-an-sich (être en soi). Er wird immer Stein bleiben, sich niemals von sich aus in etwas anderes Verwandeln, also etwa Holz oder Wasser. Und sein bloßes Vorhan-densein, seine Existenz hat keinen Sinn, keine Notwendigkeit, wirkt rein zufällig und letztendlich überflüssig.
Wir alle kennen vermutlich das, was passiert, wenn wir irgendeinen Begriff, also z.B. „Stein“ für einige Minuten laut vor uns hin murmeln, ihn immer wieder wiederholen. So-wohl der Begriff selbst, wie auch der Gegenstand, welchen dieser Begriff bezeichnet, verliert für uns vollkommen an Bedeutung, existiert nur noch als anscheinend zufällig zusammengewürfelte Buchstabenkombination. Alles, was bleibt, ist das Vorhandensein oder die reine Existenz dieses Dinges. Besonders deutlich wird diese Erfahrung im Zen-Buddhismus, wo das stundenlange Meditieren über einen einzigen Begriff eine der Grund-übungen darstellt.
Und ebenso, wie es sich mit jenem Stein verhält, verhält es sich auch mit allen anderen Dingen, die uns umgeben. Auch, wenn es sich dabei um meinen Hund, meinen Nachbarn oder meinen eigenen Körper handelt. Alles ist sinnlos und zufällig. Sartre drückt diese Er-fahrung auf sehr drastische Weise in seinem ersten Roman, „Der Ekel“, der 1938 erschien, aus.
Der Mensch jedoch muss aufgrund seiner Verzeitlichung mit den Dingen um sich herum etwas „anfangen“. Er kann gar nicht anders, selbst wenn er einer derjenigen sein sollte, von denen man sagt, „der kann mit sich uns deiner Welt nichts anfangen“, so bleibt er dennoch einer, der aktiv nichts damit anfängt. Daraus ergibt sich folgendes: Erst der Mensch ist es, der den Dingen um sich herum ein Wesen verleiht, ihnen – volkstümlicher ausgedrückt – einen Sinn gibt; und dieses Wesen, dieser Sinn, den er den Dingen verleiht, verweist immer auf ihn zurück – auf ihn als ein Subjekt und damit Zentrum seiner Anschauungswelt.
Dies mag sich vielleicht etwas kompliziert anhören oder schwer verständlich erscheinen. Dieser Prozess, in dem der Mensch dem Sein-an-sich (être en soi) der Dinge ein Wesen verleiht, hat keinen zeitlich genau definierten Anfangspunkt, einfach, weil es auch keinen zeitlich genau definierten Anfangspunkt gibt, an welchem das Leben eines Menschen beginnt (in der Diskussion um die Abtreibung kommt dies ja sehr gut zum Vorschein).
Um dies zu verdeutlichen, nehmen wir als Beispiel etwa ein kleines Kind, dem wir einen bestimmten Gegenstand – vielleicht einen Bal – zum allerersten Male reichen. Der Ball ist für das Kind zuerst einmal nicht Ball, sondern bloß irgendein Gegenstand. Nehmen wir nun weiter an, das Kind rollt ihn auf dem Boden herum oder tippt ihn einige Male darauf auf. Dadurch gewinnt dieser Gegenstand durch das Tun des Kindes an Bedeutung für es. Diese Bedeutung mag vielleicht lauten: Ein Ding, mit dem sich spielen lässt oder: Ein Ding, mit dem sich Spaß haben lässt. Freilich wird das Kind das nicht sprachlich formulieren, denn seine Reflexionsfähigkeit, die ja sehr eng zusammenhängt mit der Verbalisierung, hat sich noch nicht entwickelt. Erst wenn wir auf den Gegenstand zeigen, dem Kind einige Male sagen, „das ist ein Ball“, wird es vielleicht beim nächsten Mal, wenn es diesen Gegen-stand erblickt, darauf zeigen und „Ball“ sagen. Diese vier Buchstaben werden erst dann auf reflexiver Ebene mit dem Gegenstand verbunden, der somit seinen Namen erhält. Beim Spiel selber jedoch ist das Kind ganz Bewusstsein vom Ball, oder – wie man sagt – es geht in seinem Spiel auf.
Ähnlich verhält es sich bei unserem oben genannten Scheckkartenbeispiel. Von dem Mo-ment an, in der mir die Idee kommt, die Scheckkarte als Ding zum Öffnen meines Tür-schlosses benutzen zu können, ist mein Bewusstsein erfüllt von dieser Scheckkarte, d.h. ich bin ganz Bewusstsein dieser Scheckkarte als Ding zum Türschlossöffnen (und im Moment eben nicht als Ding zum Geldabheben). Damit habe ich dieser Scheckkarte ein ganz bestimmtes Wesen verliehen, welches auf mich als Subjekt zurückweist. Die Scheckkarte an sich (en soi) besitzt kein Wesen. Sie ist nur bloße Existenz. Erst durch mich erhält sie ihr Wesen, d.h. durch meine Fähigkeit, die Dinge meiner Anschauungswelt auf mich hin be-ziehen zu können. Nur mein Bewusstsein kann dies oder – besser ausgedrückt -: Das Be-wusstsein ist diese Fähigkeit. Sartre drückt das folgendermaßen aus: „Das Bewusstsein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, insofern dieses Sein ein Sein in sich einbezieht, das ein anderes als es selbst ist.“ (SuN, S. 29 im Original gesperrt) Das Beispiel mit der geschlossenen Wohnungstüre und der Scheckkarte macht dies deutlich. Ich will in meine Wohnung gelangen; d.h. es geht mir in diesem Plan um mich selbst, um mein Sein als jemand, der sich in seiner Wohnung befindet; und bei diesem Plan beziehe ich die Objekte meiner Umgebung mit ein – die Objekte, die ja nur ein Sein-an-sich (être en soi) besitzen. Das An-sich-Sein dieses Dinges, welches wir Scheckkarte nennen, be-kommt für mich durch mein Handeln oder Tun, oder dadurch, dass ich Bewusstsein von ihm werde, einen ganz bestimmten Sinn, ja es existiert für mich in diesem Moment sogar nur als dieser Sinn. Ich nehme es nicht zuerst als Ding-zum-Geldabheben und dann als Ding-zum-Türschlossöffnen wahr, nein – ich nehme es sofort als Ding-zum-Türschloss-öffnen wahr und bin damit ganz Bewusstsein von ihm als ein solches Ding.
Das Bewusstsein existiert also dadurch, dass es nicht anders kann, als die Dinge seines Anschauungsraumes auf sich hin zu beziehen, als ein Sein-für-sich (être pour soi). Jenes Pour-Soi ist dadurch bestimmt, dass es sich zu sich selbst verhalten und sich transzen-dieren kann, welches sich aber ebenso auf...