3 Über „Kinder- und Hausmärchen“
3.1 Das Volksmärchen
„Zum Begriff des Volksmärchens gehört, daß es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist.“[29] Die kurze Prosaerzählung aus freier Erfindung berichtet von phantastischen, wunderbaren Begebenheiten ohne zeitliche und räumliche Festlegung der Wirklichkeit. Das echte Volksmärchen, dem kein bestimmter Urheber zugeordnet werden kann, ist aus Erzählungen des Volkes hervorgegangen. In Deutschland wird mit dem Begriff Märchen in erster Linie die Volksmärchensammlung ?Kinder- und Hausmärchen? (1812) der Brüder Grimm assoziiert, in der nur ein Teil der damaligen Märchen aufgezeichnet werden konnte.
Bevor die Volksmärchen von Sammlern fixiert und redigiert wurden, war die mündliche Weitergabe für lange Zeit die ausschließliche. „[...] Volksmärchen von der Art, wie die Brüder Grimm und ihre Nachfahren sie aufgezeichnet haben“ sind „jahrhundertelang in Europa umgelaufen, von Mund zu Mund weitergegeben“[30] worden.
Die Volksmärchen leben heutzutage zur Freude der Kinder weiter. Diese Prosaerzählungen besitzen klare Strukturen, sind leicht verständlich und haben einen bildhaft anschaulichen Stil. Sie sind aber gar nicht „[…] so einfache und eindeutige Geschichten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag“[31].
Aufgrund der mündlichen Erzähltradition besitzt das Volksmärchen keine konstante Form. Es tritt in zahlreichen und unterschiedlichen Varianten auf. Die Grundstruktur der Erzählung, Thema und Ablauf der Handlung werden in ihren charakteristischen Zügen beibehalten. Der Literaturwissenschaftler Max Lüthi nennt deswegen ein weiteres Charakteristikum des Märchens, nämlich: „Die Darstellung- und Erzählweise namentlich des europäischen Volksmärchens tendiert zur Linie“[32]. Es wird nur das Wichtigste in einer Geschichte optisch bildhaft geschildert, wobei ablenkende Beschreibungen ausgeblendet werden. Bei dem Volksmärchen besteht die Vorliebe für den einfachen Umriss und eine zielgerichtete Handlungslinie. Der Bau der Erzählung ist durch Festigkeit, Klarheit und Exaktheit charakterisiert. Es gibt keine Tiefengliederung, keine ausführliche Vorstellung der Personen und deren Umwelt. Das Märchen überzeugt durch eine klare Handlungsstruktur, die für ein leichtes Verständnis sorgt.
Die Figuren, die Orte, die Tiere, die Gegenstände, einfach alles in einem Volksmärchen ist verbindungslos dargestellt. Die Märchenhelden gehen immer alleine ihre Wege. „Sie sind weder an ihre Umwelt noch an ihre Vergangenheit noch an irgendwelche Seelentiefen oder seelischen Deformationen gebunden, sie sind von all diesem abgeschirmt, isoliert.“[33] Durch diese Isolation wird gerade möglich, alles mit allem zu verknüpfen, ohne dass sich der Märchenleser darüber wundern müsste. In der Erzählung werden nur bestimmte Momente und Personen dargestellt, die Bezug zum Geschehen haben. Die Märchenfiguren sind reine Handlungsträger, die ein klares Ziel verfolgen. „Der Stil des Märchens isoliert und verbindet, der Held des Märchens ist der Isolierte und eben deshalb universal Beziehungsfähige, potentiell Allverbundene.“[34]
Die Volksmärchen sind so abstrakt formuliert, dass die ganze Geschichte aus mehreren aneinandergereihten selbstständigen Gliedern besteht. Es gibt keine Gleichzeitigkeit und keinen Rückbezug auf frühere Episoden.
Man findet auch den so genannten Dreierrhythmus als beherrschendes Element in vielen Volksmärchen. Die Zahlen werden als Symbole mit einer magischen Bedeutung dargestellt, die den Märchenhelden Glück oder Pech bringen. „Die Dreizahl betrifft nicht nur Figuren und Requisiten: drei Drachen, drei Brüder, drei Prinzessinnen, drei Zaubermittel, sondern auch die Episoden.“[35] Die dreifache Wiederholung von Szenen und Sprüchen erleichtert die Merkfähigkeit einzelner Handlungsabläufe und Textpassagen.
Eine weitere Besonderheit der Gestaltung des Märchens, vor allem des Volksmärchens, ist seine Formelhaftigkeit. Es beginnt häufig mit bestimmten Eingangsformeln wie „Es war einmal […]“[36]. Diese drei Worte schaffen Einstieg in die Geschichte und zeigen deutlich, dass es keine feste Zeit und keinen festen Raum in der Handlung gibt. Der Schluss wird oft mit „[…] und wenn sie nicht gestorben sind leben sie noch heute“[37]formuliert. Diese typische Schlussformel impliziert, dass in der fiktiven Phantasiewelt des Märchens die Helden und Heldinnen für ihre guten Taten mit dauerhaftem Glück belohnt werden. Das Volksmärchen nimmt die Perspektive des Erfolg- und Glücklosen ein, der nach den ihm verwehrten Dingen strebt und diese schließlich am Ende der Geschichte auch erreicht.
Erst mit der Sammlung ?Kinder- und Hausmärchen? setzte die wissenschaftliche Erforschung des Märchens ein. Die Art, wie hier die Volkserzählungen aufgenommen und mitgeteilt wurden, hat nicht nur die Märchenforschung, sondern auch die Volkskunde als Wissenschaft begründet.
Volksmärchen in diesem Sinn sind individuell bearbeitete Erzählungen mit überkommenen Inhalten, Motiven und Symbolen, die in einfacher Sprache und nicht komplexer Struktur die soziale Wirklichkeit des Mangels durch die wunderbare Funktion der Glückserfüllung poetisch ausgleichen.[38]
3.2 Die Märchensammlung der Brüder Grimm
„Der Begriff Märchen ist in seiner heutigen Verwendung tatsächlich durch die Brüder Grimm konzipiert worden.“[39] Die fantastischen Prosaerzählungen wurden von Mund zu Mund und von Generation zu Generation weitergegeben. Sie entstanden in Zeiten, in denen sich die Menschen mit Singen, Spielen und dem Erzählen frei erfundener Geschichten unterhielten.
Die Sprachwissenschaftler Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) waren fasziniert von diesen Zeugnissen der Volksliteratur. Sie zeichneten die Märchen in mühevoller Kleinarbeit auf und „[…] künstlerisch stilisiert“[40]. Im Jahre 1812 wurde der erste Band der Sammlung ?Kinder- und Hausmärchen? veröffentlicht. Ende Dezember 1814 erschien der zweite Band der Märchen.
Die Grimms haben die überlieferten Bestände zu einer eigenständigen Kunstform gefügt, indem sie vor allem den poetischen und fiktiven Charakter des Erzählten hervorhoben und so nach romantischem Dichtungsverständnis das Mögliche als notwendiges Korrektiv des Wirklichen bewußtmachten.[41]
Nach den Brüdern Grimm beinhaltet der Begriff ?Volksmärchen? die so genannten Tiermärchen, Schwänke und die eigentlichen Volksmärchen, die weiter in legendenartige Märchen, Zaubermärchen und Feenmärchen unterteilt werden.
Von den 211 Grimmschen ›Kinder- und Hausmärchen‹ der Ausgabe letzter Hand von 1857 sind nur etwa 60 dargestellt genuine Zaubermärchen, weil nur in ihnen typische und gattungskonstituierende Wunder vorkommen.[42]
Die Zaubermärchen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, gehören zu den bekanntesten und den beliebtesten, da sie auf sehr interessante Weise zauberisch Irreales mit Realem verbinden und von Wundern mit Selbstverständlichkeit erzählen. In der Märchensammlung findet man auch eine große Anzahl Legenden, Schwänke wie auch Fabeln. ?Der Wolf und der Fuchs?, ?Der Hase und der Igel?, ?Der Wolf und der Mensch?, sind nur einige der bekanntesten Tiergeschichten. „Mehrere von ihnen stehen im Buch auch dicht beieinander, was auf ihre Zusammengehörigkeit hinweist und sie dadurch auch als besondere Gattung kennzeichnet.“[43]
Der Titel der Sammlung ?Kinder- und Hausmärchen? spielt eine sehr wichtige Rolle. Schon darin kommt zum Ausdruck, dass diese Geschichten an alle Hausgenossen, sowohl an die Erwachsenen als auch an die Kinder, gerichtet werden. Die Grimms betonten so den erbaulichen Charakter der Märchen und erklärten dazu: „Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt“[44].
Die ?Kinder- und Hausmärchen? stellen die klassische Märchensammlung der Weltliteratur dar, sie zeichnen sich vor allem durch Reichtum an Erzählstoffen aus vielen Ländern und Epochen aus.
Grimms Märchen repräsentieren […] die höchst divergierenden Intentionen zweier nachschaffender Sammler und Bearbeiter und etwa 40 verschiedener Beiträger, 30 unterschiedlicher gedruckter oder handschriftlicher Quellen aus sechs Jahrhunderten und fast allen deutschen Sprachgebieten.[45]
...