DER BAUM
Batula ist die ältere Schwester von Sadiya. Die Einundvierzigjährige hat acht Kinder. Eine kraftvolle Frau mit offenem Blick. Sie sucht den Augenkontakt, im Unterschied zu ihrer Schwester. Sie will, dass ich sie verstehe, spricht schnell, hastig. Batula ist mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Rabi gekommen. An ihrer Brust säugt Batula einen zwei Wochen alten Jungen. Sie war bereits schwanger, als sie von Boko Haram entführt wurde. Wir treffen uns mit ihr in einer Art Gartenhaus auf der Kuppe eines Hügels in Yola. Das Gelände, auf dem das kleine Holzhaus liegt, wird von mehreren Wachleuten gesichert. Die Wände des Hauses sind nach allen Seiten offen, es ist angenehm kühl im Innern. Ein sanfter Wind geht durch den Raum. Von draußen dringt leise Musik aus einem Radio herein. Wir hören das Gackern umherwandernder Hühner. Zwei Geckos, ein großer und ein kleiner, der eine mit roten Füßen, der andere mit gelben, huschen ruckartig über die Wände. Manchmal taucht einer von ihnen neben mir auf, ganz nah, ganz plötzlich, erschrocken springe ich von meinem Platz auf. Dann lachen die Frauen. Ich liebe die Geckos: für dieses Lachen.
Batulas Mann bewirtschaftete bis zum Boko-Haram-Überfall eine Plantage und beschäftigte mehrere Feldarbeiter. Batula verkaufte rote Bohnen, Reis und Mais auf dem Markt. Sie lebte in Gubla, einem Zehntausend-Einwohner-Dorf an der Nationalstraße A 13. Batulas Mann ist bis heute verschollen, genau wie ihre älteste Tochter. Siebzehn Menschen aus ihrer Familie sind bisher ums Leben gekommen, getötet von Boko Haram oder dem Militär. Rabi ist eine ganz Zarte. Wenn sie während der Gespräche nicht schläft, sitzt sie auf einer Bastmatte auf dem Boden und starrt vor sich hin.
Batula lebte neun Monate lang im Lager »Tor 1«, wenige Bäume von ihrer Schwester Sadiya entfernt. Rabi wurde von ihrer Mutter getrennt im Lager »Tor 2« gefangen gehalten, wo sie Talatu in der Koranschule sah, aber nicht mit ihr reden durfte.
BATULA Ich will euch nicht langweilen. Sagt es mir, wenn ich euch langweile, denn an meiner Geschichte ist nichts Besonderes. Ich bin in Gubla geboren. Meine Eltern waren Bauern und haben am Fluss Zuckerrohr angebaut. Mein Vater gehörte noch dem alten Glauben an. Er stammte aus dem Dorf Sukur in den Bergen. Er hatte eine schwere Kindheit. Seine Mutter starb, da war er neun Jahre alt. Als mein Großvater wieder heiratete, wurde mein Vater von der neuen Frau verjagt. Er bettelte sich durchs Dorf. Dann hat ihn eine Familie der Fulani-Nomaden aufgenommen. Viele Jahre zog er mit ihnen durchs Land. Sie waren Muslime, deshalb wurde auch er Moslem. Als junger Mann hatte er genug von all dem Zauber und den Ritualen gehabt, bei denen man nackt tanzen musste. Er war der Einzige in seiner Familie, der zum Islam konvertierte. Alle anderen in unserer Familie wurden Christen. Die Leute hatten erst kurz zuvor damit begonnen, unten im Tal zu siedeln. Deshalb musste mein Vater erst einmal Land urbar machen. Er war einer der Ersten, die in dieser Gegend von Gubla bauten. Jetzt ist dieses Land Teil der Stadt geworden, mit vielen Häusern und Läden. Bevor die Boko-Haram-Krise begann, war der Wert der Grundstücke stark gestiegen.
Meine Mutter und er hatten fünf Kinder zusammen, dann ließen sie sich scheiden. Wir blieben in Vaters Haus, denn die Kinder gehören bei uns immer zum Vater. Er heiratete eine Neue. In unserem Stamm haben es Stiefkinder schwer. Die neuen Frauen mögen sie nicht. So haben wir Kinder getrennt vom Rest der Familie gekocht. Unser Vater hat uns nur heimlich Salz gegeben, weil die Schwiegermutter sonst mit ihm gestritten hätte. Und er wollte keinen Streit, keine weitere Scheidung. Die Stiefmutter hatte die totale Kontrolle im Haus. Unsere Mutter war mit Sadiya zu ihrer Familie nach Duhu gezogen. Von allen Kindern hat sie nur meine Schwester Sadiya mitgenommen, weil sie noch sehr klein war. Mein Vater ließ sich von unserer Mutter scheiden, weil sie ihm nur Mädchen gebar. Seine Freunde sagten ihm: »Lass dich scheiden. Wenn du stirbst und du hinterlässt nur Mädchen, zerfällt alles, was du in deinem Leben aufgebaut hast.«
Also verließ er unsere Mutter, und die Neue gebar ihm dann neun Mädchen! Du kannst Gott nicht zwingen! —
Sie lacht, schüttelt den Kopf, lacht, trocknet sich die Tränen.
BATULA Als ich so alt war wie meine älteste Tochter heute, die ist siebzehn, heiratete ich einen Freund meines Halbruders. Ich mochte ihn. Er arbeitete hart, er konnte uns ernähren. Ich mochte auch die Art, wie er sich bewegte, wie er lief. Seine Bewegungen hatten immer etwas Tänzelndes.
Mein Mann arbeitete als Händler. Er kaufte bei den Bauern in Gubla Bohnen und verkaufte sie dann in Maiduguri. Er handelte mit fünf verschiedenen Bohnensorten. Das lief einige Jahre gut, doch dann ging alles schief. Vor vier Jahren kaufte einer seiner Kunden aus dem Süden, der sonst immer in bar bezahlt hatte, Bohnen für hundertfünfzig Dollar auf Pump – und verschwand. Mein Mann suchte überall nach ihm, fand ihn aber nicht. Wenig später wurde er auf der Straße von Madagali nach Gubla ausgeraubt. Er saß im Sammeltaxi, die Räuber hatten sich als Passagiere ausgegeben. Sie stahlen ihm 800 000 Naira (etwa 3600 Euro). Er gab auf, hatte dazu keine Nerven mehr. Er lieh sich von Freunden 250 000 Naira, kaufte Saatgut und Werkzeuge. Er wurde Bauer. Er heuerte bis zu fünfzehn Arbeiter aus den Bergen von Sukur an, die sind billig, denen zahlst du 10 000 Naira (etwa 50 Euro) im Jahr und versorgst sie mit kostenlosem Essen. Dafür schuften sie dann ohne Pause. Er arbeitete weit draußen vor dem Dorf auf den Feldern. Er arbeitete hart, und bald war er in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen. Er lebte im Busch, ich im Dorf. Ich sah ihn nur wenige Tage im Monat.
Ich glaube, er liebt mich. Er hat in all den Jahren nie eine andere Frau nach Hause gebracht. Ich verkaufte auf dem Markt, was ich angebaut hatte. Bohnen, Reis, Mais. Wir hatten genügend Geld. Wir hatten ein gutes Leben. —
Gubla ist einer der letzten größeren Orte vor dem Sambisa-Wald. So war es auch eines der ersten Dörfer, die von Boko Haram attackiert wurden. Die Kämpfer konnten blitzschnell zuschlagen und sich dann rasch wieder in den Wald zurückziehen. Das Zweitausend-Seelen-Dorf ist in sich gespalten. Angehörige unterschiedlicher Stämme sind aus dem Umland hierhergezogen, Christen wie Muslime. Offenbar fand Boko Haram in diesem Umfeld sehr früh Unterstützer. Die, die das Dorf von außen angriffen, kamen in Wahrheit von innen.
In dieser Gegend gibt es zwei Welten: die des Tals und die der Berge. Wie fast alle Siedlungen im Tal wurde Gubla erst im Lauf der britischen Kolonialherrschaft gegründet. Davor lebten die meisten Menschen in den Bergen. Sie hatten sich dort regelrecht verschanzt, seit Jahrhunderten, denn in den Ebenen war das Leben zu riskant. Alle paar Jahre zogen Sklavenjäger aus dem Norden durch die Gegend. Männer aus den großen Reichen der Kanuri und Fulani. Der Sklavenhandel war bis ins späte 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Einnahmequellen. Nur ein kleiner Anteil der gefangenen Menschen wurde nach Amerika verschifft, die große Mehrheit blieb in Westafrika und diente den städtischen Eliten der alten Reiche. Ihr Wohlstand war auf Sklaverei gegründet.
Die Menschenjagden haben die Kultur der Region tief geprägt. Seither ritzen sich Männer und Frauen Linien in die Gesichter, damit man auch im Fall einer Verschleppung noch erkennen kann, zu welchem Stamm sie gehören. Die Deutschen, die von ihrer Kolonie in Kamerun aus Teile dieser Gegend verwalteten, versuchten vergeblich, die Hetzjagden zu unterbinden. Erst den Briten, die das Territorium nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen, gelang das in den zwanziger Jahren. Etliche Generationen dauerte es dann noch, bis sich die Menschen aus den Bergen trauten, in den fruchtbaren Tälern zu siedeln.
RABI Ich gehe bei uns in Gubla in die fünfte Klasse. Ich bin die Zweitbeste. Ich mag die Schule nicht so sehr. Unsere Schule ist nicht besonders gut. Ich mag unseren Englischlehrer, weil der immer pünktlich kommt. Die meisten kommen zu spät oder sie kommen gar nicht. Meine Schule ist gleich neben unserem Haus. Das ist praktisch, weil ich so nie zu spät komme. Ich bin mit sechsunddreißig Kindern in einer Klasse. Unser Klassenzimmer hat vier Fenster, aber keine Scheiben darin. Doch das macht nichts, bei Regen rücken wir mit den Bänken einfach weiter in den Raum. In der Pause machen wir Seilhüpfen. Wir spielen mit leeren Milchdosen, an die wir Pappräder genagelt haben. Wir stellen uns dann vor, die Dosen seien Autos. Wir lassen sie über den Schulhof rasen. Meine Freundinnen heißen Bilkis, Baby und Biya. Wir essen zusammen, spielen zusammen, wir holen gemeinsam Wasser. Wir vier machen fast alles zusammen. Ich vermisse sie sehr. —
BATULA Ich bin froh, dass Rabi die Schule besucht. Ich möchte nicht, dass es meinen Kindern so geht wie mir. Mein Vater hat uns nichts Gutes getan, indem er uns verbot, in die Schule zu gehen. Wenn ich zur Schule gegangen wäre, wäre mein Leben jetzt besser. Ich würde als Lehrerin arbeiten oder als Krankenschwester. Ich bin nicht dümmer als die, aber ich kann nicht schreiben und nur ein wenig lesen. Ich habe neun Kinder zur Welt gebracht, vier Söhne, fünf Töchter, davon ist eine Tochter noch im Wald. Sie ist...