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Die Gesellschaft der Singularitäten

Zum Strukturwandel der Moderne

AutorAndreas Reckwitz
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783518754283
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR

Das Besondere ist Trumpf, das Einzigartige wird prämiert, eher reizlos ist das Allgemeine und Standardisierte. Der Durchschnittsmensch mit seinem Durchschnittsleben steht unter Konformitätsverdacht. Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen und kuratierter Biografie, aber auch die unverwechselbaren Güter und Events, Communities und Städte. Spätmoderne Gesellschaften feiern das Singuläre.

In seinem preisgekrönten soziologischen Bestseller untersucht Andreas Reckwitz den Prozess der Singularisierung, wie er sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Ökonomie, Arbeitswelt, digitaler Technologie, Lebensstilen und Politik abspielt. Mit dem Anspruch einer Theorie der Moderne zeigt er, wie eng dieser Prozess mit der Kulturalisierung des Sozialen verwoben ist, welch widersprüchliche Dynamik er aufweist und worin seine Kehrseite besteht. Die Gesellschaft der Singularitäten kennt nämlich nicht nur strahlende Sieger. Sie produziert auch ihre ganz eigenen Ungleichheiten, Paradoxien und Verlierer. Eines der meistdiskutierten Bücher der letzten Jahre.



Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles. Sein Buch <em>Die Gesellschaft der Singularitäten</em> wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Sachbuchpreises der Leipziger Buchmesse. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Leseprobe

I.
Die Moderne zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen


In der Moderne konkurrieren eine soziale Logik des Allgemeinen und eine soziale Logik des Besonderen miteinander. Von dieser Grundannahme geht dieses Buch aus. Die Logik des Allgemeinen ist mit dem gesellschaftlichen Prozess der formalen Rationalisierung verknüpft, die Logik der Singularitäten mit einem Prozess der Kulturalisierung. Während in der klassischen, vor allem der industriellen Moderne, Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung Antipoden zur Herrschaft des Allgemeinen darstellten und dieser zugleich strukturell untergeordnet waren, werden sie in der Spätmoderne leitend und strukturbildend für die ganze Gesellschaft. Zugleich ändert die Rationalisierung ihre Form und verwandelt sich zu großen Teilen in eine Hintergrundstruktur für Singularisierungsprozesse. Um diese These zu plausibilisieren, sind einige Begriffsklärungen und historische Schematisierungen nötig. Ich umreiße in diesem Kapitel zunächst die soziale Logik des Allgemeinen in der klassischen Moderne und ihre Praxis formaler Rationalisierung (1). In Absetzung dazu werden der Begriff der Singularitäten, die Merkmale einer sozialen Logik des Besonderen und ihrer Praktiken entwickelt (2). Anschließend geht es um den Zusammenhang von Singularisierung und Kulturalisierung sowie die Neufassung eines starken Kulturbegriffs, in dessen Zentrum die Frage nach dem »Wert« und Prozesse der Valorisierung stehen (3). Vor diesem Hintergrund und bezogen auf die historisch-gesellschaftliche Entwicklung von den vormodernen Gesellschaften bis zur Spätmoderne, lassen sich dann Phasen der Transformation der Kultursphäre schematisch herausarbeiten, in denen sich die gesellschaftliche Relation zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen verändert (4).28

1. Die soziale Logik des Allgemeinen


Das doing generality der Moderne


Was ist die Moderne? Was sind die zentralen Merkmale der modernen Gesellschaft in ihrer klassischen Gestalt? Aus meiner Sicht ist die Antwort eindeutig: Der strukturelle Kern der klassischen Moderne, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunächst in Westeuropa ausgebildet hat, ist zunächst eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt. Die Moderne formatiert die Welt der bis dahin traditionalen Gesellschaften grundlegend um, sie prägt ihr in ihren Praktiken, Diskursen und institutionellen Komplexen durchgängig und immer wieder aufs Neue Formen des Allgemeinen auf. Als großflächige Praxis betreibt sie ein, wie ich es nennen möchte, umfassendes doing generality der Welt.

Ein solches Verständnis der klassischen Moderne kann an eine bestimmte soziologische Theorie der Moderne anknüpfen und sie zugleich auf eine abstraktere Ebene heben: Die Moderne ist zunächst als ein Prozess der formalen Rationalisierung zu verstehen. Formale Rationalisierung heißt: Die Moderne transformiert die Gesellschaft so, dass sich jenseits der traditionalen Gepflogenheiten großflächige Komplexe von berechenbaren Regeln bilden, denen technisch oder normativ regulierte Handlungsweisen folgen. Die formale Rationalisierung lässt sich vom Telos der Optimierung leiten, deren Fluchtpunkte eine effiziente Bearbeitung der Natur und eine transparente Ordnung des Sozialen sind. Dieses Verständnis der Moderne als elementarer Rationalisierungsprozess versteht sich nicht von selbst. Wenn man den soziologischen Diskurs nach den zentralen Merkmalen der klassischen Moderne befragt, erhält man vielmehr höchst unterschiedliche Antworten. Häufig – vor allem in der deutschen Soziologie – wird die Moderne mit einem Prozess funktionaler Differenzierung gleichgesetzt. Charakteristisch ist demnach eine Ausdifferenzierung spezialisierter, funktionaler Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Erziehung etc.), die jeweils ihrer eigenen, selbstgesetzten Logik und Struktur folgen. Niklas Luhmann hat diesen Ansatz am systematischsten ausgearbeitet, die Grundideen reichen jedoch bis zu den Theorien der Arbeitsteilung zurück. Auf die internationale Diskussion bezogen, ist allerdings eine zweite Interpretation der Moderne einflussreicher. 29Diese geht auf Karl Marx zurück und begreift den Kapitalismus als Zentralorgan der Moderne in Form einer ökonomisch-technologischen Formation, die auf ununterbrochene Kapitalakkumulation ausgerichtet ist und gewaltige Reichtümer ebenso hervorbringt wie deren klassenförmig höchst ungleiche Verteilung. Es steht außer Frage, dass es beiden Ansätzen gelingt, jeweils wichtige Merkmale der Moderne zu erfassen. Aber sie sind beide noch nicht grundsätzlich genug angelegt. Aus meiner Sicht wird die Struktur der Moderne erst vollständig deutlich, wenn man am Prozess formaler Rationalisierung ansetzt,1 wie es am deutlichsten Max Weber getan hat.2 Und wie es in je eigener Weise darüber hinaus so unterschiedliche Autoren wie Georg Simmel, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Hans Blumenberg, schließlich auch Michel Foucault oder Zygmunt Bauman angedeutet haben.3

Das Verständnis der Moderne als Rationalisierungsprozess kann und muss jedoch noch abstrakter und grundsätzlicher gefasst werden, als es bislang üblich war. Hinter der Rationalisierung verbirgt sich nämlich ebenjene soziale Logik des Allgemeinen: Indem moderne Praktiken die soziale Welt rationalisieren, versuchen sie, ihr allgemeine Formen aufzupressen und sie in die Richtung allgemeiner Formen zu gestalten. Praxeologisch gesehen, umfasst eine solche soziale Logik des Allgemeinen mit ihrer »Allgemeinisierung«, ihrem doing generality, vier miteinander verbundene Komplexe sozialer Praktiken, die zueinander in einem empirisch offenen Verhältnis stehen: Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung. Wenn das Soziale einer Rationalisierung und Verallgemeinerung ausgesetzt wird, sind immer diese vier Komplexe von Praktiken am Werk.30

Dabei richten sich Praktiken der Beobachtung von Welt (in der Wissenschaft, der Ökonomie, dem Staat etc.) nun eindeutig und einseitig am Allgemeinen aus, das heißt, es werden Systeme allgemeiner Begriffe und Schemata entwickelt und zur Anwendung gebracht, mit deren Hilfe es möglich sein soll, alle Elemente der Welt (Menschen, Natur, Dinge etc.) als besondere Exemplare allgemeiner Muster zu erfassen, zu messen und zu differenzieren. Im Rahmen von Praktiken der Bewertung (etwa im Recht oder in der Schule) werden nun jene Elemente der Welt, die sich in diese Schemata des Allgemeinen einfügen, eindeutig positiv prämiert, sie erscheinen »richtig« oder »normal«.4 Praktiken der Hervorbringung (etwa in der Industrie oder der Erziehung) sind nun im Kern darauf ausgerichtet, systematisch Elemente der Welt (Dinge, Subjekte, Räumlichkeiten etc.) herzustellen und zu verbreiten, die den Schemata des Allgemeinen entsprechen und im Extrem gar identisch und vollständig gegeneinander austauschbar sind. Und die Praktiken der Aneignung von Welt nehmen nun primär die Form eines sachlichen Umgangs mit Dingen, Subjekten etc. an, die als standardisierte und austauschbare Entitäten begriffen werden, etwa dadurch, dass Objekte als funktionale und nützliche oder Subjekte als Rollen- und Funktionsträger behandelt werden.

Jedoch: Eine komplette Identifikation der Moderne mit der sozialen Logik des Allgemeinen und ihrer formalen Rationalisierung wäre eine Fehlwahrnehmung. Sie würde der Totalisierung des Allgemeinen durch den rationalistischen Diskurs der Moderne (vor allem in der Philosophie und Soziologie) zum Opfer fallen. Hier wird lediglich ein halbiertes Verständnis der Moderne entwickelt. Bereits die klassische Moderne ist nicht vollständig in terms der Logik des Allgemeinen zu verstehen, und die Spätmoderne ist es erst recht nicht. Wir müssen uns aber zunächst mit den Merkmalen der Herrschaft des Allgemeinen in ihrer »künstlich« reinen Form im formalen Rationalismus beschäftigen, um in einem zweiten Schritt die soziale Logik der Singularitäten davon abgrenzen zu können.31

Typisierungen und Rationalisierungen


Es wäre natürlich kurzsichtig zu behaupten, dass historisch gesehen erst mit dem Beginn der gesellschaftlichen Moderne im späten 18. Jahrhundert auch eine soziale Logik des Allgemeinen einsetzte oder dass überhaupt erst seit 250 Jahren Formate formaler Rationalität existierten. Vielmehr gab es beides in bestimmter Hinsicht schon in den vormodernen Gesellschaften, den archaischen (schriftlosen und nomadischen) sowie den traditionalen (hochkulturellen) Gesellschaften. Man muss allerdings zwei unterschiedliche Modi einer sozialen Logik des Allgemeinen unterscheiden: Typisierungen und formale Rationalisierung.

Die Praktiken, aus denen sich die soziale Welt zusammensetzt, beruhen immer schon auf Typisierungen, das heißt darauf, dass die einzelnen Elemente der Welt dadurch verstehbar und handhabbar werden, dass sie als besondere Exemplare allgemeiner Arten oder eben Typen – Menschen, Tiere, Dinge, Götter etc. – einsortiert werden. Wenn es richtig ist, dass die...

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