Das doing generality der Moderne
Was ist die Moderne? Was sind die zentralen Merkmale der modernen Gesellschaft in ihrer klassischen Gestalt? Aus meiner Sicht ist die Antwort eindeutig: Der strukturelle Kern der klassischen Moderne, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunächst in Westeuropa ausgebildet hat, ist zunächst eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt. Die Moderne formatiert die Welt der bis dahin traditionalen Gesellschaften grundlegend um, sie prägt ihr in ihren Praktiken, Diskursen und institutionellen Komplexen durchgängig und immer wieder aufs Neue Formen des Allgemeinen auf. Als großflächige Praxis betreibt sie ein, wie ich es nennen möchte, umfassendes doing generality der Welt.
Ein solches Verständnis der klassischen Moderne kann an eine bestimmte soziologische Theorie der Moderne anknüpfen und sie zugleich auf eine abstraktere Ebene heben: Die Moderne ist zunächst als ein Prozess der formalen Rationalisierung zu verstehen. Formale Rationalisierung heißt: Die Moderne transformiert die Gesellschaft so, dass sich jenseits der traditionalen Gepflogenheiten großflächige Komplexe von berechenbaren Regeln bilden, denen technisch oder normativ regulierte Handlungsweisen folgen. Die formale Rationalisierung lässt sich vom Telos der Optimierung leiten, deren Fluchtpunkte eine effiziente Bearbeitung der Natur und eine transparente Ordnung des Sozialen sind. Dieses Verständnis der Moderne als elementarer Rationalisierungsprozess versteht sich nicht von selbst. Wenn man den soziologischen Diskurs nach den zentralen Merkmalen der klassischen Moderne befragt, erhält man vielmehr höchst unterschiedliche Antworten. Häufig – vor allem in der deutschen Soziologie – wird die Moderne mit einem Prozess funktionaler Differenzierung gleichgesetzt. Charakteristisch ist demnach eine Ausdifferenzierung spezialisierter, funktionaler Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Erziehung etc.), die jeweils ihrer eigenen, selbstgesetzten Logik und Struktur folgen. Niklas Luhmann hat diesen Ansatz am systematischsten ausgearbeitet, die Grundideen reichen jedoch bis zu den Theorien der Arbeitsteilung zurück. Auf die internationale Diskussion bezogen, ist allerdings eine zweite Interpretation der Moderne einflussreicher. 29Diese geht auf Karl Marx zurück und begreift den Kapitalismus als Zentralorgan der Moderne in Form einer ökonomisch-technologischen Formation, die auf ununterbrochene Kapitalakkumulation ausgerichtet ist und gewaltige Reichtümer ebenso hervorbringt wie deren klassenförmig höchst ungleiche Verteilung. Es steht außer Frage, dass es beiden Ansätzen gelingt, jeweils wichtige Merkmale der Moderne zu erfassen. Aber sie sind beide noch nicht grundsätzlich genug angelegt. Aus meiner Sicht wird die Struktur der Moderne erst vollständig deutlich, wenn man am Prozess formaler Rationalisierung ansetzt,1 wie es am deutlichsten Max Weber getan hat.2 Und wie es in je eigener Weise darüber hinaus so unterschiedliche Autoren wie Georg Simmel, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Hans Blumenberg, schließlich auch Michel Foucault oder Zygmunt Bauman angedeutet haben.3
Das Verständnis der Moderne als Rationalisierungsprozess kann und muss jedoch noch abstrakter und grundsätzlicher gefasst werden, als es bislang üblich war. Hinter der Rationalisierung verbirgt sich nämlich ebenjene soziale Logik des Allgemeinen: Indem moderne Praktiken die soziale Welt rationalisieren, versuchen sie, ihr allgemeine Formen aufzupressen und sie in die Richtung allgemeiner Formen zu gestalten. Praxeologisch gesehen, umfasst eine solche soziale Logik des Allgemeinen mit ihrer »Allgemeinisierung«, ihrem doing generality, vier miteinander verbundene Komplexe sozialer Praktiken, die zueinander in einem empirisch offenen Verhältnis stehen: Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung. Wenn das Soziale einer Rationalisierung und Verallgemeinerung ausgesetzt wird, sind immer diese vier Komplexe von Praktiken am Werk.30
Dabei richten sich Praktiken der Beobachtung von Welt (in der Wissenschaft, der Ökonomie, dem Staat etc.) nun eindeutig und einseitig am Allgemeinen aus, das heißt, es werden Systeme allgemeiner Begriffe und Schemata entwickelt und zur Anwendung gebracht, mit deren Hilfe es möglich sein soll, alle Elemente der Welt (Menschen, Natur, Dinge etc.) als besondere Exemplare allgemeiner Muster zu erfassen, zu messen und zu differenzieren. Im Rahmen von Praktiken der Bewertung (etwa im Recht oder in der Schule) werden nun jene Elemente der Welt, die sich in diese Schemata des Allgemeinen einfügen, eindeutig positiv prämiert, sie erscheinen »richtig« oder »normal«.4 Praktiken der Hervorbringung (etwa in der Industrie oder der Erziehung) sind nun im Kern darauf ausgerichtet, systematisch Elemente der Welt (Dinge, Subjekte, Räumlichkeiten etc.) herzustellen und zu verbreiten, die den Schemata des Allgemeinen entsprechen und im Extrem gar identisch und vollständig gegeneinander austauschbar sind. Und die Praktiken der Aneignung von Welt nehmen nun primär die Form eines sachlichen Umgangs mit Dingen, Subjekten etc. an, die als standardisierte und austauschbare Entitäten begriffen werden, etwa dadurch, dass Objekte als funktionale und nützliche oder Subjekte als Rollen- und Funktionsträger behandelt werden.
Jedoch: Eine komplette Identifikation der Moderne mit der sozialen Logik des Allgemeinen und ihrer formalen Rationalisierung wäre eine Fehlwahrnehmung. Sie würde der Totalisierung des Allgemeinen durch den rationalistischen Diskurs der Moderne (vor allem in der Philosophie und Soziologie) zum Opfer fallen. Hier wird lediglich ein halbiertes Verständnis der Moderne entwickelt. Bereits die klassische Moderne ist nicht vollständig in terms der Logik des Allgemeinen zu verstehen, und die Spätmoderne ist es erst recht nicht. Wir müssen uns aber zunächst mit den Merkmalen der Herrschaft des Allgemeinen in ihrer »künstlich« reinen Form im formalen Rationalismus beschäftigen, um in einem zweiten Schritt die soziale Logik der Singularitäten davon abgrenzen zu können.31
Typisierungen und Rationalisierungen
Es wäre natürlich kurzsichtig zu behaupten, dass historisch gesehen erst mit dem Beginn der gesellschaftlichen Moderne im späten 18. Jahrhundert auch eine soziale Logik des Allgemeinen einsetzte oder dass überhaupt erst seit 250 Jahren Formate formaler Rationalität existierten. Vielmehr gab es beides in bestimmter Hinsicht schon in den vormodernen Gesellschaften, den archaischen (schriftlosen und nomadischen) sowie den traditionalen (hochkulturellen) Gesellschaften. Man muss allerdings zwei unterschiedliche Modi einer sozialen Logik des Allgemeinen unterscheiden: Typisierungen und formale Rationalisierung.
Die Praktiken, aus denen sich die soziale Welt zusammensetzt, beruhen immer schon auf Typisierungen, das heißt darauf, dass die einzelnen Elemente der Welt dadurch verstehbar und handhabbar werden, dass sie als besondere Exemplare allgemeiner Arten oder eben Typen – Menschen, Tiere, Dinge, Götter etc. – einsortiert werden. Wenn es richtig ist, dass die...