Einleitung: Die »Arabellion«, das alte und das neue Arabien
Die größte Massenmobilisierung der jüngeren Geschichte hat in der arabischen Welt einen langen Stillstand aufgebrochen. Wellen der Demokratisierung hatten andere Kontinente erfasst, die autoritären arabischen Staaten aber sind geblieben. Vielen Regionen der Welt hatte die Globalisierung das Tor zu einem Aufstieg und zu Wohlstand geöffnet, die arabische Welt aber wurde kaum integriert: mangels Willen und mangels wettbewerbsfähiger Produkte. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt fiel sie immer weiter zurück. Dabei waren entlang des Nils und in Mesopotamien einst die ersten Hochkulturen der Menschheit entstanden, die menschliche Phantasie hatte den Garten Eden in den Nahen Osten verlegt, und hier wurden die drei monotheistischen Weltreligionen geboren. Die Gegenwart ist jedoch trist. Keine Region auf der Welt hat eine größere Konfliktdichte.
Die Energie zur Veränderung kommt von innen, und sie entlädt sich seit Anfang des Jahres 2011. Schon länger hatte sich im Kessel ein Druck aufgestaut. Die Bevölkerung der arabischen Staaten ist jung, die Hälfte ist 24 Jahre und jünger. Zunehmend erkannte die junge Generation, dass die alten Eliten sie um ihre Zukunftsperspektiven betrügen. Mit den Kernländern Ägypten, Syrien und dem Irak war das alte Arabien zu einer faulen Frucht verkommen. Zu spät erkannten ihre Machthaber, dass sie Ventile öffnen müssten. Sie taten es nicht, und so löste die Selbstverbrennung eines tunesischen Straßenverkäufers am 17. Dezember 2010 eine Massenmobilisierung aus, die den überfälligen Wandel mit einer unvorhersehbaren Wucht einleitete. An einigen Tagen gingen in Ägypten sechs Millionen Menschen auf die Straße, in Bahrain demonstrierte jeder dritte Einwohner. Nie hatten im Jemen mehr Menschen demonstriert, nie waren es in Libyen mehr, nie in Syrien.
Nicht der Palästinakonflikt hat die jungen Menschen mobilisiert, von dem es doch stets geheißen hatte, er sei die Achse, um die sich das politische Bewusstsein der Araber drehe. Auch die latenten Spannungen mit der Supermacht Vereinigte Staaten spielten keine Rolle. Ihre eigenen Probleme und die Suche nach einem würdigen Leben trieben die Menschen an, auf die Straße zu gehen und ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Ihre Proteste sind Antworten auf lokale Missstände, nicht auf die internationale Politik. Sie sind weder anti-amerikanisch noch antiisraelisch, sie haben nichts mit dem Jihad zu tun und nichts mit al-Qaida, Ideologien spielen keine Rolle. Der Protest richtete sich gegen Armut und Korruption, gegen Unterdrückung und das Vorenthalten von Freiheit.
Begonnen haben die Proteste im alten Arabien. Dort hatte die arabische Kultur vor langer Zeit den Zenit ihrer Blüte erreicht. Doch städtische Zentren wie Kairo, Damaskus und Bagdad stehen für eine große Geschichte, nicht für eine dynamische Gegenwart. Sie haben sich nicht erneuert, sondern sind erstarrt. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 putschten sich in den meisten Ländern Militärs an die Macht. Sie richteten Diktaturen ein und beendeten eine liberale Epoche, die die Jahrzehnte zuvor geprägt hatte. Die Militärdiktaturen waren nicht mehr an der Kreativität der Gesellschaft interessiert und nicht an der Mehrung des Wohlstands, sondern allein an der Sicherung ihrer Macht und an der Sicherheit ihres Staats. Das alte Arabien glitt in Stagnation ab und wurde ein Konfliktherd mit vielen Wunden.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hatte eine Verschiebung des Gravitationszentrums vom verkrusteten alten Arabien zu einem neuen Arabien am Golf eingesetzt. Die Volkswirtschaften am Golf wurden größer als die des alten Arabiens; die wichtigsten arabischen Medien wurden nicht mehr in Kairo und Beirut produziert, sondern in den freieren und reicheren Staaten am Golf; auch im Hinblick auf die politische Bedeutung liefen die ölreichen Staaten der Arabischen Halbinsel den verarmten Staaten im alten Arabien immer mehr den Rang ab. Das Erdöl spielte eine Rolle, denn mit den üppig fließenden Petrodollars konnten die Golfstaaten ihren Rückstand rasch aufholen. Das Erdöl allein gab indes nicht den Ausschlag. Petrodollars sprudelten ja auch im Irak von Saddam Hussein und im Libyen von Muammar Gaddafi. Der Bevölkerung kamen sie aber kaum zugute.
Das war in den kleinen Monarchien am Golf anders. Dort finanzierten die Petrodollars nicht den Größenwahn von Diktatoren, sondern sie legten das Fundament für ein Entwicklungsmodell, das erst in die Region ausstrahlte, dann in die Welt. Am Anfang stand Dubai. Das kleine Emirat zeigte den Arabern und Muslimen, dass Islam, gesellschaftliche Freiheiten und ein Leben in Wohlstand miteinander vereinbar sind. »Dubai« wurde für Araber und Muslime zur Vokabel für ein besseres Leben. Die Besten wanderten nach Dubai aus, weil sie dort ihre Fähigkeiten entfalten konnten. Von Dubais Erfolg ging ein Sog aus, dem sich kein Land der Region mehr entziehen konnte. Andere mussten nachziehen, kopierten das Modell, wandelten es ab, entwickelten es weiter. Mit der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 gab Dubai die Fackel des Fortschritts an andere weiter, vor allem an Abu Dhabi und Doha. Das Entwicklungsmodell breitete sich wie ein Ölfleck im Wasser aus. Von diesem Modell und seiner Ausstrahlung handelt dieses Buch.
Das politische und wirtschaftliche Gravitationszentrum der arabischen Welt lag bereits am Golf, als die »Arabellion« das alte Arabien zu neuem Leben erweckte. Die Proteste erfassten die meisten der 22 Staaten der Arabischen Liga, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Auf der einen Seite schossen in Libyen und Syrien die Sicherheitskräfte auf die Demonstranten, auf der anderen gab es in reichen Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Qatar überhaupt keine Proteste. Als Reporter war ich an vielen dieser Brennpunkten des Jahres 2011 Augenzeuge. Fünf Szenen aus fünf Monaten:
Kairo/Ägypten im Februar, ein Wechselbad der Gefühle. Am Abend des 10. Februar sind auf dem Tahrir-Platz wieder mehr als eine Million Ägypter versammelt. Ihre Proteste haben am 25. Januar begonnen. Heute verfolgen sie auf einer Leinwand eine Rede von Husni Mubarak, bei der sie hoffen, dass es seine letzte als Staatspräsident sein wird. Als Vater lasse er seine Kinder nicht im Stich, stammelt der seit drei Jahrzehnten herrschende Greis. Gespenstische Stille legt sich über den Platz. Immer mehr strecken als Zeichen der Verachtung ihre Schuhe in die Höhe. Ungläubiges Staunen über einen, der nicht erkennt, dass seine Zeit abgelaufen ist. Am nächsten Tag verliest Omar Sulaiman, Mubaraks Stellvertreter, kurz vor 18 Uhr, von einem Offizier bewacht, eine knappe Erklärung: Mubarak trete mit sofortiger Wirkung zurück. In nur einer Sekunde fällt von dem Land eine Last ab, es versinkt in einem Freudentaumel. Die Bevölkerung feiert die ganze Nacht. Am nächsten Morgen, einem Samstag, machen sich Hunderttausende Jugendliche mit Schaufel und Besen daran, den Tahrir-Platz und die Straßen um ihn herum vom Schmutz der Proteste und der Jahrzehnte zu reinigen. Ein Hoher Militärrat aus Generälen übernimmt die Macht.
Manama/Bahrain im März, statt Aufbruch Friedhofsruhe. Am 14. Februar, drei Tage nach Mubaraks Sturz, beginnen auf dem Perlenplatz von Bahrains Hauptstadt die Proteste überwiegend säkularer schiitischer Jugendlicher. Am 22. Februar ist jeder dritte Bahraini auf den Straßen, um friedlich Reformen zu fordern. Das für den 13. März angesetzte Eröffnungsrennen der Formel 1 in Bahrain wird abgesagt. Am 15. März rollen Truppen mit Soldaten und Polizisten aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten über die 26 Kilometer lange Landbrücke nach Bahrain, um die Truppen des Königs bei der Niederschlagung der Proteste zu unterstützen. Eine beispiellose Verhaftungswelle setzt ein, Berufsverbote werden verhängt, viele werden wegen ihrer Beteiligung an den Protesten entlassen. Für den Augenblick ist jede dissidente Stimme erstickt. Im Kessel brodelt es weiter.
Benghasi/Libyen im April, ein militärisches Patt. Am 19. März hat die Nato ihre Luftschläge gegen militärische Ziele von Revolutionsführer Gaddafi begonnen. Gaddafis Soldaten waren vor den Toren von Benghasi gestanden, der Hochburg der Rebellen, und der Machthaber hatte gedroht, seine Soldaten würden »von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus« ziehen, um das »Ungeziefer« zu vernichten. Die Nato verhindert in Benghasi einen Genozid, ein libysches Srebrenica, und die Rebellen schöpfen wieder Hoffnung. Vom Gerichtsgebäude aus organisieren sie ihren Widerstand. Schäbig wie in der Vierten Welt ist es, dabei ist Libyen ein ölreiches Land. Im Gerichtsgebäude entsteht eine neue, eine »spontane Ordnung«. Auf dem Platz davor wird der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy wie ein Nationalheld gefeiert. Die Front ist nicht weit, am Stadttor von Ajdabiya sehe ich tiefe Krater, zerbombte Panzer, jubelnde Libyer. Beide Seiten beißen sich an der Front in einem Patt fest.
Sanaa/Jemen im Mai, ein politisches Patt. Die Proteste beginnen am 15. Januar, vom 20. Februar an sind sie intensiv. Staatspräsident Ali Abdullah Saleh will nicht das Schicksal seines Freundes und Weggefährten Mubarak teilen und beginnt zu kämpfen. Er organisiert Massenaufmärsche, die mit der Größe der Protestzüge der Aktivisten und der Opposition mithalten...