DIE ANGST DAVOR, RELIGION ZU HABEN
Was bedeutet Religion und in welchem Verhältnis steht sie zum Tod am Brot allein? Kann sie etwas ausrichten gegen diesen allgegenwärtig uns bedrohenden Tod? Das ist die Ausgangsfrage dieses Buches.
Ich möchte mit einem persönlichen Erlebnis beginnen, das in meine Studienzeit fällt. Ich hatte mein Studium mit klassischer Philologie und Philosophie begonnen und wechselte nach fünf Semestern zu Theologie und Literaturwissenschaft über. Ich traf eine Bekannte meiner Eltern und erzählte ihr dies, sie darauf: »Ach, ich wusste gar nicht, dass Sie so religiös sind!« Dieser Satz war ein echter Schock für mich, selbst in der Erinnerung war er mir noch jahrelang peinlich. Ich vermied es, dieser Dame zu begegnen, und der Ausdruck, jemand sei mehr oder weniger oder tief »religiös«, erschien mir fatal, unmöglich. Jedenfalls hatte er mit dem, was ich mit meinem Theologiestudium wollte, nicht das geringste zu tun.
Ich war nicht »religiös«, ich hatte kein Gebetsleben, keine besondere Beziehung zu irgendetwas Übernatürlichem, schon gar keine Beziehung zur Kirche. Ich wollte »die Wahrheit« wissen, ich hatte sie in der Philosophie nicht gefunden, jedenfalls nicht sinnlich und praktisch genug. Ich hatte die Vorstellung, dass ich mein Leben nicht nur in Arbeit und Konsum zubringen könne, mein Leben sollte eine Richtung haben. Etwas mit seinem Leben zu wollen – das war für uns, die nach dem Zweiten Weltkrieg studierende Generation, eine tiefe und zugleich undeutliche, kaum formulierbare Selbstverständlichkeit. Wenn ich versuche, Worte für diese unbestimmten Wünsche zu finden, so fallen mir ein:
- ganz sein – nicht zerstückelt leben
- heil sein – nicht zerstört
- heil machen – nicht kaputtmachen
- hungern nach der Gerechtigkeit – nicht satt sein in der Ungerechtigkeit
- authentisch leben – nicht bewusstlos-apathisch
- in den Himmel kommen – nicht in der Hölle bleiben.
Das klingt wahrscheinlich sehr naiv, aber in einer Hinsicht waren diese Wünsche durchaus reflektiert, in der Annahme nämlich, dass dieses Ganz- und Heilsein nicht später und drüben, sondern hier und jetzt gelebt werden sollte und dass es nicht in der Unbewusstheit als dem höchsten Glück zu finden, sondern dass Bewusstsein dazu nötig sei. Darum also ein Studium, das seinen Logos sucht, Theo-logie.
Es war mir unerträglich, wie die meisten Menschen mit ihrem Leben umgingen, indem sie es nur »fristeten«, ständig mit »überleben« beschäftigt; es kam mir, in den Jahren nach dem Kriege sehr verständlich, so vor, als lebten sie, um zu essen. Ich empfand darin eine ungeheure Selbstverachtung, dass man ganze Tage und Wochen lebt, ohne zu leben. Ich wusste damals noch nicht, dass diese Selbstverachtung eine der psychischen Grundlagen ist, mit Hilfe derer ein System wie der Kapitalismus überhaupt nur funktionieren kann. Ich kannte zwar die gelebte Selbstverachtung, fast möchte ich sagen, den Selbstwegwurf von Menschen, die zerstört aus dem Krieg nach Hause kamen; ich ahnte auch, dass diese gelebte Selbstverachtung in der Bibel »Gottlosigkeit« heißt, aber ich hatte keine Ahnung von ihren polit-ökonomischen Bedingungen. Dennoch war meine Fragestellung weiter und reicher als die so genannte »religiöse«, das heißt auf eine zweite Welt bezogene Fragestellung. Aber hatte die Dame nicht – trotz meiner Abwehr – mit ihrer Klassifizierung ein Stück weit Recht? War nicht das, was ich wollte – Ganzsein, Heilwerden, das höchste Glück (nicht nur das höchstmögliche!) für alle – tatsächlich das, was alle Religion will und verspricht?
Das Wort »Religion« löst Abwehr aus. Sich mit Religion beschäftigen, religiös sein, Religion haben – wir haben Angst davor, auch und gerade die, die es de facto als Lehrer oder Pfarrer tun. Manche versuchen, mit Religion umzugehen wie mit der Malerei oder der Photographie, einer individuellen ästhetischen Beschäftigung, die toleriert werden kann. Aber sehr weit kommt man mit diesem Spiel nicht, denn tatsächlich kann Religion in einer irreligiösen Welt nur als absurd gelten, und ihre Deutungen rufen von der Verwunderung bis zum intellektuellen Abscheu eine ganze Skala der Distanzierung hervor.
Wir haben Angst vor der Religion. In einer Studentengruppe, einem theologischen Seminar über Angst, wurde der Versuch gemacht, am Ende des Semesters nicht mehr theoretisch, sondern persönlich zu sprechen. Jeder sollte davon erzählen, wie er die Überwindung seiner eigenen Ängste erlebt habe. In diesem Zusammenhang berichtete eine Studentin von den großen Schwierigkeiten, die sie mit ihrer Mutter, die ihren Freund nicht akzeptieren wollte, gehabt hatte. Sie war darüber krank geworden und von Arzt zu Arzt gelaufen. Sie erzählte, dass sie mit ihrem Freund zusammen gebetet habe und dass sie in diesem sich über längere Zeit hinziehenden Beten die Kraft zur Lösung der Probleme, die sie bis in ihre physische Existenz hinein bedrohten, gefunden habe. Für alle, die an der Sitzung teilnahmen, war dieses Erzählen einer Erfahrung schockierend und befreiend zugleich. Jemand hatte in einem Kreis kritischer Theologen ein Tabu durchbrochen und eine relevante Erfahrung nicht für andere »in religiöser Sprache« dargestellt, sondern sie im Medium Religion gemacht, so wie andere von ihrer Angstüberwindung durch gemeinsames Musizieren, Einander-eigene-Gedichte-Vorlesen, Aus-sich-Herausgehen sprachen. »Ohne das Beten«, sagte die Studentin, »wären wir nicht weitergekommen.« Aber wir alle hatten Angst davor, Religion zu zeigen.
Es ist ungewöhnlich, es stellt eine Abweichung vom normal-irreligiösen Bewusstsein dar. Es ist auch missverständlich. Jede religiöse Lebensäußerung, verbal oder averbal, wird von der irreligiösen Umwelt in einen bestimmten fixierten Kontext gerückt, den kirchlichen. Gewiss, auch ein Sozialist muss es sich gefallen lassen, mit den Gewerkschaften – oder mit dem realen Sozialismus – identifiziert zu werden. Aber im Punkte der Religion ist das Missverständnis, dem man sich aussetzt, vielleicht noch größer. Ob man will oder nicht, man wird mit einer Institution identifiziert, die gelegentlich geistreich als »Versicherungsanstalt gegen zuviel Religion« bezeichnet worden ist. In diese Identifizierung übertragen sich die schlechten oder zumindest sehr zweideutigen Erfahrungen mit religiöser Zwangserziehung, die für viele die einzige Begegnung mit Religion war. Das Schlimmste daran ist, dass die uns angetane Identifikation ja nicht rundweg geleugnet werden kann. So zahlt man ständig die Zeche anderer, die das Gasthaus längst verlassen haben … Vor allem aber gilt es als vorwissenschaftlich, Religion zu haben, zu wünschen oder gar zu zeigen. Wenn die wichtigste Form, in der Weltaneignung und Weltbearbeitung heute geschieht, die Wissenschaft ist, so erscheint alles vor, neben oder außer ihr als »irrational« oder, wie die Ahnungslosesten sagen, »mystisch«.
Die Krise der Religion ist ja nicht eine spezielle des Christentums, sie betrifft alle anderen Formen der Religionen und der Religiosität genauso. Die Religionskritik, die man als ein selbstverständliches Moment unserer geistigen Lage ansehen muss, bezieht sich ja nur in einem geringen Maße (z.B. bei Nietzsche) auf die Inhalte des Christentums; vor allem ist sie methodische Kritik an den vorwissenschaftlichen Versuchen, Probleme religiös zu lösen. Ob wir wollen oder nicht, wir denken die Geschichte der Menschheit im Rahmen des Fortschrittsschemas, wie es im 19. Jahrhundert entwickelt worden ist, in drei Stadien, die man als Magie, Religion und Wissenschaft bezeichnet. »Schließlich«, meint Frazer, »haben die besseren Köpfe gemerkt, dass die Magie ihren Zweck nicht erfüllte und verfielen, da sie noch immer nicht in der Lage waren, ihre Schwierigkeiten mit empirischen Mitteln zu bewältigen und ihren Krisen mit einer besseren Philosophie zu begegnen, einer anderen Illusion: es gäbe geistige Wesen, die ihnen helfen könnten. Im Lauf der Zeit sahen wiederum die besseren Köpfe, dass auch das mit den Geistern Schwindel ist, eine Einsicht, die als die Morgendämmerung der experimentellen Wissenschaft gelten kann.«2 Diese Bemerkung eines bedeutenden Religionswissenschaftlers ist charakteristisch für die »normale« Art, mit Religion umzugehen, sie zu befragen und zu analysieren. Religion wird verstanden als ein Kindheitsstadium der Menschheit; für Erwachsene in einer sich emanzipierenden Gesellschaft ist sie funktionslos. Sich von ihr zu befreien bedarf dann nicht der geringsten geistigen Anstrengung mehr, die Religionskritik ist allgemeingültig geworden und bestimmt das Klima, in dem wir leben. Im Rahmen allgemeiner Irreligiosität stellt »Religion« eine Abweichung dar, die ängstigt.
Wir haben Angst vor Religion: Angst vor der schwer kontrollierbaren Gemeinsamkeit, die sie mit sich bringt, und Angst vor den Emotionen, die zu artikulieren sie hilft. Zugelassen sind die...