Inhaltsverzeichnis15 MINUTEN
Ein Hotel irgendwo
in Deutschland,
Sommer 2018, abends.
Auf dem Weg zu dem geheimen Ort fragen wir uns, ob es eine gute Idee war, uns auf dieses Treffen einzulassen. Unser Kontakt hat uns immer weiter vertröstet, inzwischen ist es deutlich nach 22 Uhr. Wir wissen nicht, wen wir treffen. Wir wissen nicht, worum es genau geht. Wir wissen nicht, was man von uns will. Und den Namen des Hotels, in dem wir uns treffen, haben wir erst vor ein paar Minuten erfahren.
Trotzdem haben wir das Gefühl, wir sollten da jetzt hin.
Im Vertrauen auf eine große Geschichte? Sicher nicht. Eher gespannt darauf, was wir erfahren werden, und neugierig, ob daraus eine Geschichte werden könnte. Mit dieser Hoffnung gehen wir durch die Tür des Hotels.
Manche Recherchen fangen mit einem Paukenschlag an: ein Paket voller Akten vor der Tür, ein Stick voller Daten, ein Insider, der auspackt. Oder ein leises »Ping«, wie man es vom Eingang einer elektronischen Nachricht kennt. So war es bei den Panama Papers, als sich der Whistleblower mit dem Künstlernamen »John Doe« bei uns meldete.
Die Vorgeschichte zu dem Treffen in diesem Hotel begann mit einer etwas verschwurbelten Vorwarnung. Jemand, den wir schon seit Jahren kennen und dem wir vertrauen, sendete uns eine Nachricht, die seltsam wirkte: Es werde sich bald jemand melden, auf einem sicheren Kanal. Wir sollten uns das auf jeden Fall anhören. Vielleicht stecke dahinter eine gute Geschichte – es gehe um einen Mann an der Spitze eines europäischen Landes.
Welcher Journalist würde eine solche Geschichte nicht hören wollen? Also warteten wir, auch wenn dieser Umweg seltsam anmutete, weil wir uns fast alles erst mal anhören. Das ist Teil unseres Jobs. Aber nicht allen Spuren können wir nachgehen. Einige der Geschichten, die uns angetragen werden, sind schlicht unrecherchierbar – etwa, wenn uns jemand am Telefon von einem Bestechungsfall erzählt, der schon Jahre zurückliegt, ohne Dokumente, ohne Zeugen und Belege. Bei so etwas kommen wir nicht weiter. Manche Tipps basieren nur auf Gerüchten, andere stellen sich nach kurzer Recherche als falsch heraus. Und sehr viele Hinweise können wir nicht verfolgen, weil wir schlicht nicht die Ressourcen dafür haben. Das gilt vor allem für die Schilderungen von Einzelfällen. Wenn jemand beim Hausbau von seinen Handwerkern gelinkt wird, oder der langjährige Finanzberater der Großmutter plötzlich der Adoptivsohn ist und ordentlich erbt, ist das sicherlich ärgerlich, oft tragisch für die Betroffenen. Es ist aber nichts, was wir bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) mit einer guten Handvoll Reporterinnen und Reportern in unserem Ressort »Investigative Recherche« aufklären könnten.
Und klar: Manches ist einfach Unsinn. Die Erfahrung nach etlichen Jahren besagt: Je länger die Briefe, je mehr Fettungen und grellgelbe Markierungen, je mehr unterstrichene Zeilen – umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass es keine Geschichte für die Zeitung ist. Aber auch dafür gibt es keine Garantie, und deswegen ist das oberste Gesetz immer: erst mal anhören.
Dafür muss jedoch jemand kommen, der reden möchte. Es vergingen einige Tage, und wir hatten die Vorwarnung fast wieder vergessen, als sich tatsächlich jemand bei uns meldete – und wir wenig später über eine sichere Leitung sprechen konnten.
Nur: Es war alles vage. Es gehe um jemanden, der höchste Regierungsverantwortung trage – aber die Position könne man nicht sagen. Jemanden, der sehr wichtig sei. Gegen den man einiges in der Hand habe, der anfällig für Korruption sei – aber sehr mächtige Verbündete und Geldgeber habe. Jemanden, vor dem man Angst habe. Und es sei nicht nur einer, sondern sogar zwei. Aber dazu könne man jetzt tatsächlich nicht mehr sagen.
Kurzum: Es war mühsam. Es war seltsam. Aber es klang interessant. Und immerhin erfuhren wir irgendwann, kurz bevor das Gespräch zu Ende war, das Land, um das es ging.
Österreich.
Das war eine ziemlich gute Nachricht, jedenfalls aus Sicht der Süddeutschen Zeitung. Noch lieber wäre uns natürlich Deutschland gewesen. Aber immerhin: Österreich liegt dem durchschnittlichen SZ-Leser wahrscheinlich näher als die meisten anderen europäischen Länder.
Natürlich ist ein Skandal, der bis hoch in die Regierungsspitze reicht, in jedem europäischen Land interessant für uns. Aber, nicht ganz unwichtig für ein deutsches Medium: In Österreich sprechen die Menschen deutsch, sie können also die SZ lesen. Wenn wir etwas aufdecken, muss nichts übersetzt werden. Wir schreiben für unsere eigenen Leser.
Und, das geben wir an dieser Stelle gern zu: Auch wir haben zu Österreich eine engere Beziehung als zu anderen europäischen Ländern. Wir sind beide in der Nähe der österreichischen Grenze aufgewachsen, als Kinder waren wir zum Fußballtrainingslager am Neusiedler See, als Jugendliche fuhren wir über die Grenze, um das damals in Deutschland noch verbotene Red Bull zu kaufen, als Erwachsene machen wir regelmäßig Urlaub in Österreich, im Salzburger Land, Kärnten und immer wieder in Wien. Kurzum: Das Land war uns immer nah und ist es bis heute, deswegen beobachten wir genauer als in anderen Ländern, was die Menschen bewegt.
Von der Affäre um die vermuteten Kriegsverbrechen des österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim bis zu Jörg Haiders unheimlichem Siegeszug – aus Deutschland schauen wir seit langer Zeit sehr genau auf die österreichische Politik. Auch weil sie möglicherweise einen Fingerzeig auf das gibt, worauf wir uns in Deutschland einstellen müssen.
Österreich wird zur Zeit des Treffens von einer Koalition der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) regiert, unter Führung von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). Die Koalition setzt sich seit einiger Zeit betont von den westlichen Nachbarländern ab, was Themen wie Migration und offene Grenzen angeht. Die FPÖ ist, dazu dürfte es keine zwei Meinungen geben, auch deswegen in der Regierung, weil sie mit fremdenfeindlichen Sprüchen wie »Daham statt Islam« Proteststimmen abholt.
Wir rätseln, um wen es gehen könnte. Um Kurz oder Strache selbst – oder nur um jemanden aus der zweiten Reihe? Und: Was würde ein Skandal bedeuten?
Aber erst einmal können wir nichts tun. Die Quelle hat uns am Ende des Telefonats keine weiteren Hinweise gegeben. Wir müssen warten.
Bald nach dem ersten Gespräch meldet sich unser Kontakt – oder unsere Kontaktleute, das wollen wir in diesem Buch bewusst offenlassen, um unsere Quellen zu schützen – wieder zurück, und wenig später steht der Vorschlag für ein Treffen im Raum.
Wobei »Vorschlag« beinahe zu präzise klingt. Der »Vorschlag« lautet: Man würde uns einen Tag nennen. An dessen Vorabend dann: eine bestimmte Stadt in Deutschland. Dort sollten wir dann gegen Abend sein. Vor Ort würde man uns den Treffpunkt mitteilen: ein gut erreichbares Hotel.
Solche mysteriösen Verabredungen kennen wir vor allem aus Filmen und Serien. Selbst wenn die »heiße Story«, wie Geschichten im Fernsehen immer heißen, alles andere als heiß ist, müssen die Reporter unbedingt nachts jemanden in einer Tiefgarage treffen. So wie bei »Deep Throat«, dem wohl berühmtesten Whistleblower der Geschichte des Journalismus, der 1972 durch die Weitergabe von geheimen Informationen an die Washington Post den Watergate-Skandal ins Rollen gebracht hat. Normalerweise verabreden wir uns mit Informanten in einem Café, einer Anwaltskanzlei oder sogar in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung.
Aber die Quelle ist König. Also zucken wir mit den Schultern und sagen: Okay. Wir haben auch schon Quellen im Park getroffen und einen Kinderwagen als Tarnung mitgebracht. Wir saßen im Dunklen unter Deck in einem schunkelnden Boot in Malta, in Oben-ohne-Bars im Ruhrpott und in einem bayerischen Ausflugslokal beim Kuchen. Warum also nicht mal eine Last-Minute-Verabredung?
Wir würden eine Menge Fragen mitbringen zum Treffpunkt, das war klar, und eine der ersten würde lauten: Warum wir?
Österreich ist gesegnet mit einer Unzahl von Qualitätsmedien, und etliche von ihnen leisten sich hartnäckige Investigativjournalisten. Da wir beide in den vergangenen Jahren selten über österreichische Themen geschrieben haben, wird es mit schon veröffentlichten Artikeln nichts zu tun haben.
Die Frage muss wohl eher lauten: Warum deutsche Journalisten?
Vielleicht, weil Österreich ein kleines Land ist, in dem sich fast alles von nationaler Bedeutung in Wien abspielt – wo man sich kennt und viel und gern redet? Diese Erklärung mutet ein wenig einfach an, zugegeben. Vielleicht stimmt sie trotzdem.
Gut möglich aber auch, dass wer-auch-immer diese Geschichte schon der gesamten österreichischen Medienlandschaft angetragen hat – und keiner sie wollte. Oder dass irgendwo ein Problem begraben liegt, das wir, die deutschen Journalisten, unkundig in den nationalen Besonderheiten, möglicherweise übersehen? Darauf werden wir achten müssen.
Neben den inhaltlichen Fragen stellen wir uns vor einem solchen Treffen – unbekannter Ort, ausgesucht von unbekannter Quelle – natürlich auch diese: Kann es gefährlich sein?
Nun mag man spotten: Österreich? Gefährlich?
Aber bis vor Kurzem...