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Die IG Metall zwischen Wiedervereinigung und Finanzkrise

Ausgewählte Ereignisse der jüngeren Gewerkschaftsgeschichte

AutorBoris Barth
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783451808531
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Im Jahr 2016 feiert die IG Metall ihr 125-jähriges Jubiläum. Zu diesem Anlass lässt Historiker Boris Barth ausgewählte Etappen der Gewerkschaftsgeschichte der letzten 25 Jahre Revue passieren. Im Vordergrund stehen dabei die Auswirkungen zentraler historischer Ereignisse wie der Wiedervereinigung, der wirtschaftlich wie politisch komplexen 1990er-Jahre und ausgewählter Streiks auf die Entwicklung innerhalb der Gewerkschaft. Zudem analysiert er einzelne Aspekte der gewerkschaftlichen Organisation, die vorsichtigen gewerkschaftlichen Reformen der 2000er-Jahre und die Folgen der großen Finanzmarktkrise von 2008.

Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Prag. Im Zentrum seiner Forschung steht u.a. die Geschichte des europäischen Finanzimperialismus und der Banken, die Geschichte von Rassismus und Völkermord sowie die Theorie der Globalgeschichte. Zuletzt befasste er sich intensiv mit der Geschichte der Demokratie und der Gewerkschaftsbewegungen.

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Leseprobe

Die Wertvorstellungen der IG Metall


In seinem Nachruf auf Hans Mayr, den ehemaligen Vorsitzenden der IG Metall, der am 3. August 2009 gestorben war, erklärte Berthold Huber am 7. September 2009, dass Mayr gelegentlich heftig kritisiert worden sei, er dies aber hingenommen habe. »Nicht zuletzt deshalb, weil er im Kompromiss keine Niederlage, sondern einen substanziellen Wesenszug der Demokratie sah. Und – das kann man aus heutiger Sicht vielleicht besser sehen – er hatte ein realistisches Gefühl für Kräfteverhältnisse.«3Alle Gewerkschaften und alle politisch aktiven Menschen sind sich dieser Zwangslage bewusst. Kompromisse sind der alltägliche Preis für das demokratische Prozedere. Das Problem besteht allerdings darin, dass Kompromisse häufig in der eigenen Anhängerschaft nur schwer vermittelbar sind.

Zentral für das Verständnis der Positionen der Gewerkschaften in der Bundesrepublik sind die Orientierung an der Demokratie und die Arbeit für soziale Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nur sehr schwer wissenschaftlich zu definieren, aber sie unterscheidet sich von Willkür, Tyrannei oder Despotie. Die Generation, die die nationalsozialistische Diktatur und den Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch selbst erlebt hat, ist schon lange von der politischen Bühne abgetreten. Aber das Bewusstsein dafür, dass in Deutschland einmal eines der mörderischsten Systeme bestanden hat, das es jemals in der Weltgeschichte gegeben hat, ist weiterhin vorhanden und prägt das Selbstverständnis der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Auch in der SED-Diktatur, im so genannten »Arbeiter- und Bauernstaat«, hat es keine freien Gewerkschaften gegeben.

Die häufigen und offenen Bekenntnisse von Parteien, gesellschaftlichen Gruppen und nicht zuletzt der Gewerkschaften zum demokratischen Rechtsstaat sind deshalb keine leeren Worthülsen, sondern ein zentrales Anliegen gerade der IG Metall gewesen. Durchgängig stand hinter allen Aktivitäten die Erfahrung, dass konstruktive Gewerkschaftsarbeit nur in funktionierenden Demokratien möglich ist. Autoritäre Staaten und Diktaturen gleich welcher Art haben stets die organisierte Arbeiterbewegung bekämpft. Sehr häufig waren freie Gewerkschaften die ersten Gegner, die nach der Einführung eine Diktatur verfolgt und gewaltsam ausgeschaltet wurde. Deshalb ist das aktive Eintreten für die Demokratie, für die Zivilgesellschaft und für den Rechtsstaat für Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur durch tiefe Überzeugungen geprägt, sondern stellt auch eine existentielle ­Notwendigkeit dar.

Alle Geschäftsführenden Vorstandsmitglieder und maßgeblichen Organe der IG Metall haben ferner kontinuierlich hervorgehoben, dass Gewerkschaften über Tarifverträge die Teilhabe der Menschen am wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand organisieren. Im Zweifelsfall verwandeln Gewerkschaften über ihre Interventionen und über ihre organisatorischen Strukturen Betriebe in Räume, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Rechte wahrnehmen können. Damit stehen Gewerkschaften idealerweise stets auch auf der Seite der Schwachen.4

Die IG Metall versteht sich als parteiunabhängig. Sie arbeitet für die Rechte und Interessen ihrer Mitglieder und der Beschäftigten und entstammt damit aus der Arbeiterbewegung. Ihre historischen Wurzeln waren keineswegs auf das sozialdemokratische oder auf das sozialistische Lager beschränkt. Um nur ein Beispiel von vielen zu geben: Die IG Metall steht auch in der langen Tradition der deutschen christlichen Gewerkschaftsbewegung.5 Die Kooperation mit christlichen Kirchen, Sozialverbänden und Institutionen verlief in der Praxis pragmatisch. Die IG Metall zeigte und zeigt mit eigenen Materialien und oft gemeinsam mit anderen Gewerkschaften regelmäßig Präsenz auf den Kirchentagen.6 Bei Anti-Rassismus-Aktionen ergaben sich fast automatisch enge Berührungspunkte mit den Kirchen und mit anderen christlichen Institutionen, und diese Nähe hat die IG Metall oft auch gesucht.

Dies soll durch ein kleines Beispiel illustriert werden: 1992 erhielt das Oswald von Nell-Breuning Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik eine Spende von 10.000 DM. Diese Institution wurde geleitet von dem Jesuitenpater Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach. In der Einschätzung der IG Metall war dieses Institut der wichtigste Vermittler zwischen Grundaussagen der katholischen Soziallehre, gewerkschaftlichen Programmdiskussionen sowie sozialer Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Es zeigte erhebliches Engagement bei der Werbung für die 35-Stunden-Woche, bei der Lastenverteilung während der Wiedervereinigung und im Arbeitskreis Kirche-Gewerkschaft.7 In der Standortdebatte lieferte dieses Institut den Gewerkschaften ergänzendes Material und Argumentationshilfen, die von Sozialwissenschaftlern erstellt worden waren.8

Auch wenn die Tarifpolitik aus naheliegenden Gründen stets das wichtigste Betätigungsfeld der IG Metall gewesen ist, hat die Gewerkschaft eben aus ihrem tiefen demokratischen Grundverständnis heraus in den letzten 25 Jahren auf sehr vielen weiteren Feldern Aktivitäten an den Tag gelegt. Dahinter stand und steht das Bewusstsein, dass Demokratie keine leere Worthülse sein darf, sondern dass sie auch in den Betrieben täglich erprobt und offensiv gestaltet werden muss. Häufig wurde auf die zentrale Bedeutung des sozialen Friedens verwiesen: »Der Sozialstaat ist weder Luxus noch Almosen für vermeintliche Randgruppen. Der Sozialstaat ist Grundlage für gesellschaftliches Zusammenleben und industrielle Entwicklung.«9

Die IG Metall hat seit der Wiedervereinigung die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates und seines Wertekataloges sehr ernst genommen. Die Gewerkschaft hat auf nahezu jedem gesellschaftlich relevanten Feld Stellung bezogen oder – in unterschiedlichem Maße – Aktivitäten entfaltet. Sie beschäftigte sich mit dem Umweltschutz, mit dem Gesundheitssystem, mit der Lärmbelästigung am Arbeitsplatz, mit Migrationsbewegungen, mit gesundheitsgefährdenden Stoffen, mit den Menschenrechten innerhalb und außerhalb Europas, mit dem Rentensystem, mit der Gefahr von Kinder- und Altersarmut oder mit den Zukunftschancen der Raumfahrtindustrie. Sie ließ Gutachten über die Aussichten bestimmter Industrieregionen erstellen, entwickelte alternative Konzepte zum bestehenden Bildungssystem, trat für die Rechte von Frauen ein und befasste sich mit den Möglichkeiten und Grenzen alternativer Energien. Die Otto Brenner Stiftung, die der IG Metall nahe steht, vergibt einen inzwischen angesehenen Preis für kritischen Journalismus. Sehr viele weitere Themenfelder könnten hier mühelos aufgezählt werden.

Selbstverständlich kam es hier auch zu Fehleinschätzungen und oft tief greifenden Meinungsverschiedenheiten, aber fast immer wurde betont, dass offene Diskussionsprozesse erwünscht seien, auch weil sich innerhalb der Gewerkschaft viele meinungsfreudige Persönlichkeiten befanden und dort gerne gesehen wurden. Die IG Metall war grundsätzlich gewohnt, sich politisch einzumischen und griff sehr viele Anregungen und Initiativen positiv auf, die aus der Mitgliedschaft an die Betriebsräte, die Bezirke oder an den Vorstand in Frankfurt/M. herangetragen wurden.

Neben diesen großen Fragen waren stets viele kleine und alltägliche Dinge zu erledigen. Eine beliebig herausgegriffene Sitzung zeigt die Vielfalt der Themen, mit denen sich der Vorstand der IG Metall im Alltag befasste. Auf einer Sitzung der Geschäftsführenden Vorstandsmitglieder vom 28. Juni 1993, einem Monat, in dem nur wenig »los« war, wurden 18 Themen besprochen.

 

Diese wenig spektakulären, aber dennoch arbeitsreichen Sitzungen betrafen wesentliche Randaspekte der Gewerkschaftsarbeit. Nicht nur die großen politischen oder tarifpolitischen Entscheidungen, sondern die stete Arbeit im Detail auf sehr vielen unterschiedlichen Feldern erlaubte es der IG Metall, im Zweifelsfall ihre Mitglieder glaubwürdig zu mobilisieren. Auch war sie durch diese breite thematische Aufstellung in der Lage, einzelnen Geschäftsstellen oder Betriebsräten bei Problemen vor Ort rasch entsprechende Materialien oder konkrete Ratschläge zur Verfügung zu stellen.

Zu allen diesen hier erwähnten Themen könnte man sehr viel schreiben, aber aus Platzgründen soll nur darauf eingegangen werden, wie mit der Herausforderung des Rassismus umgegangen wurde. Für sehr viele Mitglieder, Betriebsräte und auch für den Vorstand stand fest, dass in der neuen Bundesrepublik, die sich nach 1990/91 zu konstituieren begann, keinerlei Form von Rassismus akzeptabel sein dürfe, und dass ein nicht diskutabler Kernbestand gewerkschaftlicher Arbeit in der offensiven und kompromisslosen Bekämpfung des Rassismus in jeder Erscheinungsform bestehen musste.

Deshalb bereitete der Führung der IG Metall zu Beginn der 1990er-Jahre der Anstieg rechtsradikaler Gewalt große Sorge. In den Protokollen der Geschäftsführenden Vorstandsmitglieder wurde dieser Punkt auf fast jeder wöchentlichen Sitzung angesprochen. Viel Geld stand – angesichts der anderen immensen Herausforderungen – nicht zur Verfügung, aber es wurde eine Mischstrategie gewählt, die sich pragmatisch ergab und die zunächst nicht in großen Positionspapieren formuliert wurde. Regionale Initiativen wurden wohlwollend gefördert. Gleichzeitig wurden die Mitglieder ermutigt, eigene Ideen einzubringen, und ihnen wurden regelmäßig Materialien bereitgestellt.10 In der älteren Generation, die noch den Nationalsozialismus erlebt hatte, war das Bekenntnis zu demokratischen Werten und...

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