2. Eltern unter Druck
Es ist schon paradox. Es gab wohl noch nie eine Zeit, in der so viel über Kinder und ihre Erziehung, über ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse gesprochen wurde und in der so viele Informationen über Kinderziehung kursierten wie heute. Kindheit ist gesamtgesellschaftliches Topthema.
Und gleichzeitig gab es noch nie eine Zeit, in der die Unsicherheit darüber, wie wir mit unserem Nachwuchs umgehen sollen, so groß war. Wie es am sichersten und sinnvollsten gelingt, Kindern den Weg in die Zukunft zu ebnen. Sie fürs Leben stark und fit zu machen.
Kinder stehen heute unter Dauerbeobachtung, und diejenigen, die erziehungsberechtigt oder zumindest erziehungsbeteiligt sind, gleich mit. Außerdem beobachten sich alle auch noch gegenseitig. Und die Blicke sind wahrhaftig nicht immer freundlich!
»Familien sind in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, gerade wenn sie Kinder haben, unter einem enormen Druck«, sagt Neurobiologe Gerald Hüther. Er findet: »Eltern tun das Beste, was sie können, um ihren Kindern zu helfen, in diese Gesellschaft hineinzuwachsen, dass sie dort später einigermaßen gut zurechtkommen.«
Was aber, wenn das Beste der Feind des Guten ist? Wenn aus Bemühen Bemühtes wird? Diese Gratwanderung täglich erfolgreich zu durchlaufen ist eine der großen Herausforderungen, vor der Familien heute stehen. Schließlich steht beim Umgang mit der nächsten Generation alles zur Disposition – vom Kindersitz über die Ernährung bis hin zum Spielzeug. Alles soll möglichst gut, besser, am besten sein. Das hat doch niemand so gesagt? Braucht es auch nicht. Die Erwartungshaltung ist in unserer Gesellschaft überall spürbar. Und den Druck machen sich Eltern deshalb schon von ganz alleine.
Erziehungsratgeber boomen derzeit regelrecht. Der Journalist Max Scharnigg hat mal spaßeshalber beim Online-Riesen Amazon nachgesehen. Sein Rechercheergebnis: Allein in der Kategorie »Ratgeber für Eltern und Kinder« sind 19.857 Titel gelistet – macht eine ganze Kleinstadt, in der nur Experten wohnen.14 Die Buchtitel decken alle Bereiche eines Kinderlebens ab und versprechen zum Beispiel Hilfe, wenn die Sprösslinge im »Trotzkopfalter« sind, raten zum »Nein aus Liebe«, schicken die Eltern in die Schule, greifen tief in die »Eltern-Trickkiste« oder verraten nichts weniger als »Das Geheimnis glücklicher Kinder«.
Was ist die Ursache für diese Ratgeber-Flut? Grundschullehrerin Helga Kraft glaubt, dass viele Eltern heute einfach Angst hätten, etwas falsch zu machen. »Sie haben ihre Ratgeber im Schrank stehen und gucken erst mal nach. Sie haben nicht den Mut, einfach aus dem Bauch heraus zu handeln. Das beginnt schon beim Umgang mit den Babys.«
Welche Erziehungsmethode ist die richtige? Autoritär wie zu Opas Zeiten – will keiner mehr sein. Laissez-faire wie in den Siebzigern – genauso wenig. Was ist denn nun richtig? Irgendwas dazwischen? Streng, was die Schlafenszeiten angeht, aber locker bei den Tischmanieren? Wer im Internet nach Artikeln zu den jeweiligen Themen fahndet, findet so viel Wissen, dass es mehrere Bibliotheken füllen würde. Und täglich grüßt die Überinformation!
In Sachen Kindererziehung experimentieren wir am lebenden Objekt. Denn so etwas wie eine Mainstream-Erziehungskultur gibt es nicht mehr. »In ganz Europa, auf der ganzen Welt suchen Eltern nach Orientierung. Denn überall existiert das Alte nicht mehr. Es gibt keine Konzepte mehr in unserer Gesellschaft.« Die Worte stammen von Jesper Juul. Im Ranking um die meistgelesenen Ratgeberautoren liegt der dänische Familientherapeut ganz vorne. Der Rat des Erziehungs-Gurus: Wir müssen einen neuen Weg finden. Aktuell stecken wir mitten in diesem Prozess.15
Schön. Wir sind frei, es neu und anders zu machen. Das ist, seien wir ehrlich, ganz schön anstrengend. All die Entscheidungen, die tagtäglich, stündlich, minütlich getroffen werden müssen! Und ist das dann endlich passiert, kann man sich sicher sein, dass die Kritiker, die das verteufeln und das Gegenteil fordern, nicht weit sind. Haben wir die Kinder zum Beispiel kurz vor dem Fernseher geparkt, um mal eben in Ruhe die Wäsche aufzuhängen, heißt es: Mehr Disziplin bitte! Belesen wir uns eingehend über Kinderkrankheiten oder andere Gefahren, die unsere Sprösslinge treffen könnten, heißt es garantiert: Mehr Bauchgefühl bitte!
Überhaupt das Bauchgefühl. Es wird mittlerweile überall als das Heilmittel gegen den Druck gehandelt, den Eltern sich machen. Nach dem Motto: »Hey, entspann mal, hör’ auf dein Bauchgefühl!« Das Problem ist nur, vor lauter Diskussion über Intuition und wie wichtig sie doch ist, artet mittlerweile selbst das Hören aufs Bauchgefühl in Stress aus!
Ja, es ist ein Dilemma. Weil es eben um nichts Geringeres geht als um die Zukunft. Die Zukunft unserer Kinder. Und die lieben wir! Für die tragen wir die Verantwortung. Und weil diese Zukunft möglichst rosig sein soll, die Prognosen aber anders aussehen, versuchen so manche verzweifelt, die Gegenwart so gut es geht zu nutzen. Jene Jahre zwischen 0 und 18, die so schnell verfliegen. Die richtige Kita, die richtige Schule, die richtigen Freunde, die richtige Freizeitgestaltung. Es gibt einiges zu tun für Mama und Papa. Und die tun auch. Und schießen vor lauter Fürsorge mitunter übers Ziel hinaus.
Wer hat noch nicht von den »Helikopter-Eltern« gehört, die wie Hubschrauber unaufhörlich über ihrem Nachwuchs kreisen, die alles kontrollieren und nichts dem Zufall oder dem Schicksal überlassen wollen. Auch die »Curling-Eltern« haben Einzug in unseren Sprachgebrauch und in die Kinderzimmer gehalten. Gemeint sind damit Mütter und Väter, die wie beim Eisstockschießen eigenhändig alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die ihrem Nachwuchs auf dem mühevollen Pfad in eine aus ihrer Sicht erfolgreiche Zukunft vor die Füße fallen könnten. Eltern, die sofort eingreifen, wenn ihrem Augenstern im Sandkasten von einem anderen Kind das Eimerchen weggenommen wird, oder die empört in der Schule vorstellig werden, weil die Mathelehrerin ihrem Schatz eine angeblich zu schlechte Note erteilt hat.
Undenkbar, dass sie ihre Kinder unbeaufsichtigt auf Spielplätzen oder gar in der freien Natur herumtoben lassen, oder dass die Kleinen spontan etwas ausprobieren dürfen, was nicht vorher genauestens vom familieneigenen Eltern-TÜV geprüft wurde.
Mit den Kindern, die verhaltensauffällig werden, weil sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, stundenlang alleine vor dem Computer sitzen, zu viel essen und sich zu wenig bewegen, hat der Nachwuchs von Helikopter-Eltern auf den ersten Blick nichts gemein. Alles richtig gemacht also? Jesper Juul mahnt zur Vorsicht. Für ihn sind auch überbehütete Kinder irgendwo vernachlässigte Kinder. »Sie werden rund um die Uhr umsorgt, aber sie werden des einzigen Weges beraubt, durch den sie wirklich lernen können: ihre persönliche Erfahrung.«16 Mit der Folge, dass sie – genau wie die unbehüteten Kinder – weder in der Lage seien zu wachsen noch zu reifen. Und aus diesem Grund dann Gefahr laufen, ebenfalls Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Überbehütet, unterbehütet. Wenn Kindererziehung zum Problem wird, werden dann früher oder später auch die Kinder zum Problem?
Optimierte Kindheit
Das Kind als Lebensprojekt. In Zeiten der späten Elternschaft und der Ein-Kind-Familien besteht die Gefahr, dass immer mehr Eltern ihre ganze Aufmerksamkeit auf die (äußerliche) Optimierung des Nachwuchses richten und zu übervorsichtigen Eltern werden. Aus Angst, Versager zu produzieren und von der Gesellschaft schief angesehen zu werden, muss das Verhalten der Kinder ständig kontrolliert, ihre Leistung ständig optimiert werden, denn es geht ja wie gesagt um ihre Zukunft. Das macht Druck. »Das Kind muss ein Erfolg sein«, fasst Entwicklungsforscher Remo Largo die Anspruchshaltung von Eltern zusammen. Und erfolgreich ist für die meisten von uns nun mal, was unsere Leistungsgesellschaft, also wir alle, derzeit als Maßstab setzt.
»Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir alles unter Kontrolle haben wollen und wo wir Abweichendes nicht so gerne zulassen«, sagt Gerald Hüther. Entsprechend erziehen wir unsere Kinder. Normorientierte Fürsorge nennt sich das. Im Extremfall folgen wir so nur mehr äußeren Trends statt inneren Werten.
Dahinter steckt die Furcht, sie sollen ja nicht anecken, sie sollen dazugehören. Verhaltensauffälligkeiten passen da nicht ins Konzept. »Unsere Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass alles funktioniert«, erklärt auch BLLV-Präsident Klaus Wenzel. Die Maschinen, die Geräte, der Verkehr, die Wirtschaft, alles müsse funktionieren. Auch und vor allem der Mensch. »Und wenn das nicht so ist, ist es uns peinlich«, sagt er. Mehr noch: Nicht funktionierende Menschen seien für uns seiner Meinung nach regelrecht ein Tabu. »Das kommt nicht gut an, wenn es heißt, unser Sohn hat Schwierigkeiten, unser Sohn hat den Anschluss nicht halten können, unser Sohn kommt nicht mit. Unser Sohn ist nur Hauptschüler oder nur Realschüler.« Da werden dann Ausreden erfunden. Und es werde versucht, den Menschen über Medikamente wieder »funktionierend zu machen«.
Aus ihrer Praxis weiß Schulpsychologin Rosemarie Straub: »Für viele Eltern ist ein Kind erst dann ein gutes Kind, wenn es die bewussten oder unbewussten Leistungswünsche seiner Eltern erfüllt.« Und da Entwicklung eben vieldeutig zu interpretieren sei, heiße Kindheit und Jugend dann eben oft, möglichst viele Fachdienste zu frequentieren, endlose Stunden mit Diagnostik durchzustehen. Bis? Bis ein Weg gefunden wird, dass das Kind den gesellschaftlichen Anforderungen entsprechend funktioniert.
»Es vergeht kaum ein Tag bei meiner...