2. Kapitel Stalins Schatten
Kaum hatte die DDR das Licht der Welt erblickt, begann beim Ostberliner Dietz Verlag auf Beschluss des Zentralkomitees der SED in schneller Folge und großer Menge der Druck der »Werke« von Josef Wissarionowitsch Stalin. Nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1956 räumte manch »guter Genosse« die braunen Kunstlederbände mit der goldenen Schrift in die zweite Reihe des Bücherschranks, aber nicht aus dem Kopf. Stalins Welterklärungen waren zu verlockend, um sie einfach zu vergessen. Bestätigte der Kalte Krieg nicht gerade, dass sich der Klassenkampf »ständig verschärfte«? Zeigten die heißen Kolonialkriege in Asien und Afrika nicht, wie sich die »absterbende Klasse« gegen ihren »gesetzmäßigen Untergang« wehrte? Und belegten die »Konterrevolutionäre« in den eigenen Reihen nicht, dass es auch im Sozialismus »Abweichler« gab?
Wer das Recht als Mittel zur Durchsetzung und Sicherung seiner Macht sah, konnte an Stalins »Gedankengut« kaum vorbei. Es wurde nur nicht mehr öffentlich gepredigt, bestimmte aber die gesamte Strafrechts- und Kriminalgeschichte der DDR. Auch unausgesprochen beherrschte Stalins Doktrin vom sich ständig verschärfenden Klassenkampf alles, was unter »Aufbau des Sozialismus« verstanden wurde. Die Rechtsgelehrten, Richter, Staatsanwälte und alle anderen mit dem »sozialistischen Recht« befassten Funktionäre sollten dazu beitragen, diesen »Kampf« zu führen. Der Weg dazu begann nach dem Krieg und endete mit dem Verschwinden des »Traumes von der gerechteren Welt«.
Die Angst vor »Sibirien«
Die Strafverfolgung nach dem Krieg war eine bittere Notwendigkeit und ging auf die gemeinsam getroffene Vereinbarung der Alliierten zurück, als gefährlich eingestufte Personen einem »Automatic Arrest« zu unterwerfen.
Auf dieser Grundlage richtete die sowjetische Besatzungsmacht in ihrer Zone sogenannte »Spezlagerja« ein. Dazu reaktivierte sie die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen und schuf in Mühlberg, Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen, Ketschendorf, Jamlitz (zuvor Frankfurt/Oder), Werneuchen, Torgau und Fünfeichen bei Neubrandenburg weitere Lager. Sie unterstanden dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD, ab 1946 MWD). Zusätzlich gab es mehrere Gefängnisse. Die »Speziallager« in der Sowjetischen Besatzungszone waren im rechtlichen Sinne keine Kriegsgefangenenlager.
Im Gegensatz zur westlichen Internierungspraxis nutzten die Sowjets die »Spezlagerja« in weit erheblicherem Umfang aber auch, um politische Gegner – zum Beispiel aus der SPD – zu unterdrücken und eigene Staatsbürger, wie nach Deutschland verschleppte »Fremdarbeiter« oder auffällig gewordene Soldaten der Roten Armee, zu internieren. Zur Einweisung reichten oft Denunziationen, bei Verhören durch die NKWD-Dienststellen war Folter an der Tagesordnung. Die Protokolle wurden in Russisch verfasst, es gab keine Möglichkeit der Verteidigung und keine Anhörung von Entlastungszeugen. Bei vielen Beschuldigten reichten die Ermittlungen nicht für ein Gerichtsverfahren vor dem Sowjetischen Militärgericht (SMT). Sie wurden dann ohne Urteil gefangen gehalten.
Kam es zu Verurteilungen – oft in »Ferngerichtsverfahren« aus Moskau ausgesprochen –, erfolgten diese nicht nach individueller Schuld. Verurteilt wurde vorwiegend nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 22. November 1926, der »konterrevolutionäre Verbrechen« betraf und in vierzehn Unterziffern die Bestrafung nahezu jeglicher Handlung gegen die Sowjetunion möglich machte.
Damit geriet das zunächst legitime Anliegen, NS-Aktivisten zu sanktionieren, zu einer umfänglichen Unrechtspraxis, die neben notwendigen und berechtigten Verurteilungen auch viele unschuldige Opfer forderte. Bereits 1946 stellten die Sowjets selbst fest, dass nur etwa die Hälfte der damals über 80.000 Internierten früher Nazis in unteren und mittleren Funktionen waren. Marschall Sokolowski und Generaloberst Serow meldeten am 4. Dezember 1946 an Stalin, dass von diesen 40.000 Insassen bei 35.000 wegen festgestellter »Minderbelastung« keine Strafverfahren möglich seien. Dennoch blieben viele von ihnen interniert.
Es gibt bis heute keine Zahlen zum Verhältnis von schuldig und unschuldig gefangen gehaltenen Personen in den sowjetischen »Speziallagern«. Ihre Gesamtzahl ist ebenfalls umstritten. Nach russischen Angaben waren es 122.671 Deutsche. Westliche Historiker rechnen mit bis zu 180.000 deutschen und weiteren mehr als 34.000 sowjetischen in der SBZ Inhaftierten. Mindestens ein Drittel der Insassen überlebte die Lager durch Hunger und Krankheiten nicht.
Mit Befehl 00559 vom 9. August 1948 schufen die Sowjets den Begriff »Spezlagerja« ab und lösten sieben von ihnen auf. Die danach noch rund 14.000 verbliebenen Häftlinge verlegten sie nach Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen. Im März 1950 wurden sie als »Kriegsverbrecher« an die DDR übergeben.
Neben dem Freiheitsentzug in den Lagern der SBZ gerieten Zehntausende Menschen infolge ihrer Kriegsgefangenschaft in Arbeitslager in der Sowjetunion. Nach sowjetischen Angaben gab es 2.388.443 deutsche Kriegsgefangene, von denen 356.687 in Gefangenschaft verstarben. Bis Mai 1947 wurden 1.003.574 entlassen. Für November 1947 wird ein Bestand von 912.877 Gefangenen angegeben, der sich bis Ende 1949 auf 80.744 Personen verringerte. Seit etwa 1947 wurde bei der Verurteilung von Kriegsgefangenen zu meist pauschal 25 Jahren Arbeitslager neben dem Artikel 58 StGB-RSFSR auch das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 »über Maßnahmen zur Bestrafung der deutschen faschistischen Übeltäter, schuldig der Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten, der Spione, der Verräter der Heimat unter den Sowjetbürgern und deren Mithelfern« genutzt. Dieser »UKAS 43« erlaubte eine einheitliche Verurteilung zur Höchststrafe ohne Abwägung persönlicher Schuld und Verantwortlichkeit. Mit Erlass des Präsidenten des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. September 1955 wurden in der Folge der unabhängig voneinander betriebenen Aktivitäten der DDR- und der Bundesregierung in Moskau 8.877 »verurteilte Kriegsverbrecher« amnestiert und in die beiden deutschen Staaten entlassen. 749 Personen, die wegen »besonders schwerer Verbrechen« bestraft worden waren, überstellte die Sowjetunion zur weiteren Verfügung den Regierungen der beiden deutschen Staaten. In die Geschichte der Bundesrepublik ging der gesamte Vorgang als »Heimholen der letzten Kriegsgefangenen« durch Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) ein.
Bis 1989 in der DDR weitgehend unbekannt blieb, dass der Einsatz deutscher Arbeitskräfte in der Sowjetunion auf einem Beschluss der Alliierten beruhte. Sie hatten auf ihrer Konferenz von Jalta vom 4. bis zum 11. Februar 1945 drei Formen von Reparationsleistungen für die Zeit nach dem Sieg vereinbart: Demontage und Beschlagnahme von Auslandsguthaben, Lieferungen aus der laufenden Produktion und Verwendung deutscher Arbeitskräfte. Die Höhe der Reparationsleistungen blieb offen. Im Protokoll vom 11. Februar 1945 war zu den Arbeitsleistungen nur von »Reparations in Kind« die Rede. Dennoch bestand damit eine übereinstimmende Auffassung der Alliierten, die den Einsatz deutscher Arbeitskräfte in der Sowjetunion vorsah. Auch auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 erzielten die Siegermächte keine Einigung über die Reparationssumme. Die Entnahme aus der laufenden Produktion und die Verwendung deutscher Arbeitskräfte blieben dieses Mal unerwähnt. Das hieß aber auch, dass die Übereinkunft aller Mitglieder der Anti-Hitler-Koalition über den Arbeitseinsatz nicht in Frage gestellt wurde.
Neben der Überführung von Kriegsgefangenen in Arbeitslager – im Volksmund oft als »nach Sibirien verschickt« bezeichnet – kamen die größten Kontingente der Deportierten aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und dem Karpatenraum. Aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands wurden vor allem jene in die Sowjetunion überstellt, die zuvor in die Fänge des Geheimdienstes geraten waren. Darunter gab es Verurteilte, aber auch Personen ohne jegliche persönliche Schuld. Als Besatzungsmacht hielt es die Sowjetunion nicht für nötig, den Betroffenen rechtliche Gründe – außer dem pauschalen Vorwurf, »Faschist« gewesen zu sein – für das Verfahren zu nennen. In der DDR durfte später von ihnen darüber nicht gesprochen werden, Hinweise in Personal-(»Kader«)-Akten blieben bis 1989 geheim.
Die größten Transporte aus der SBZ erfolgten zwischen dem 15. Januar und dem 1. März 1947 über das MWD-Lager Nummer 69 in Frankfurt an der Oder. Sie sollten die »arbeitsfähige Bevölkerung« betreffen, bei Männern jene im Alter zwischen 17 und 55 Jahren, bei Frauen 18- bis 32-jährige, wobei diese Grenzen nicht immer eingehalten wurden.
Mit der Etablierung der sowjetischen Besatzung auf dem Gebiet der späteren DDR erfolgte ein Austausch bereits tätiger, aber kranker und arbeitsunfähiger Internierter gegen frische Arbeitskräfte aus der Zone. Der dazu am 26. Dezember 1946 vom Minister für Innere Angelegenheiten der UdSSR und als »streng geheim« deklarierte Befehl Nummer 001196 trug den Titel: »Über die Zuführung von 27.500 Deutschen aus Deutschland, die sich in Gefängnissen und Speziallagern des MWD befinden, und über den Transport der gleichen Anzahl kranker und arbeitsunfähiger Kriegsgefangener und Internierter deutscher Nationalität nach Deutschland«. Er basierte auf dem Beschluss des Ministerrates der UdSSR Nummer...