1. Einleitung
Joan Rumbold war neunzehn Jahre alt, lebte im Londoner Stadtteil Chelsea, und man schrieb das Jahr 1754, als sie John Phillips kennenlernte. Drei Jahre später hatte Phillips sie geschwängert und mit Gonorrhö angesteckt. Dann ließ er sie sitzen, und weil sie nicht wusste, wohin, steckte man sie ins Armenhaus. Um zu arbeiten, wurde sie ins nahe gelegene Brompton geschickt. Ihr Sohn, John Junior, blieb im Armenhaus zurück, wo er zwei Jahre später starb.1 Diese alltägliche Geschichte von Verzweiflung, Einsamkeit und Kindstod würde heutzutage in fast allen entwickelten Gesellschaften einen Skandal auslösen, mit den üblichen Begleiterscheinungen wie Selbsthinterfragung und Schuldzuweisungen. Im England des 18. Jahrhunderts war ein derartiger Vorfall alles andere als ungewöhnlich, und nicht nur dort, sondern fast überall sonst auch, und zwar seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Hunderttausende Mädchen und junge Frauen in ganz Europa und Millionen in aller Welt hätten damals oder in der Zeit zuvor ganz ähnliche Geschichten erzählen können. Das Leben spielte sich vor einem Hintergrund materieller Entbehrung ab, der Kampf gegen Hunger, Krankheit und andere Katastrophen bestimmte den Alltag der meisten Menschen.
In menschheitsgeschichtlichen Dimensionen war das Leben quasi noch gestern derart herzlos, brutal und kurz. Nahezu jeder Bericht über diesen oder jenen Aspekt der Existenz einfacher Leute in der vorindustriellen Gesellschaft oder kurz nach Beginn der industriellen Revolution, sei es Ernährung oder Wohnverhältnisse, Fragen von Geburt und Tod, von Unwissenheit, fehlender Hygiene oder medizinischer Versorgung, lässt dem heutigen Leser die Haare zu Berge stehen. In den Weinanbauregionen Spaniens beispielsweise wurde zur Zeit der Weinlese jede Hand gebraucht, nicht nur die Bauern, auch Mütter von Kleinkindern mussten mit anpacken. Diese ließen dann ihren Nachwuchs alleine, weinend, hungrig und in dreckigen Windeln zurück. Verlassen und hilflos, wie sie waren, konnte den Babys vom heimischen Federvieh, das in der Hütte ein und aus ging, die Augen ausgehackt, von den Schweinen die Hände abgekaut werden, auch bestand die Gefahr, dass die Kleinen »ins Feuer fielen, oder in Kübeln oder Waschzubern, die man achtlos an der Türschwelle hatte stehen lassen, jämmerlich ertranken«.2 Da verwundert es nicht, dass zwischen einem Viertel und einem Drittel der im Spanien des 18. Jahrhunderts geborenen Babys ihren ersten Geburtstag nicht erlebten.
Jenseits der Pyrenäen, in Frankreich, sah das Leben der einfachen Bauern – und das war der allergrößte Teil der Bevölkerung – nicht viel besser aus. Heute ist das Departement Lozère eine reizende Gegend, beliebt vor allem bei Kajaksportlern und Anglern. Im 18. Jahrhundert jedoch kleideten sich die meisten Bewohner in ärmliche Lumpen und lebten in elenden Hütten, »inmitten von Unrat«, der fürchterlich stank. Die Behausungen hatten nur selten Fenster, auf dem Boden lagen Leinen- und Wollfetzen, die als Betten dienten, »in denen der altersschwache Greis und das Neugeborene, die Gesunden, die Kranken, die Sterbenden und nicht selten die gerade Gestorbenen Seite an Seite lagen«.3 Derartige Beschreibungen grauenvollen Elends hätten auf fast jeden Ort auf dem Globus zu fast jeder Zeit zutreffen können, zumindest seit die Menschen rund zehntausend Jahre zuvor sesshaft geworden waren und begonnen hatten, Landwirtschaft zu betreiben.
So viel zum idyllischen Landleben früherer Zeiten. Dieser Mythos kann sich wohl nur in einer Gesellschaft halten, die schon so lange urbanisiert ist, dass keine Erinnerung mehr an das reale Landleben in vorindustrieller Zeit existiert. Das war das Leben, dem die bettelarmen Heldinnen in Jane-Austen-Romanen auf der Suche nach einem reichen Erben zu entrinnen suchten, wenn nicht für sich selbst, dann wenigstens für ihre Kinder und Enkelkinder in einer gnadenlosen Welt ohne Wohlfahrtsstaat, in der es für die einfachen Leute wirtschaftlich und gesellschaftlich stetig bergab ging.
Das Landleben heute sieht fast überall auf der Welt ganz anders aus als im Spanien oder Frankreich des 18. Jahrhunderts. Auch das Leben in der Stadt hat sich, verglichen mit den erbärmlichen Zuständen, die bis ins 19. Jahrhundert selbst in den damals am höchsten entwickelten Teilen der Welt herrschten, geradezu unermesslich verbessert. Bestens beschrieben ist dies in den Memoiren des Ehemanns der berühmten Schriftstellerin Virginia Woolf. Leonard Woolf, 1880 geboren und 1969 gestorben, wurde Zeuge des Wandels in Südostengland, wo er abgesehen von einem Jahrzehnt als Kolonialverwalter in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) sein ganzes Leben verbrachte. Woolf schrieb gegen Ende seines Lebens, der »immense gesellschaftliche Wandel von der Barbarei zur Zivilisation«, der sich in London und fast ganz Großbritannien in seiner Lebensspanne vollzogen hat, mache ihn geradezu sprachlos. Er sah darin »eines der Wunder, die Ökonomie und Bildung zu vollbringen vermochten«. Die Slums mit ihren »schockierenden Hervorbringungen« existierten nicht mehr, und Mitte des 20. Jahrhunderts, so dachte Woolf, könnte sich jemand, der das London der 1880er-Jahre nicht selbst erlebt hat, die Lebensbedingungen der Armen in dieser Zeit nur schwer ausmalen, »in ihren kläglichen Behausungen, voller Armut, Unrat, Trunksucht und Gewalt«.4
Dieser Wandel beschränkte sich nicht allein auf Großbritannien. Stefan Zweig, Memoirenautor wie Leonard Woolf und nur ein Jahr nach diesem in Wien geboren, bemerkte eine deutliche Verbesserung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg dank der Verbreitung elektrischen Lichts. Dieses leuchtete die einst düsteren Straßen hell aus, hellere und besser bestückte Geschäfte zeigten einen »verführerischen neuen Glanz«, die Annehmlichkeiten des Telefons, all der Komfort und Luxus, der bis dahin der vornehmen Gesellschaft Vorbehalten blieb, waren nun auch der Mittelschicht zugänglich. Das Wasser musste nicht mehr vom Brunnen geholt, nicht mehr »mühsam am Herd das Feuer entzündet« werden. Fortschritte bei Hygiene und Sauberkeit stellten sich ein, die grundlegende Lebensqualität stieg Jahr um Jahr, und »selbst das Problem der Probleme, die Armut der großen Massen, schien nicht mehr unüberwindlich«.5
Gewiss sehen wir noch Elend und Mangel in den übelsten Slums der Entwicklungs- und Schwellenländer oder in den letzten Winkeln ländlicher Armut. Für den Großteil der Menschheit jedoch sind dies, wenn überhaupt, Erinnerungen an eine mehr oder weniger ferne Vergangenheit.
Die enormen Verbesserungen der materiellen Lebensbedingungen, der Ernährung, der Wohnverhältnisse, der Gesundheit und der Bildung, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts den größten Teil des Globus erfasst haben, waren eindeutig ökonomischer, aber ebenso gewiss demografischer Natur. Sie spiegeln sich nicht nur in Produktion und Konsum wider, sondern auch in den Zahlen der Neugeborenen, im Rückgang der Kindersterblichkeit, in der Anzahl der Kinder in der jeweiligen Folgegeneration, in der jeweiligen Lebenserwartung und der Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen ihrer Heimatregion, ihrem Land oder ihrem Kontinent den Rücken kehren. All diese Fortschritte lassen sich an Daten über die Bevölkerung ablesen, vor allem an Geburten- und Sterberaten.
Kurz gesagt zeichnen sich die Gesellschaften, in denen die meisten Menschen heute leben, im Gegensatz zu derjenigen, in der Joan Rumbold lebte und in die ihr vom Schicksal geschlagener Sohn im Jahr 1757 hineingeboren wurde, durch eine dramatisch gesunkene Kindersterblichkeit aus: Viel weniger Babys und Kleinkinder sterben, und fast jeder Mensch, der geboren wird, schafft es zumindest bis ins Erwachsenenalter. Ein weiteres Merkmal ist die generell höhere Lebenserwartung, zum Teil als Folge der geringeren Kindersterblichkeit, teils aber auch der Tatsache geschuldet, dass weit weniger Menschen in mittleren Jahren sterben und entsprechend mehr ein reifes Alter erreichen, bisweilen gar so alt werden, wie es noch einige Hundert Jahre zuvor kaum vorstellbar war. Frauen bekommen dank besserer Bildung und entsprechender Wahlmöglichkeiten heutzutage deutlich weniger Kinder. Viele haben gar keine Kinder, und nur die allerwenigsten haben sechs oder mehr, wie es in Großbritannien noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus üblich war. Im Zuge des Wandels der Demografie von Joan Rumbolds Zeiten bis heute ist die Gesamtbevölkerung enorm gewachsen. Noch im 18. Jahrhundert lebten weniger als eine Milliarde Menschen auf unserem Planeten. Heute sind es über sieben Milliarden. Nicht nur die Politik, auch die Wirtschaft und das Zusammenleben heutiger Gesellschaften unterscheiden sich radikal von den Zuständen der Vergangenheit, und dasselbe gilt für die Demografie.
Dieser Prozess, der auf den Britischen Inseln und in den Bruderstaaten der USA und des Britischen Empires etwa um das Jahr 1800 seinen Anfang nahm, erfasste zunächst Europa und später die ganze Welt. Afrika hat diese Umstellung größtenteils noch nicht bewerkstelligt, aber viele Länder sind auch dort zumindest auf dem Weg. Abgesehen vom Afrika südlich der Sahara gibt es...