KAPITEL EINS
ANFÄNGE
Ich wuchs in Chicagos South Side auf, wo ich niemanden aus der Zeitungsbranche kannte und mich hauptsächlich für Baseball interessierte. Nur den Sportteil der Zeitungen las ich, und sonntags auch die Comics. Meine Eltern waren jüdische Einwanderer – mein Vater Isadore kam aus Litauen, meine Mutter Dorothy aus Polen. Sie waren beide direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs in Ellis Island angekommen und hatten sich in Chicago niedergelassen, wo sie sich trafen und heirateten. Ich glaube nicht, dass sie in Amerika ihre Schulabschlüsse gemacht hatten; beide mussten arbeiten und die Familie ernähren. Sie bekamen vier Kinder: Meine Schwestern Phyllis und Marcia, Zwillinge, kamen 1932 zur Welt und sind fünf Jahre älter als mein Zwillingsbruder Alan und ich. Wir alle haben nie ganz verstanden, warum unsere Eltern ihre Heimat verlassen und sich auf den langen Weg nach Amerika gemacht hatten. Es wurde nie darüber gesprochen, genauso wie die fehlende schulische Bildung unserer Eltern nie zur Sprache kam.
Wir gehörten zur unteren Mittelschicht. Mein Vater besaß in 4507 Indiana Avenue, mitten im Zentrum eines schwarzen Gettos in der South Side von Chicago, eine Schnellreinigung. Er arbeitete von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends und musste danach oft noch eine Stunde lang Lieferungen erledigen. Als Al und ich ins Teenageralter kamen, wurde von uns erwartet, an Wochenenden oder besonders geschäftigen Abenden unter der Woche im Laden auszuhelfen. Mein Bruder und ich hatten großen Respekt vor unserem Vater, einem jähzornigen Mann, dessen sonntägliches Vergnügen darin bestand, uns beide früh zu wecken, mit uns im Laden die Böden zu scheuern und dann in ein russisches Badehaus in der West Side zu fahren, was es längst nicht mehr gibt, wo wir schwitzten und mit rauen Birkenzweigen geschrubbt wurden. Danach wurde es auch für uns angenehmer; wir konnten in ein kleines Schwimmbecken hüpfen, und anschließend gab es frischen Hering und Root Beer zum Mittag. Daddy war ein Mysterium. Erst sechzig Jahre nach seinem Tod erfuhr ich, dass er aus Seduva, einem größtenteils jüdischen Dorf ungefähr hundert Meilen nordwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius, stammte. Im August 1941 wurde Seduvas 664-köpfige jüdische Bevölkerung, darunter 159 Kinder, von einer deutschen Kommandoeinheit und litauischen Kollaborateuren aus dem Dorf beordert und nacheinander hingerichtet. Mein Vater sprach nie über Nazideutschland oder den Zweiten Weltkrieg. Auf seine eigene Art war Isadore Hersh gleichzeitig ein Überlebender und ein Leugner des Holocaust.
Erzählt hat mir mein Vater jedoch, dass er nach seiner Ankunft in Amerika Anfang der 1920er-Jahre ein wenig Geld damit verdient hatte, auf der Geige Vogelgesänge zu spielen. Das war lediglich eine Anekdote, bis mein Bruder und ich unter Zwang an Sonntagnachmittagen Geigenunterricht nahmen. Unser Lehrer David Moll war damals, zu Kriegsende, bei den Symphonikern in Chicago Violinist. Al und ich kratzten eine Stunde lang kläglich auf unseren Geigen herum, und anschließend spielten Moll und mein Vater ein Duett nach dem anderen. Unser Vater konnte sehr gut spielen, tat es jedoch nie, abgesehen von diesen Geigenstunden mit Moll. Ich kann mich lediglich an ein anderes seiner Hobbys erinnern: Jeden Monat spielte er an einem Samstagabend mit seinen Landsmännern Karten. Auch sie waren Flüchtlinge aus Seduva, die in Chicago kleine Läden betrieben.
Mein Vater hat Amerika nie ganz verstanden. Als Al und ich in der zehnten Klasse waren, zogen wir von unserer kargen Wohnung in der East 47th Street, einer Gegend, die wir für größtenteils jüdisch hielten, in ein neues Wohngebiet weit entfernt in der Far South Side. Die Idee musste von unserer Mutter gestammt haben. Unser neues Heim war ein Eckhaus mit neuen, in Plastik gewickelten Möbeln und einem kleinen Vorgarten. Wir konnten es nicht ausstehen, obwohl wir jetzt zwei Badezimmer hatten, denn wir waren unseren Freunden und Sportplätzen plötzlich sehr fern. Ein paar Tage nach unserem Umzug stand ich pflichtschuldig neben meinem Vater, der still – er war immer sehr still, bis er sich plötzlich aufregte – unseren Rasen wässerte. Einer unserer neuen Nachbarn kam lächelnd auf uns zu. Er war eindeutig Ire und sprach mit starkem irischen Akzent. Er stellte sich als McCarthy vor und begrüßte uns im Namen der Nachbarn. Mein Vater gab ihm die Hand und erkundigte sich mit kläglicher Miene: »Sie sind nicht zufällig Jude, Mr McCarthy?« Ich weiß bis heute, wie sehr ich mich schämte und dass ich zurück ins Haus lief. Auch für meine Mutter muss es schwierig gewesen sein, sich an Amerika zu gewöhnen, doch sie fand ihre Erfüllung, so vermute ich, im Kochen und Backen. Durch Essen kommunizierte sie mit uns. Man muss zugeben, dass sie eine hervorragende Bäckerin war; ich kann mich noch gut an den Geschmack ihres Apfelstrudels erinnern. Ob ich je persönliche Gespräche mit ihr geführt habe, weiß ich nicht mehr.
Dad rauchte drei Packungen Lucky Strike am Tag – ich fürchtete mich vor seinen nächtlichen Hustenanfällen – und man diagnostizierte bei ihm akuten Lungenkrebs, als ich kaum 16 Jahre alt war. Ich selbst habe deshalb, abgesehen vom einen oder anderen Joint, nie geraucht. Eine Operation blieb erfolglos, und der Krebs breitete sich über ein Jahr lang weiter aus, bis schließlich die Gehirnzellen angegriffen waren. Ich musste ihn pflegen, weil ich weniger Angst davor hatte, ihn zu verärgern und ab und zu das lederne Band zu spüren, das er zum Schärfen seines Rasiermessers verwendete. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist es, ihm voller Ehrfurcht beim Rasieren mit der Furcht einflößenden Klinge zuzusehen. Mein Vater sagte nicht viel, aber innerlich war er wütend auf sein Schicksal, und unseres. Man konnte es spüren. Ende Juli 1954 starb er im Alter von 49 Jahren, einen Monat nachdem mein Bruder und ich unseren Schulabschluss erlangt hatten.
Ich hätte es fast nicht geschafft, weil ich wie mein Vater in ein dunkles Loch gefallen war. Ich hatte immer eifrig gelernt und war um meine Bildung bemüht. Im Alter von ungefähr 13 Jahren war ich einem monatlichen Buchklub beigetreten und schickte gewissenhaft jeden Monat einen Dollar ein, um ein Sachbuch zu erhalten. Meist war das eine antikommunistische Tirade von J. Edgar Hoover oder seinen Gleichgesinnten. Doch es gab auch Ausnahmen – lange Historien der Habsburger Monarchie, Abhandlungen über die römisch-katholische Kirche und die Kreuzzüge des Mittelalters. Die Schule jedoch verlor immer mehr an Bedeutung, während mein Vater langsam abbaute. Ich schwänzte den Unterricht, machte keine Hausaufgaben mehr, war den Lehrern gegenüber frech und zeigte auf verschiedene andere Arten, dass ich Hilfe brauchte, die mir weder in der Schule noch zu Hause zukam.
Mit Alan, der sich seit Jahren für die neue Wissenschaft der Kybernetik und ihren Guru Norbert Wiener vom Massachusetts Institute of Technology interessierte, kam ich überein, dass er Chicago verlassen und sich an der zwei Autostunden entfernten University of Illinois in Urbana-Champaign einschreiben sollte. Im Gegenzug würde er sich nach seinem Abschluss um unsere Mutter kümmern. Al studierte Elektrotechnik und erlangte danach zum Stolz der gesamten Familie einen Doktortitel in Fluiddynamik von der University of California in Los Angeles.
Mir machte das alles nichts aus, denn ich war schon immer mehr als er im Laden unseres Vaters beschäftigt gewesen. Ich wollte dieses Geschäft mit seinem ständigen Geruch nach Dampf, den die Bügelmaschine verbreitete, nicht bankrottgehen lassen und meiner Mutter auch weiterhin Mehl, Töpfe und Pfannen ermöglichen. Ein klarer Fall von Verlagerung. Es tat nichts zur Sache, dass ich gemeinsam mit zwei Mitschülern im letzten Schuljahr das höchste Ergebnis im IQ-Test erzielt hatte. Die beiden anderen Jungen gingen nach Harvard, und ich hatte keinerlei Vorstellungen davon, was ich mit meinem Leben anfangen könnte, außer den Familienbetrieb weiterzuführen. Meine Schwestern waren schon vor einiger Zeit von zu Hause weggegangen, und so waren nur noch meine Mutter und ich übrig, mit einem Zuhause, das ich nicht ausstehen konnte, und dem Laden. Intelligenz zählte zu diesem Zeitpunkt wenig. Aber ich war erwachsen und traf eine Entscheidung, die mir richtig erschien, auch wenn ich dafür weiter in der Indiana Avenue bleiben musste.
Ein paar Wochen nach dem Tod meines Vaters gab mir Benny Rubenstein, der Patriarch des Tempels in unserem alten Viertel, Ratschläge zur Geschäftsethik. Keiner in unserer agnostischen Familie war jemals in den Tempel gegangen, obwohl mein Bruder und ich die dortige Hebräischschule besucht hatten; wahrscheinlich nur wegen des großen Softballfelds, über das die Schule verfügte. Benny, ein Überlebender des Holocaust, war ein kleiner, dünner Mann Ende achtzig mit großer Nase und riesigen Büscheln weißen Haars, die ihm aus den Ohren wuchsen. Es war Hochsommer und sehr heiß, und seine Wohnung hatte wie die aller anderen in unserer alten Wohngegend keine Klimaanlage. Ich hatte ziemliches Muffensausen bekommen, als Benny mich zu sich zitiert hatte, und als ich die Wohnung betrat, schnappte er abrupt...