PROLOG
Der wichtigste Anschiss meines Lebens
Wenn er noch ein Wort sagt, platze ich. Nur noch ein einziges Wort. Was will der Kerl eigentlich von mir? Wieso hackt der so auf mir herum? Das ist doch nicht normal. Das ist verrückt. Ach, was weiß ich denn, was es ist. Hochgradig ungerecht ist es jedenfalls!
Ich sitze zur Halbzeit in der Kabine von Real Madrid. Meinem Verein. Der Platz rechts neben mir ist frei. Eigentlich sitzt Karim Benzema dort. Doch der macht sich schon warm, weil er in der zweiten Halbzeit eingewechselt werden soll. Sami Khedira spielt gedankenverloren an seinen Schuhen herum. Cristiano Ronaldo guckt in die Luft. Und José Mourinho, unser Trainer, schimpft. Und schimpft. Und schimpft. Vor allem mit mir. Eigentlich geht es in der gesamten bisherigen Ansprache nur um mich.
Dabei bin ich doch gerannt wie blöd. Habe ganz gut gespielt. Ehrlich. Ich würde es mir ja eingestehen, wenn es nicht so wäre. Wir führen 3:1 gegen Deportivo La Coruña. Nach sechzehn Minuten ist unser Gegner in Führung gegangen. Doch dann haben wir das Spiel gedreht. Innerhalb von 21 Minuten hat Cristiano Ronaldo zweimal getroffen, zudem war auch noch Ángel Di María erfolgreich.
Die beiden spielen auf den Flügeln, vorne drin steht Gonzalo Higuaín. Hinter mir spielen Khedira und Luka Modrić im defensiven Mittelfeld und halten mir den Rücken frei. Eigentlich ist alles okay. Aber anstatt uns zu loben, auch mich, bekomme ich wieder was auf den Deckel. Auch in den Wochen zuvor hat Mourinho mich schon auf dem Kieker gehabt. Gegen Rayo Vallecano ließ er mich zunächst auf der Bank schmoren. Bei unserer Niederlage gegen Sevilla holte er mich zur Halbzeit runter. Okay, da konnte ich ihn sogar verstehen. Wir lagen schon nach der ersten Minute nach einem Tor von Piotr Trochowski hinten und haben uns alles andere als mit Ruhm bekleckert.
Aber jetzt? Wir haben alle Charakter bewiesen. Ich hatte das Spiel im Griff. Die Pässe kamen an.
Na gut, ein bisschen, ein ganz kleines bisschen, habe ich die letzten Minuten vor dem Pausenpfiff schon nachgelassen. Das stimmt. Da kann ich dem Trainer, der meinen Einsatz kritisiert, nicht widersprechen. Statt im Vollsprint hinterherzugehen, fand meine Rückwärtsbewegung ein-, zweimal nur im Trab statt. Ich war nur noch mit achtzig, neunzig Prozent bei der Sache. Aber trotzdem war ich nicht schlecht. Ist das jetzt wirklich ein Grund, mich vor versammelter Mannschaft so anzublaffen?
Ich tausche einen flüchtigen Blick mit Sergio Ramos. Meinem Freund. Ich mag den Kerl wirklich gerne. Dann verliere ich mich wieder in meinen Gedanken, während Mourinhos Kabinen-Donnerwetter weitergeht.
Ich mag Kabinen nicht besonders. Ganz gleich, wo sie sich befinden. Egal, ob sie altehrwürdig wirken oder hochmodern. Egal, ob sie im Stadion sind oder am Trainingszentrum. Ich weiß, dass es Fußballfans auf der ganzen Welt in die Kabinen ihrer Teams zieht. Dass unsere Umkleiden wie ein Magnet auf sie wirken. Alle wollen einen Blick ins Heiligtum der Fußballvereine werfen. Viele sind sogar bereit, Geld zu bezahlen, um bei Stadionführungen den Spind von Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi zu sehen.
Für mich haben Kabinen aber nichts Mythisches. Sie versprühen keinen Zauber. Sie sind nicht besonders. Natürlich sind Kabinen Kontrollzentren. Sie erinnern an den Tower am Flughafen. Der Trainer agiert hier wie ein Fluglotse, der die Richtung vorgibt. Aber trotzdem ist es kein heiliger Ort. In der Halbzeitpause oder kurz vor dem Spiel sind Kabinen für mich vor allem wie ein Käfig. Ich will dort raus. So schnell wie möglich. Wie ein Tiger, der nach Freiheit lechzt. Aber in der Kabine läuft die Zeit langsamer. Die Viertelstunde bis zum Wiederanpfiff kommt mir immer viel länger vor. Weil ich endlich wieder in die Arena will, um weiterzukicken!
Die Kabine dient nur der Vorbereitung. Der Platz, der Rasen ist meine Bühne. Er elektrisiert. Hier gehöre ich hin. Es ist eine Befreiung für mich, den Platz zu betreten. Im Privatleben kann man zwischendurch immer mal wieder Schwierigkeiten haben, Streit, Diskussionen, Unstimmigkeiten. Aber auf dem Fußballplatz gibt es für mich keine Probleme. Diese neunzig Minuten, manchmal auch mehr, wenn es Verlängerung gibt, bedeuten Frieden für mich. Puren Genuss. Dabei muss der Rasen nicht einmal perfekt gemäht sein. Ich brauche keine akkurat gezogenen Kreidelinien. Ich muss für meine Zufriedenheit nicht einmal die perfekten Schuhe tragen. Ich muss einfach nur kicken können. Der Fußballplatz macht mich glücklich. Nicht die Kabine, dieser beengte Ort, mal sechzig Quadratmeter groß, mal achtzig.
Ich will raus aus diesem Käfig. Vor allem jetzt, in diesem Moment der Demütigung.
Mourinho steht in der Mitte der Kabine. Er redet und redet und redet. Eigentlich brüllt er mehr: Mesut hier, Mesut da. Mesut dies. Mesut das.
Ich versuche, auf Durchzug zu stellen. Die Kritik abprallen zu lassen. Weil ich merke, wie es innerlich immer mehr bei mir zu brodeln beginnt.
»Du denkst, zwei schöne Pässe reichen«, schreit Mourinho. »Du bist dir zu fein dafür, in Zweikämpfe zu gehen. Du denkst, dass du so gut bist, dass fünfzig Prozent genug sind.«
Er hält inne. Starrt mich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Ich starre zurück. Wie zwei Boxer beim Stare-Down vor der ersten Ringrunde.
Er zeigt keine Regung. Wartet nur auf eine Reaktion von mir. Wie sehr ich ihn gerade hasse! Dabei liebe ich José Mourinho eigentlich.
Er allein ist der Grund, warum ich 2010 von Werder Bremen zu Real Madrid gegangen bin. Es war keine Entscheidung für den Verein. Es war eine Entscheidung für ihn. Für den Menschen José Mourinho. Ich wollte zu ihm. Und zu keinem anderen.
Seit 2008 hatte ich diesen dringenden Wunsch. Damals, Anfang Oktober, hatte ich mit Werder Bremen im Giuseppe Meazza gegen Inter Mailand gespielt. Im Tor der Italiener stand Júlio César. Die Sturmreihe bildeten Adriano, Zlatan Ibrahimović und Mario Balotelli. Was für Namen. Was für eine Mannschaft. Taktisch so brillant eingestellt eben von José Mourinho. Gleich in der ersten Minute lag Adriano quer in unserem Strafraum in der Luft und versuchte es mit einem Seitfallzieher, den er nur wenige Zentimeter über das Tor von Tim Wiese ballerte. Kurze Zeit später verfehlte Ibrahimović nur ganz knapp, als er das Außennetz traf. Nach vierzehn Minuten lagen wir durch einen Treffer von Maicon zurück.
Inter war stark. Machte in dieser Phase alles richtig. Manchmal schaute ich bei Spielunterbrechungen für wenige Sekunden zu Mourinho und beobachtete, wie er seine Mannschaft dirigierte. Diese Leidenschaft, mit der er sein Team von der Seitenlinie aus motivierte. Und wie positiv er dabei gegenüber seinen Spielern immer blieb. Das faszinierte mich.
In der 62. Minute setzte ich mich auf dem linken Flügel durch, flankte ziemlich perfekt auf Claudio Pizarro, der zum Ausgleich traf: 1:1. Wieder riskierte ich einen kurzen Blick zu Mourinho, der, so bildete ich es mir zumindest ein, ein wenig beeindruckt wirkte. Nach dem Spiel schüttelte er mir kurz die Hand. Beglückwünschte mich mit einem kräftigen Hieb auf den Rücken. Jetzt hatte er mich. Noch in der Nacht sagte ich zu meinem damaligen Berater Reza Fazeli: »Irgendwann werde ich unter José Mourinho spielen.«
Was mir an Mourinho so gefiel? Es war die Art, wie er sprach, wie er sich bewegte, sein eleganter Kleidungsstil, er wirkte in jedem Moment kontrolliert und unheimlich souverän. Diese Ausstrahlung kannte ich insbesondere zu dieser Zeit nur von ganz wenigen Trainern.
Zwei Jahre später, nach der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, wollte er mich dann tatsächlich in sein Team holen. Mourinho hatte gerade mit Inter Mailand die Champions League gewonnen. Anschließend wurde sein Wechsel zu Real Madrid bekannt.
Fünf Vereine kamen zu dieser Zeit für mich infrage. Arsenal London war bereits interessiert. Manchester United ebenfalls. Auch Bayern München. Sowie Barcelona und Real Madrid.
Mein Berater traf sich mit Bayern. Die Bosse erzählten ihm, was sie mit mir vorhaben, wie sie mich einsetzen wollen. Die gleichen Gespräche führte er anschließend mit den übrigen Klubs. Doch 2010 war Bayern noch ein deutliches Stück von Real Madrid und Barcelona entfernt. Gerade erst hatten sie unter Louis van Gaal das Champions-League-Finale in Madrid gegen Inter unter Mourinho verloren. Die beiden spanischen Klubs waren, ganz objektiv betrachtet und mit Blick aufs weltweite Ansehen, größer, glänzender, bedeutender. Nur sie kamen für mich daher infrage.
Als ich dann wenig später mit meinem Cousin Serdar, meinem Bruder Mutlu und guten Freunden, darunter Baris und Ramazan, einige Tage in einem Ferienhaus auf Mallorca verbrachte, kam mein Berater zu mir und sagte, dass sich José Mourinho telefonisch bei uns melden werde.
Ich weiß noch genau, wie sich meine Gedanken überschlugen, als mir mein Berater vom bevorstehenden Telefonat berichtete. Es war ja nicht irgendein Gespräch. Es war das Gespräch schlechthin.
Ich bin keiner, der gerne und viel redet, der von sich aus im Mittelpunkt steht und es schafft, dass die Leute gebannt an seinen Lippen hängen. Und vor allem konnte ich weder Portugiesisch noch Italienisch noch fließend Englisch. Ich hatte also keine Chance, direkt mit Mourinho zu sprechen. Dabei hatte ich so viele Fragen, die ich loswerden wollte. Während ich an das Telefonat dachte, wurde mir ganz schwindelig. Ich war so nervös wie vor dem ersten Telefonat mit einem Mädchen, in das ich als Junge verliebt war.
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