Einführung:
DIE GESCHICHTE HAT EINEN BART
Die heutige Welt hat einen stetig wachsenden Trend zu verzeichnen: Bärte. Der Konsumgüter-Riese Procter & Gamble berichtete 2014, dass eben jener Haarwuchs die Nachfrage nach Gillette-Rasierern und Rasierzubehör reduziert habe. Ein bei der Zeitschrift Atlantic mitwirkender Wissenschaftler erklärte das Jahr 2013 zum »Meilenstein für die Gesichtsbehaarung«1. Die bauernschlauen Langbärte der Reality-TV-Sendung Duck Dynasty und die schnauzbärtigen Baseballspieler der Boston Red Sox machten ebenso Schlagzeilen wie der Bartklau in einer Amischen-Gemeinde in Ohio, der Wirbel um die Gesichtsfusseln eines BBC-Nachrichtensprechers, die Kampagne der Sikhs gegen das Bartverbot in der US Army sowie das Wiederaufkommen des Schnauzbarts in Frankreich bzw. der Türkei, ganz zu schweigen vom wachsenden öffentlichen Interesse am »Movember« (»Moustache November«), dem jährlichen Fundraising-Event in Australien, während dem sich die Männer demonstrativ einen Bart wachsen lassen.
Ist dies der Beginn einer neuen Ära oder nur eine kleine Unwucht in der Kulturgeschichte? Es bleibt abzuwarten. Eines aber ist sicher: Veränderungen bei der Gesichtsbehaarung sind niemals nur eine Frage der Mode. Bärte und Schnurrbärte besitzen eine solche Macht, dass sie selbst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten der Kontrolle von Verwaltung und Unternehmen unterliegen. US-Bürger besitzen keinen Rechtsanspruch auf das Tragen eines Barts oder Schnurrbarts, dies bestätigte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof im Fall Kelley gegen Johnson im Jahr 1976, welches die Befugnis des Arbeitgebers bekräftigte, über das äußere Erscheinungsbild seiner Angestellten zu bestimmen. Solcherlei Freiheitsbeschränkungen deuten stark darauf hin, dass es hier um mehr als einen modischen Stil geht. Tatsächlich weist die Geschichte des Barts keinerlei Modezyklen auf, sondern langsamere richtungsweisende Veränderungen, bedingt durch tiefer liegende gesellschaftliche Kräfte, welche unsere Vorstellung von Männlichkeit formen und wieder umformen. Bei jeder Neudefinition von Männlichkeit verändert sich der Stil der Gesichtsbehaarung entsprechend.
Judith Butler, die Koryphäe der Gender Studies, behauptet, dass unsere Worte, Handlungen und Körper nicht einfach Ausdruck unserer Persönlichkeit sind; mit ihnen setzten wir unser männliches oder weibliches Ich zusammen. Oder anders gesagt: Unsere Identität formt sich ständig neu anhand dessen, was wir tun und sagen.2 So gesehen ist das Rasieren oder Modellieren unserer Gesichtsbehaarung seit jeher nicht nur wichtig gewesen, um Männlichkeit auszudrücken, sondern um Mann sein zu können. Die Gesellschaft wiederum setzt akzeptierte Männlichkeitstypen durch, indem sie die Gesichtsbehaarung reguliert. Womit wir beim ersten Grundsatz der Bartgeschichte angekommen wären: Am Gesicht lassen sich die Spielarten dessen, was männlich ist, ablesen. Religionen, Nationen und politische Bewegungen stellen eigene Normen und Werte auf und setzen die menschliche Haartracht und andere Symbole ein, um diese Wertvorstellungen in der Welt zu propagieren. Sollte es Streitigkeiten wegen gegensätzlicher Leitbilder von Männlichkeit geben, kann der unterschiedliche Umgang mit Gesichtsbehaarung auf den eigenen Standpunkt hindeuten.
Die Vorstellung, unsere Gesichtsbehaarung sei eine rein persönliche Angelegenheit, hält sich indes hartnäckig, trotz zahlreicher Belege für das Gegenteil. In den heutigen USA zum Beispiel kann man wegen des Tragens eines Barts mit Schimpf und Schande aus dem Militär gejagt, von seinem Arbeitgeber gefeuert, in einem Boxkampf disqualifiziert werden, einen politischen Wettkampf verlieren oder sogar als Terrorist abgestempelt werden. Diese Realität hängt auch mit dem zweiten Grundsatz der Bartgeschichte zusammen: Gesichtsbehaarung ist politisch. Da das Bild von echter Männlichkeit eng mit gesellschaftlicher und politischer Autorität verknüpft ist, hat jedes Symbol von Männlichkeit eine gewisse politische und moralische Bedeutung. Was wiederum erklärt, weshalb Gesichtsbehaarung große Empörung hervorrufen kann und der sozialen Kontrolle unterliegt.
Ein weiterer Irrtum besteht darin, dass es eine Frage der Bequemlichkeit sei, ob man sich rasiere oder nicht, und dass die Vorherrschaft der glatten Wange den Fortschritten der Rasiertechnologie zu verdanken sei. Die Wahrheit liegt woanders. Das Rasieren ist so alt wie die menschliche Zivilisation selbst, und fehlende moderne Annehmlichkeiten haben die Gesellschaft nie davon abgehalten, sich der symbolischen Kraft der Haarentfernung zu bedienen. Womit wir beim dritten Grundsatz der Bartgeschichte angelangt wären: Die Sprache der Gesichtsbehaarung beruht auf dem Gegensatz zwischen rasiert und unrasiert. Auf dieser grundlegenden Unterscheidung und ihren zahlreichen Spielarten beruhend, haben die westlichen Gesellschaften ein visuelles Vokabular für Persönlichkeit und soziales Zugehörigkeitsgefühl geschaffen.
Die Geschichte lehrt uns, dass wir den derzeitigen Trend zum Bart nicht vorschnell als Beginn einer neuen Ära deklarieren sollten. Ungeachtet einiger Sportstars und Hollywood-Sternchen stellt ein glattes Gesicht noch immer die Norm dar. Das beweist die Beliebtheit von Bart-Klubs, denn ihr Erfolg beruht auf der Annahme, dass das Tragen eines Barts oder Schnurrbarts ein gewagtes Unterfangen sei. Tief greifende Veränderungen der Normen für Gesichtsbehaarung stellen sich äußerst selten ein, und wenn sie es tun, dann deuten sie auf einen echten Wandel der Geschichte hin. Deshalb gilt als vierter Grundsatz der Bartgeschichte: Die das männliche Gesicht prägenden Kräfte bedürfen einer langfristigen Betrachtung. Historiker, die sich auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeitspanne konzentrieren, laufen Gefahr, das große Ganze aus den Augen zu verlieren, das erst im Laufe der Jahrhunderte zum Vorschein kommt. Mit der Bartgeschichte verhält es sich nämlich wie mit einem Mosaik: Je weiter weg man sich befindet, desto schärfer erscheint einem das Bild.
Anhand des Beispiels von Alexander dem Großen lassen sich sämtliche dieser Dimensionen auffächern. Dieser Mann hat den Lauf der westlichen Zivilisation geändert und das Gesicht männlicher Ehrbarkeit genauso. Durch die Eroberung Ägyptens und Persiens machte er sich selbst und seine griechischsprachigen Kollegen zu den Herrschern der bis dato bekannten Welt. Und doch wählte er für sich ein Aussehen – Porträts, Statuen und Münzen zeigen ihn mit jugendlichem und sauber rasiertem Gesicht –, das in der Tradition Griechenlands weithin als unmännlich verschrien war. Wieso hat er das getan? Wichtiger noch, wieso ahmten ihn achtbare griechische und römische Männer die nächsten vierhundert Jahre lang nach? Die Antwort darauf lautet, dass er sich als Halbgott begriff und auch danach aussehen wollte. Da die mythischen Helden wie Achilles und Herakles von den damaligen Künstlern als ewig jung und bartlos dargestellt wurden, rasierte Alexander der Große sich und ermunterte seine Gefolgsleute dazu, es ihm gleichzutun. Er besaß große Überzeugungskraft. In der Antike imitierten die Männer der Elite – beziehungsweise Männer von geringerem Rang, die nach Höherem strebten – seine Aufmachung, um das Heroische auch in sich selbst anzudeuten. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Marotte oder eine Modeerscheinung, sondern um machtvolle Symbolik. Erst nach vielen fetten Jahren für die Herrenfrisöre der Antike wandelte sich die Philosophie dessen, was männliche Ehre ausmacht, und zerstörte schließlich die Macht des rasierten Ideals.
Jedes Kapitel des vorliegenden Buchs behandelt eine bestimmte Ära der Bartgeschichte, vom Ursprung der großen Städte Mesopotamiens und Ägyptens bis zum Aufstieg des glatthäutigen »Metrosexuellen« in unserer Zeit.
In den dreiundzwanzig Jahrhunderten, nachdem Alexander der Große Schule gemacht hatte, war das Rasieren der Standardmodus männlicher Aufmachung gewesen und wurde von vier großen Bartbewegungen unterbrochen. Die erste dauerte etwa ein Jahrhundert und wurde durch den römischen Kaiser Hadrian im zweiten Jahrhundert angestoßen. Während der zweiten Phase, die im Hochmittelalter stattfand, ergänzten Könige, Adlige und Ritter ihre prunkvollen Rüstungen durch Vollbärte. Diese Strömung war jedoch nicht allumfassend. Männer der Kirche rasierten sich, insbesondere nach dem elften Jahrhundert, als ihnen dies vom Kirchenrecht regelrecht vorgeschrieben wurde. Das Rasieren war Teil der wohlüberlegten Bemühungen um eine ganz eigene Sorte von Männlichkeit, die wiederum ihren ganz eigenen Anspruch auf spirituelle und politische Autorität geltend machte. Dieser »Haar-Dualismus« hatte sich jedoch bis zum späten vierzehnten Jahrhundert aufgelöst, als die Laien den glatt rasierten Look der Geistlichen übernahmen. Die Renaissance brachte dann eine dritte Bartbewegung hervor, die größtenteils vom Widerstand gegen die kirchlichen Werte und Aufmachungen des Mittelalters inspiriert war. Der vierte und letzte Auswuchs von Bärten war vergleichsweise kurz und umfasste lediglich die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. In dieser schwatzhaften und ziemlich verklemmten Ära hielten die Männer nicht hinterm Berg mit ihrem Bestreben, eine neue Männlichkeit für die moderne Welt kreieren zu wollen.
Um die Trends der Gegenwart abschätzen zu können, müssen wir sie vor diesem Hintergrund betrachten, unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Kräfte, die das Gestalten des Körpers beeinflussen und umgekehrt. Wer die Konferenztische der Großunternehmen, die Räume des Kapitols und die Speisesäle des Militärs...