Einführung
In unserem Leben haben Probleme mit der Sexualität einen zentralen Stellenwert. In der Psychotherapie geben sexuelle Störungen wichtige diagnostische Hinweise auf innerseelische und beziehungsdynamische Konflikte. Darüber hinaus zählt die Verbesserung des sexuellen Erlebens zu den wesentlichen therapeutischen Anliegen. Es gibt nun einmal keine menschlichen Probleme, die sich nicht auch in der Sexualität niederschlagen und ausdrücken würden. Gelingt es, die sexuelle Zufriedenheit zu verbessern, hat das immer auch positive Auswirkungen auf den ganzen Menschen und sein Sozialverhalten.
Sexualität ist ein Geschehen, an dem kein Mensch vorbeikommt, aber leider gibt es nach wie vor keine ausreichend gute Anleitung für diese so wichtige wie angenehme Angelegenheit. Unwissen, Halbwissen, Vorurteile, Missverständnisse, Einseitigkeiten, Fehlentwicklungen und Störungen sexueller Funktionen sind immer noch weit verbreitet, obwohl oder gerade weil es inzwischen eine Unmenge an für jeden verfügbaren sexuellen Informationen und Darstellungen gibt.
Meiner Einschätzung nach wird über die Konzentration auf die Äußerlichkeiten des Geschlechtslebens häufig das Wichtigste, das sexuelle Innenleben, vernachlässigt. In vielen Fällen können wir davon ausgehen, dass Behinderungen des inneren Erlebens – vor allem der Lust – kompensatorisch durch äußere Anregungen und künstliche Reize ausgeglichen werden sollen. Diesem Typ von Fehlentwicklung begegnen wir oftmals in unserem Verhalten und unseren sozialen Organisationen: Innere Not und Befriedigungsdefizite sollen durch äußere Animation, durch materielle Besitztümer, durch Macht und besonderes Ansehen kompensiert und die innerseelischen Spannungen auf äußere – häufig künstlich aufgebaute – Feindbilder projiziert werden. Das gilt auch für Partnerschaften und das Sexualleben, wenn der Partner dazu gebraucht wird, um innere Spannungen abzureagieren oder innere Nöte und Defizite zu lösen bzw. zu kompensieren.
Solche Projektionen sind weit verbreitet: Sie beginnen schon in den Familien, die ihr «schwarzes Schaf» hervorbringen, setzen sich fort beim Außenseiter in der Schule, mit dem enttäuschenden Partner, dem ungerechten Vorgesetzten, dem bösen Nachbarn, dem politischen Gegner und dem Feind, der die ganze Gesellschaft bedroht. Vermieden werden soll auf diese Weise die Einsicht in die eigenen Schwierigkeiten, in die eigenen Fehler und Begrenzungen. Diese weit verbreitete Vermeidungsstrategie kann für die individuelle Gesundheit und das soziale Zusammenleben auf Dauer verhängnisvolle Konsequenzen haben. Denn Wahrheiten, die unerkannt bleiben oder verleugnet werden, können aus unbewusster Tiefe Erkrankungen hervorrufen oder destruktives Sozialverhalten bewirken.
Die Fülle sexueller Probleme, wie ich sie in 40 Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit kennenlernen konnte (und leider auch musste), haben mich zu diesem Buch motiviert. Ich möchte mit ihm Hinweise darauf geben, wie sexuelle Unzufriedenheit begründet sein, aber auch wie sie überwunden werden kann. Dabei haben sich mehrere Problemfelder gezeigt, die ich hier einführend erwähnen will und um deren tieferes Verstehen ich mich in den nachfolgenden Ausführungen bemühe:
1. Sexualität darf nicht vom Leistungsdenken beherrscht sein. Es geht nicht darum, viel zu «machen», sondern zu lernen «zuzulassen». Insofern ist die Sexualität ein Hauptgegenspieler der eskalierenden Leistungsgesellschaft und wird deshalb bei allen kränkeln, die sich dem Leistungsdruck zu sehr ausliefern oder ihn sogar anheizen. Andererseits kann Sex einen angenehmen Ausgleich zu einem stressreichen Leben herstellen und eine wichtige Regulationsfunktion bei den unvermeidbaren Anstrengungen des Lebens übernehmen.
2. Sexualität eignet sich nicht als Instrument für Geltung, Macht, Kontrolle, Strafe oder Rache. In vielen Fällen sexueller Störungen dominieren solche seelischen Motive, angelockt durch die Chance, eine intime Situation, in der sich der andere einem ausliefert, zu missbrauchen. Wer sexuelle Lust im ganzheitlichen Sinne erreichen will, sollte sich zuerst darum bemühen, innerseelische und Beziehungskonflikte zu erkennen und aufzulösen.
3. Sexuelle Bedürfnisse oder Aktivitäten sind stets ein Gemisch aus triebhaft-biologischen und kulturell-psycho-sozialen Vorgängen. Es geht immer um die Abstimmung von Kopf, Herz und Genitalien. Ein in Partnerschaften sehr häufig anzutreffender Typ von Konflikt kommt dadurch zustande, dass Zärtlichkeiten, körperliche Nähe und Berührungen gesucht werden, aber Sex gemacht wird. Dann wird Sexualität wie ein «Zahlungsmittel» für Geborgenheit benutzt. Dies beeinträchtigt das lustvolle Erleben, belastet die partnerschaftliche Abstimmung und lässt das Sehnsuchtsbedürfnis am Ende doch wieder nur enttäuscht und unerfüllt zurück. Im Idealfall finden zärtliche und geile Bedürfnisse zueinander. Auf dem Weg dorthin müssen diese unterschiedlichen Bedürfnisse aber verstanden worden sein, um sie auseinanderhalten und auch getrennt befriedigen zu können. Nicht selten geht es dann darum, in schmerzvoller Einsicht auf unerfüllbare Sehnsucht verzichten zu lernen, um damit nicht gegenwärtige Beziehungen zu belasten und reale Lustchancen zu vergeben.
4. Die Spaltung von Liebe und Sex ist ein großes Thema gestörter Sexualität und konfliktgeladener Beziehung. Die eigene Liebesfähigkeit hängt sehr stark von der Liebe ab, die man als Kleinkind erfahren hat. Der erlittene Liebesmangel wird fast regelmäßig in die Partnerschaften hineingetragen, in der Hoffnung, dass es dort endlich zur ersehnten Erfüllung kommt, die aber nachträglich nie mehr wirklich gelingen kann. Auf diese Weise wird die Liebeshoffnung häufig sexualisiert: Der Sex soll dann die Liebe ermöglichen. Das muss Konflikte ergeben. Erlebter Liebesmangel lässt sich nur als leidvolles Defizit emotional verarbeiten. Eine von früher Sehnsucht befreite partnerschaftliche Sexualität, die Lustentfaltung und Entspannung ermöglicht, ist dagegen eine großartige Chance für eine dankbare, durch gegenseitige Anerkennung getragene Beziehung, die im Miteinander die Partnerschaft reifen und alte Wunden verheilen lässt. Wenn klar geworden ist, dass kein Partner den elterlichen Liebesmangel auszugleichen vermag, wird der Beziehungsraum frei für gegenwärtige und reale liebevolle Zuwendung und Bestätigung. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass über Beziehungslust und Körperlust reale Liebe und Sexualität zueinanderfinden und sich gegenseitig stabilisieren. Reale Liebe ist immer weniger als die Sehnsuchtsliebe, bietet aber stets auch mehr Befriedigung, als wenn Enttäuschung und Frust eine Partnerschaft chronisch belasten.
5. Dadurch wird auch verständlich, dass jeder Einzelne für die Gestaltung seiner Sexualität und Lusterfahrung selbst verantwortlich ist. Man kann diese Aufgabe nicht delegieren und die Verbesserung eigener Probleme vom Sexualpartner erwarten.
6. Wir müssen zwischen Sexualität im Dienste der Fortpflanzung und im Dienste der Lust unterscheiden. Beides kann sich erheblich beeinflussen: Ein Kinderwunsch kann die Lust entfachen, Angst vor Schwangerschaft die Lust töten. Deshalb sollte die Frage potenzieller Schwangerschaft zwischen den Partnern immer gut abgesprochen und miteinander geklärt sein. Wenn Kinder kommen, bevor die sexuelle Lust entdeckt und entfaltet werden konnte, bleibt das ein belastendes Defizit für die weitere Entwicklung partnerschaftlicher Sexualität; denn die Betreuung von Kindern wird die Eltern immer in besonderer Weise beanspruchen und wenig Zeit und Raum für sexuelle Erfahrungen lassen. Viele Elternpaare sind schon froh, wenn sie auch nur kurz ungestört Zeit füreinander finden und dabei nicht zu erschöpft und abgelenkt sind («mit einem Ohr bei den Kindern»). Schwangerschaften haben manchmal auch die Funktion, sexuelle Lust- und Hingabestörungen – Näheängste – zu überdecken und mit dem Hinweis auf den besonderen «Zustand» oder die Mühen der Kinderbetreuung die Sexualität so weit als möglich zu vermeiden. In dem Fall, in dem die sexuelle Beziehung vor allem narzisstische Bedürfnisse befriedigen soll, wird die Fortpflanzung im besonderen Maße zur Last und aus diesem Grund häufig vermieden und versäumt.
7. Sexualität ist einerseits eine großartige Möglichkeit – und häufig der einzige verbleibende Freiraum –, Gefühle zu zeigen und den Kontakt zu natürlichen, vegetativen Prozessen zu pflegen. Andererseits stellt sie für viele ein besonderes Risiko dar, in Angst zu geraten und dadurch verletzt zu werden, dass man sich öffnet und Kontrollverlust zulässt. Sexualität birgt immer die Gefahr in sich, unerwünschte Gefühle, seien sie angst- oder lustvoller Art, zu aktivieren, was die Hingabe natürlich erheblich beeinträchtigen kann. Lustangst ist ein trauriges Thema und leider eine häufige Realität.
8. So müssen wir zwischen sexueller Aufgeklärtheit » und sexueller Reife unterscheiden. Sexuelle Reife ist nicht durch Wissen, Technik und vielfache Erfahrungen zu...