Einleitung
An den 1. Mai 2011 kann ich mich gut erinnern. An jenem Tag, einem Sonntag, war ich in Nashville, Tennessee, der Hauptstadt der Countrymusik, wo ich einen Tag später vor Polizeibeamten aus ganz Amerika einen Vortrag zum Thema Radikalisierung halten sollte. Die Konferenz fand in einem riesigen Hotelkomplex statt, dem Gaylord Opryland, und ich hatte mich gerade in meinem Zimmer eingerichtet, als die amerikanischen Nachrichtensender ihr Programm unterbrachen. Präsident Barack Obama werde um 22 Uhr eine Erklärung abgeben, hieß es. Das Timing war ungewöhnlich, und keiner der sonst so gut informierten Korrespondenten wusste, was los war. Viele meiner Facebook-Freunde glaubten, dass es um den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi (1942–2011) ging, gegen den der Westen damals Krieg führte. Doch Obama hatte einen anderen Bösewicht im Sinn. Zwei Stunden später trat der Präsident vor die Kamera und gab bekannt, dass amerikanische Spezialeinheiten Osama Bin Laden, den Anführer al-Qaidas und Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, getötet hatten.
Noch während der Ansprache klingelte bei mir das Telefon. Doch die Ersten, die meine Einschätzung zu hören bekamen, waren die etwa 200 Polizeibeamten, vor denen ich am darauffolgenden Tag meinen Vortrag hielt. In einem mit Gitarren, Cowboyhüten und goldenen Schallplatten dekorierten Konferenzsaal erklärte ich, dass die Operation gegen Bin Laden vor allem von symbolischer Bedeutung sei. Bin Laden habe in den letzten Jahren kaum eine praktische Rolle gespielt. Sein Tod werde nicht zu einer dauerhaften Schwächung der dschihadistischen Kampagne führen. Panikmache und Weltuntergangsszenarien – so wie in den Monaten nach dem 11. September 2001 – seien fehl am Platz, aber vom Terrorismus, speziell dem dschihadistischen, gehe nach wie vor eine Gefahr aus. Die Bedrohung sei »ernst, aber nicht existentiell«– eine Formulierung meines Kollegen David Schanzer von der Duke-Universität, die ich bei Vorträgen häufig verwendete.1
Mit meiner vorsichtigen Beurteilung stand ich im Frühjahr 2011 fast allein da. Auf beiden Seiten des Atlantiks hatte sich damals unter Politikern und Experten ein fester Konsens etabliert: Die Ära des dschihadistischen Terrorismus neigt sich dem Ende zu. Vor der Tötung Bin Ladens waren bereits 20 seiner engsten Mitstreiter durch Drohnenangriffe ums Leben gekommen. Und die friedlichen Demonstrationen während des Arabischen Frühlings – zuerst in Tunesien und Ägypten, dann in fast allen anderen Staaten der arabischen Welt – versprachen ein neues Zeitalter der Freiheit und Demokratie, in dem die dschihadistische Gewalt wie ein Anachronismus wirkte. Leon Panetta, der amerikanische Verteidigungsminister, sprach bereits von einer »strategischen Niederlage« al-Qaidas.2 Ein Experte an einer Washingtoner Denkfabrik forderte Präsident Obama gar auf, er solle den »Krieg gegen den Terror« beenden und sich zum Sieger erklären.3
Vier Jahre später klingen solche Prognosen absurd. Es gibt heute mehr dschihadistische Gruppen als je zuvor. Der Forscher Seth Jones vom amerikanischen RAND-Institut kam nach einer im Jahr 2014 veröffentlichten Studie auf 49: von al-Qaida und seinen Filialen in Somalia, dem Jemen, Nordafrika und Syrien bis hin zu Nigerias Boko Haram, den pakistanischen Taliban und einer ganzen Reihe obskurer, im Westen fast völlig unbekannter Gruppen in Bangladesch, den Philippinen, dem russischen Nordkaukasus und anderswo. Seit dem Jahr 2010 sind Jones zufolge 19 Gruppen dazugekommen. Darunter auch der »Islamische Staat« (IS), dessen Anführer Mitte 2014 ein Kalifat ausrief, das sich mittlerweile über 900 Kilometer – vom syrischen Aleppo bis vor die Tore der irakischen Hauptstadt Bagdad – erstreckt und Kämpfer aus aller Welt rekrutiert. Die Zahl der Dschihadisten hat sich laut Jones im selben Zeitraum mehr als verdoppelt und beträgt aktuell zwischen 45 000 und 105 000 – die meisten davon aus Ländern des Arabischen Frühlings.4
Das Anwachsen der dschihadistischen Bewegung seit 2011 ist dramatisch, und obwohl die Mehrheit der Gruppen und Kämpfer derzeit im Nahen Osten aktiv ist, wird diese Entwicklung nicht ohne Konsequenzen für Europa bleiben. Meine These ist, dass die Anschläge in Paris und Kopenhagen Anfang 2015 keine Einzelfälle waren, sondern erste, sehr dramatische Hinweise darauf, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf den Straßen Europas abspielen wird. Europa, so mein Argument, steht am Beginn einer neuen Welle des Terrorismus, die uns noch eine Generation lang beschäftigen wird. Die Lage ist deshalb so gefährlich, weil die Anzahl der Dschihadisten viel höher ist als in der Vergangenheit; weil wir es mit neuen, zum Teil noch sehr jungen Rekruten zu tun haben; und weil sich innerhalb der dschihadistischen Bewegung ein Konkurrenzkampf entwickelt hat, der Anschläge im Westen begünstigt.
Der hieraus resultierende Terrorismus wird vielen Menschen in Europa das Leben kosten. Aber es gibt noch eine zweite, mindestens genauso große Gefahr: dass sich unsere Gesellschaften polarisieren; dass Parteien und militante Gruppen am rechten Rand an Zulauf gewinnen; und dass – in letzter Konsequenz – das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft in Europa schwieriger wird. Die neue Welle des Terrorismus kostet nicht nur Menschenleben, sondern ist auch eine Bedrohung für Minderheiten wie europäische Juden und – nicht zuletzt – die Muslime, deren gesellschaftliche Integration, politischer Status und physische Sicherheit auf dem Spiel stehen. Die neuen Dschihadisten, die dieses Buch beschreibt, sind eine Herausforderung für die Sicherheitsorgane, aber – mehr noch – für unsere Demokratie und das europäische Gesellschaftsmodell.
Zu diesem Buch
Mein Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten versuche ich, das Phänomen historisch einzuordnen. Terrorismus gab es schon vor den Dschihadisten, und auch terroristische Wellen sind nicht unbekannt. Das Wellen-Konzept stammt von dem amerikanischen Historiker David Rapoport, der damit die Entwicklung des modernen Terrorismus zusammengefasst hat.5 Nach Rapoport hat es seit dem späten 19. Jahrhundert vier Wellen gegeben, die er als »anarchistisch«, »antikolonialistisch«, »Neue Linke« und »religiös« beschreibt. Jede dieser Wellen begann in einem, führte aber zu Terrorismus in vielen anderen Ländern und dauerte ungefähr eine Generation, 25 bis 30 Jahre. Rapoports Konzept betrachtet den Terrorismus nicht isoliert von politischen Ideen, sondern als deren Ergebnis. So ist jede der vier Wellen untrennbar mit einer radikalen politischen Bewegung verbunden, die für einige ihrer Teilnehmer mit dem »Marsch durch die Institutionen« endete und für andere im Untergrund. Die neue Welle, von der dieses Buch handelt, fügt sich nahtlos in diesen Zyklus ein.
Treffend ist auch, dass sich Rapoport auf den revolutionären, nichtstaatlichen Terrorismus beschränkt. Als Professor, der einen Master-Kurs zum Thema Terrorismus leitet, ist mir bewusst, wie umstritten die Idee des Terrorismus ist und wie häufig der Begriff missbraucht wird, um politische Gegner oder radikale Bewegungen zu diskreditieren. Auch weiß ich, dass es keine international vereinbarte Definition des Terrorismus gibt und dass sich Staaten genauso terroristischer Methoden bedienen können wie nichtstaatliche Akteure.6 Für die Dschihadisten im Nahen Osten ist der Terrorismus – der Einsatz schockierender, oft symbolischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele – nicht mehr die einzige Methode der Kriegsführung. Doch der kommende Konflikt in Europa wird auch weiterhin durch ihn geprägt sein.
Im zweiten Teil des Buches erkläre ich dann, woraus die neue Welle besteht. Ihr Entstehen ist untrennbar mit dem Arabischen Frühling und – ganz besonders – dem Konflikt in Syrien und dem Irak verbunden. Der Islamische Staat, der hier Wurzeln geschlagen hat, ist für die neuen Dschihadisten gleichermaßen Utopie, Inspiration und logistischer Dreh- und Angelpunkt. Er ist das Zentrum einer neuen, totalitären Bewegung, die Zehntausende junger Muslime davon überzeugt hat, ihre Heimat zu verlassen und in den Krieg zu ziehen. Darunter sind mindestens 4000 Westeuropäer, von denen einige nach ihrer Rückkehr zur Elite der neuen Dschihadisten gehören werden. Zu den Unterstützern der Auslandskämpfer zählen Tausende europäischer Salafisten, die der Islamische Staat in den vergangenen Jahren in seinen Bann gezogen hat. Ob als »einsame Wölfe« oder Teil festerer Strukturen, durch sie droht die Gefahr vergleichsweise einfacher, aber im hohen Maße schockierender Anschläge. Ein weiteres Element der neuen Welle sind die Überbleibsel der alten: die Netzwerke der al-Qaida, die mit dem Islamischen Staat konkurrieren und nun mit spektakulären Operationen im Westen beweisen müssen, dass es sie noch gibt.
Meine Prognose klingt deshalb bedrohlich, weil sie es ist. Doch Panikmache ist genauso wenig meine Absicht wie das Schüren antiislamischer Stimmung. Im Gegenteil: Rapoports Wellen-Konzept zeigt, dass der Terrorismus nicht immer islamisch war und dass deshalb eine Religion, die seit 1400 Jahren existiert und mehr als anderthalb Milliarden Anhänger hat, nicht pauschal als gewalttätig verurteilt werden kann. Mein Argument ist nicht, dass die neuen Dschihadisten nichts mit dem Islam zu tun hätten, aber genauso falsch wäre es, deren extreme Interpretation als den einzigen, den wahren Islam hinzustellen, so wie es viele der sogenannten Islamkritiker tun. Wer das Buch bis zum Ende liest, wird verstehen, dass die Zielgruppe, aus denen sich die neuen Dschihadisten rekrutieren, nicht »die Muslime« sind, sondern eine schrille, aber zahlenmäßig sehr kleine Minderheit: die...