Eine Vorrede
Dieses Buch ist eine Botschaft aus der Zukunft. Wenn’s dumm läuft. Aus Ihrer Zukunft. Aus unserer Zukunft. Im Moment läuft es gerade ziemlich dumm. Für Sie. Für uns. Deshalb ist dieses Buch entstanden. Geboren wurde es in der Nacht, in der Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Beendet wurde es in den Monaten, die Xi Jinping zu einem »von der Geschichte Auserwählten« machten, wie die Wahrheitssuche schrieb, die Zeitschrift der Parteihochschule in Peking. Die Geschichte ist oft ein träger Strom, auf dem wir treiben, ohne überhaupt wahrzunehmen, dass er fließt. Im Moment ist das anders. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, Zeuge zu sein bei einem jener Momente, in denen das Schauspiel, das sich Geschichte nennt, fast physisch greifbar wird. Es geschieht etwas. Mit uns. Und mit China. Und beide Seiten sind nicht mehr voneinander zu trennen.
Ein Leben nach der Abschaffung der Wahrheit, eingebettet in »Fake News«, manipuliert durch »alternative Fakten« – ich lebe das seit zwanzig Jahren. Als Korrespondent in der Türkei (von 2005 bis 2012), vor allem aber in China: In China habe ich in den Achtzigerjahren studiert, dann als Journalist gearbeitet, das erste Mal von 1997 bis 2005, später noch einmal von 2012 bis 2018. Die Herrschaft mittels der Lüge ist wahrscheinlich so alt wie die Einrichtung der Herrschaft selbst, und doch schockiert uns im Westen die Rückkehr der Autokraten und Möchtegern-Autokraten und mit ihnen die Rückkehr der schamlosen Lüge als Machtinstrument in unsere Mitte. Wir hatten uns eingerichtet in dem bequemen Glauben, diese Techniken und die damit verbundenen politischen Systeme seien Auslaufmodelle. Und dann wird Donald Trump zum mächtigsten Mann ausgerechnet jener Demokratie gewählt, die so vielen als Vorbild galt. Einer, der seinen Hass und seine Ignoranz ernst meint, der daran geht, die Grundlagen dessen zu zerstören, was unser privilegiertes Leben die letzten Jahrzehnte überhaupt erst möglich gemacht hat. Einer, der den Rivalen China zwar rüde anrempelt, der aber gleichzeitig unverhohlene Bewunderung äußert für die schrankenlose Macht seines Herrschers. Einer, der Europa in die Zange nehmen will. Noch einer. Autokraten allerorten wittern Morgenluft, reichen sich die Hand mit den Krawallpopulisten in unseren Ländern.
Zeit, dass wir aufhorchen. Hinschauen. Insbesondere nach China. Dort entsteht gerade etwas, was wir so noch nicht kannten. Ein neues Land, ein neues Regime. Die Kommunistische Partei Chinas hat ihren Parteichef Xi Jinping dort hingesetzt, wo seit Mao Zedong keiner mehr war. Ganz oben. Über sich nur noch den Himmel. China hat jetzt wieder einen »Steuermann«. Xi ist der mächtigste chinesische Führer seit Jahrzehnten, und er herrscht über ein China, das so stark ist wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Eine Nation, die sich mit großem Ehrgeiz aufmacht, noch stärker zu werden – wirtschaftlich, politisch, militärisch. Eine Nation, der die Selbstdemontage des Westens wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß fiel. Ein Regime, dem mit den Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts und ihren radikal neuen Möglichkeiten der Kontrolle und der Manipulation Machtinstrumente bereit stehen, über die noch kein Diktator verfügen konnte. Und so machen sich Xi und seine Partei an die Neuerfindung der Diktatur fürs Informationszeitalter. In bewusster Konkurrenz zu den Systemen des Westens. Und das hat gewaltige Implikationen für die Demokratien dieser Erde.
Das China, das uns die letzten vier Jahrzehnte begleitete, das China Deng Xiaopings (1904 – 1997), der seinem Land nach dem Tod Mao Zedongs (1893 – 1976) ein Programm von »Reform und Öffnung« verschrieb, es ist nicht mehr. Xi Jinping hat seinem Volk und der Welt ein »neues Zeitalter« versprochen, und in der Tat baut er an einem neuen China. Beide, Volk und Welt, haben Grund, nervös zu sein. Wo Deng Xiaoping Pragmatismus verschrieb, huldigt Xi Jinping wieder der Ideologie: Er predigt Marx und praktiziert Lenin mit lange nicht gesehener Wucht und Strenge, und weil er spürt, dass Marx vielen Leuten nichts mehr sagt, schenkt er ihnen noch Konfuzius und stürmischen Nationalismus dazu. Wo Deng dem Land Öffnung und Neugier predigte, schottet Xi China wieder ab.
Nicht dass Xi seiner Partei etwas Wesensfremdes aufdrücken würde, eher im Gegenteil: Er exekutiert ihre geheimsten Wünsche mit einer verblüffenden Wucht. Gerade noch stellten sich nicht wenige Parteikader selbst die heimliche Sinnfrage: Wozu eigentlich braucht es sie noch, die Partei, dieses bald einhundert Jahre alte Vehikel einer längst untergegangenen Ideologie aus einer längst untergegangenen Zeit? Wo aber die Partei nach Zerfall roch, da schenkte Xi ihr neue Stärke und Disziplin, wo sie orientierungslos vor sich hin dämmerte, da flößte er ihr wieder eine Bestimmung ein. Sie dankt es ihm, indem sie ihn schon zu Lebzeiten in den Pantheon ihrer großen Denker aufnimmt und mit fast schrankenloser Macht ausstattet. Xi erinnert wieder alle daran, dass dieses Land einst Beute der Partei war. Es fiel ihr zu als der Siegerin in einem Bürgerkrieg. In China gehört die Armee bis heute der Partei und nicht dem Staat. Der Staat selbst, auch er gehört der Partei. Und die Partei, die gehört nun wohl ihm. Sie fügt sich ihrem Sinnstifter, der aus der Einparteiendiktatur wieder eine Einmanndiktatur macht.
»Retter des Sozialismus« nennt die Partei Xi. Und sie meint: »Retter unserer Macht«. Das Schicksal der Sowjetunion scheint Xi im Innersten umzutreiben. »Was fehlte, war ein richtiger Mann!«, soll er einmal gesagt haben. Nicht in China. China hat jetzt ihn, Xi Jinping. Und zwar lebenslang. Den baldigen Kollaps dieses Systems prophezeit kaum einer mehr, die Partei kann es sich leisten, wieder in großen Zeiträumen zu denken. Das Jahr 2024 wird ein epochales Jahr für die Partei. Dann hat sie die in der Sowjetunion gescheiterte Schwesterpartei KPdSU überholt, dann wird die KP Chinas die am längsten regierende kommunistische Partei der Weltgeschichte sein.
Der Westen darf sich nun endgültig von jenem Wunschdenken verabschieden, das ein weiser Autor vor Jahren schon als »Chinafantasie«[1] entlarvte: Die Vorstellung nämlich, dass wirtschaftliche Öffnung und wachsender Wohlstand automatisch eine politische Liberalisierung Chinas mit sich bringen würden. Wandel durch Handel: Das war vielen lange Zeit eine praktische und beruhigende Vorstellung – wider alle Evidenz. Diese KP war eben auch eine, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte: eine, die sich den Kapitalismus einfach einverleibte und als »Sozialismus chinesischer Prägung« ausgab, ein Wunderwesen von phänomenaler Anpassungskraft.[2] Ihren autokratischen Kern gab sie dabei nie auf, aber in den letzten Jahrzehnten hatte es wenigstens im Unterbauch des Landes und auch der Partei stets Reformströmungen, originelle Debatten, verblüffende Experimente und mutige Tabubrecher gegeben.
In Xi Jinpings China ist das nicht länger so. Er hat sie alle trockengelegt, die nicht orthodoxen Strömungen. Zuchtmeister Xi tritt an, das Gegenteil zu beweisen, nämlich dass eine strenge Autokratie viel besser geeignet ist, ein Land wie China groß und mächtig zu machen, ja, dass es zur Verwirklichung seines »chinesischen Traums« der starken Diktatur der Partei geradezu bedarf. Xi macht deshalb Schluss mit wichtigen Prämissen der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings. Sein China ist nicht länger ein Staat, der dem wirtschaftlichen Erfolg alles unterordnet – im Zentrum steht nun die politische Kontrolle. Seine Partei ist keine mehr, die Aufgaben abgibt an den Staat, an die Unternehmen, an die Zivilgesellschaft, an die Medien, die sich Freiräume erkämpft hatten. Xi hat die Freiräume wieder ausgelöscht. Er hat es geschafft, in nur einer Amtszeit eine nervöse, von Krisenstimmung gebeutelte KP in seinen eisernen Griff zu bekommen und eine vielfältige, lebendige, manchmal unbotmäßige Gesellschaft zu »harmonisieren«, wie das in China heißt, also die Stimmen der Andersdenkenden zu ersticken und jeden Winkel dem Gebot der Partei zu unterwerfen. Der sich unkorrumpierbar gebende Xi säubert das Land und die Partei, auch ideologisch. Kein Fleckchen China soll es mehr geben, über dem nicht ihr wachsamer Blick ruht. Tatsächlich macht Xi die Partei noch ein ganzes Stück gottgleicher, als sie schon immer war. Noch allwissender, noch allgegenwärtiger.
Xi geht also mit einem Bein einen Riesenschritt zurück in die Vergangenheit. Ihm steckt der Leninismus in den Knochen. Und die Lust auf Macht. Manche vergleichen ihn mit Mao Zedong, aber der Vergleich hinkt stark: Mao war der ewige Rebell, der im Chaos aufblühte. Der Kontroll- und Stabilitätsfetischist Xi Jinping ist in vielem geradezu die Antithese zu Mao. Xi ist kein Revolutionär, er ist ein Technokrat, allerdings einer, der sich geschmeidig bewegt im Labyrinth des Apparats.
Ein Experiment aus Maos Erbe allerdings erlebt gerade ein Comeback: Die KP übt sich erneut in lückenloser Gedankenkontrolle, sie versucht wieder einmal, den neuen Menschen zu formen. Bloß glaubt die Partei diesmal – im zweiten Anlauf –, weit bessere Chancen zu haben: Chinas Diktatur unterzieht sich gerade einem Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts. Mit dem anderen Bein nämlich geht Xi einen Riesenschritt in die Zukunft, an einen Ort, nach dem schon viele Diktatoren gesucht haben, an dem aber noch keiner war. Die Zeiten, da die Partei etwa dem Internet nervös und bang gegenüberstand, sind längst vorbei. Das Regime hat nicht...