1
WAS PARTNERSCHAFTEN BEGRÜNDET UND WESHALB ES PESSIMISTISCHE PAARTHERAPEUTEN GIBT
Wenn ich mit Paaren an der Verbesserung ihrer Beziehung arbeite, lautet eine meiner Standardfragen: »Es gibt mehr als sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten, mehr als dreieinhalb Milliarden Männer und über dreieinhalb Milliarden Frauen. Weshalb sollten Sie ausgerechnet diesem Menschen an Ihrer Seite Ihren Arm anbieten und sagen: Komm, wir gehen den Weg gemeinsam?« Ich bin jedes Mal überrascht, welch innovative Antworten die Menschen in Sekundenbruchteilen finden, weil sie denken, dem Herren Paartherapeuten schnell eine akzeptable Antwort liefern zu müssen. Die Antworten sind zuweilen so innovativ, dass ich ein zweites Mal nachfragen muss, um mir selbst den Sinn des eben Gesagten zu vergegenwärtigen.
40 Jahre nach der Erstausgabe von Jürg Willis »Die Zweierbeziehung«, ein Meilenstein der Paarforschungsliteratur, beobachte ich, dass es den meisten Menschen schlicht und ergreifend egal ist, wie Partnerschaften entstehen, was Paare zusammenhält oder trennt und was die wissenschaftlich betriebene Psychologie zu den Motivationen von Paarbildung und -bindung zu sagen hat. Obwohl die entsprechende Literatur gut zugänglich und in der Regel leicht zu verstehen ist, interessieren sich verhältnismäßig wenige Menschen für diese Fragen, während deutlich mehr Menschen in einer Partnerschaft leben (und sich mit Partnerschaftsproblemen auseinandersetzen müssen) oder sich eine erfüllende Partnerschaft wünschen. Vermutlich ist es nicht so, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse falsch wären oder die zugrunde liegenden Fragestellungen irrelevant, sondern vielmehr scheinen sich die Menschen von anderen Überlegungen leiten zu lassen, die häufig so oder so ähnlich klingen: »Zuerst suche ich mir einen passenden Partner, und was dann kommt, werden wir sehen. Es wird schon gutgehen, denn meine Eltern haben das ja auch irgendwie hinbekommen.« Paare lernen sich am Arbeitsplatz, im Studium, auf Partys bzw. über gemeinsame Freunde oder seit einigen Jahren über Internetplattformen kennen, verabreden sich, verlieben sich, verbringen gemeinsam schöne Stunden und sind »plötzlich« ein Paar, weil es sich gut und richtig anfühlt. Und weil es sich gut und richtig anfühlt – insbesondere solange der Körper die einschlägigen Hormone ausschüttet, die uns in einen regelrechten Rausch zu versetzen vermögen –, kann es so falsch nicht sein. Die Frischverliebten sind optimistisch, gemeinsam auch schwierigere Zeiten meistern zu können, denn solange ich mich in Gegenwart des Partners wohlfühle, haben wir ein Team, das gemeinsam mehr schaffen kann als jeder für sich allein. Was für ein großartiger Zufall, dass ausgerechnet wir uns getroffen haben! Auf dich habe ich mein Leben lang gewartet! Bingo!
Dieses unbestreitbar wundervolle Gefühl, den richtigen Menschen für alles gefunden zu haben, was gemeinsam leichter ist und mehr Spaß macht als allein, verschleiert die eingangs erwähnten Fragen nach der eigentlichen Motivation für die Zweierbeziehung. Meine Beobachtungen bei der Arbeit mit Paaren legen sogar die Vermutung nahe, dass viele Menschen lieber nicht über ihre eigene Motivation oder die Motivation ihres Partners nachdenken möchten, weil die Wahrheit unter Umständen unerträglich schmerzhaft ist. Es erfordert sehr viel Stärke, sich einzugestehen, dass man vielleicht nur zweite Wahl gewesen ist, weil der Ehemann eigentlich eine andere Frau haben wollte, die er nicht bekommen hat; oder dass man selbst nicht für seinen eigenen Lebensunterhalt sorgen kann und einen Ernährer und Finanzier braucht; oder dass man zu faul oder ungeschickt ist, sein Essen selbst zu kochen oder seine Hemden selbst zu bügeln; oder dass man eigentlich primär als liebevoller Papa und Versorger willkommen ist, aber die Ehefrau eigentlich kein Interesse am Mann bzw. Menschen hat; oder dass die Partnerin ohne Schulabschluss seit ihrer Kindheit an einem instabilen Selbstwert leidet und ihre Wahl primär auf einen Akademiker fallen musste, um endlich »Frau Dr.« zu werden; oder dass man als Alkoholiker für jeden Nicht-Alkoholiker vollkommen unattraktiv ist und man deshalb als Partner einen anderen Alkoholiker anzog, der froh war, jemanden zu haben, der sich um ihn kümmert; oder dass man einfach nicht allein sein kann und jemanden braucht, der mehr Interaktionsmöglichkeiten als ein Hund bietet. Derartige Überlegungen sind schmerzhaft und können eine enorme Belastung für die eigene Psyche und die Partnerschaft insgesamt darstellen, und je besser die Verdrängung der schmerzhaften Tatsachen funktioniert, umso weniger Leid muss der Einzelne aushalten. Nur eine verschwindend kleine Minderheit der Paare macht sich zu Beginn der Partnerschaft bewusst Gedanken darüber, warum sie denn überhaupt ein Paar sein wollen und warum es ausgerechnet dieser eine Mensch (aus über 7 Milliarden Möglichkeiten) sein soll, mit dem man den gemeinsamen Weg gehen möchte. Die Mehrzahl der Paare gibt Antworten, die sich in die Kategorien »gemeinsam Spaß haben«, »sich gegenseitig unterstützen«, »eine Familie gründen« oder »sich lieben« einordnen lassen, und einige reagieren sogar gereizt oder verstehen (vorgeblich) den Sinn der Frage nicht, weil derartige Überlegungen für sie neu sind. Und eine gar nicht so seltene Antwort lautet: »Ich bin da einfach so reingerutscht.«
Häufig genannte Motive bei der Partnerwahl
- Äußerliche Ähnlichkeiten (Körpergröße, Gewicht, Kleidung)
- Ähnliches oder höheres Einkommensniveau
- Status des Partners
- Gesundheit
- Gemeinsame Interessen, Hobbys, Freundeskreis
- Ähnliche religiöse oder politische Einstellung
- Sicherheit, Verlässlichkeit, Treue
- Ähnliche Familienplanung, Kinderliebe
- Alter des Partners
- Bildungsgrad und Intelligenz
- Respektvolles Auftreten
- Offenheit, Ehrlichkeit
- Geduldiger, toleranter Charakter
- Sexuelle Aktivität und sexuelles Interesse
- Ordentlichkeit, Sauberkeit
- Ähnliche Vorstellungen bei der Haushaltsführung
- Übereinstimmung in finanziellen Fragen
- Physische Attraktivität (Körpermerkmale)
- Leidenschaft
Menschen beginnen und führen Partnerschaften aus ganz unterschiedlichen Motiven. Diese Faktoren werden regelmäßig durch psychologische Umfragen, soziologische Studien, Tests in Zeitschriften oder entsprechende Literatur beleuchtet, veröffentlicht und wohlwollend zur Kenntnis genommen, und sie spiegeln wider, was sich Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt von einer Partnerschaft versprechen, was sie zu finden hoffen, welche Bedürfnisse oder Sehnsüchte sie durch die Partnerschaft zu stillen versuchen und was oder wen sie attraktiv finden. Wenn die Sexualität eine wichtige Rolle im Leben eines Menschen einnimmt, wird er tendenziell einen Partner suchen, mit dem Sexualität gemeinsam gelebt und erlebt werden kann. Wenn man selbst nicht in der Lage ist, einen Haushalt zu führen, sucht man jemanden, der das gut kann und die Aufgabe bereitwillig übernimmt. Wer eine Familie gründen möchte, wird einen Partner suchen, der entweder eine gute Mutter oder einen engagierten Versorger abgibt. Wer sich selbst seinen Lebensstil nicht finanzieren kann, findet diejenigen Menschen besonders attraktiv, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen und die Rechnung gerne und großzügig übernehmen. Es gibt Hunderte dieser Motivationen, sie treiben die Menschen häufig unbewusst und können sich mit den Jahren wandeln.
Laut (Allensbach 2012) glaubt 66 % der deutschen Bevölkerung an »die Liebe fürs Leben«, was impliziert, dass die Befragten grundsätzlich bereit zu sein scheinen, auch sich verändernden Lebenszielen und -umständen anzupassen und eine Beziehung auch dann noch zu führen, wenn »nichts mehr so ist wie am Anfang«. Die Fähigkeit, diesen Wunsch auch in die Tat umzusetzen, entscheidet darüber, wie nahe sich zwei Menschen im Rahmen der Paarbeziehung kommen können und ob sie langfristig (also in einer Jahre bzw. Jahrzehnte andauernden Partnerschaft) das erleben, was in diesem Buch »Intimität« genannt werden wird.
Weshalb »zueinander passen« Beziehungsprobleme nicht verhindert
Wenn Menschen sagen, sie wünschen sich einen Partner, der zu ihnen passt, sprechen sie fast immer von dem, was die Paarforschung eine funktionierende »kollusive Allianz« (von lat. colludere »zusammenspielen, unter einer Decke stecken«) nennt. Bei einer kollusiven Allianz passen die Vorlieben und Erwartungen der Partner so zusammen, dass sie sich relativ mühelos ergänzen und zueinander passen wie der Schlüssel ins Schloss. Die Menschen ergänzen sich hinsichtlich bestimmter eigener Bedürfnisse und gehen damit einen meist unbewussten »Tauschhandel« ein. Je mehr Ebenen des Tauschhandels existieren, umso perfekter erscheint den Beteiligten die Passung. Beispiele für kollusive Passungen sind:
Eine Frau, die leidenschaftlich gerne kocht, sucht sich einen Partner, der leidenschaftlich gerne isst. Durch ihre Kochkünste erhöht sie einerseits das körperliche Wohlbefinden des Partners, andererseits erhält sie Anerkennung für das, was sie auf den Tisch zaubert.
Ein praktisch veranlagter Mann wählt eine Frau, die in handwerklichen Belangen eher unbeholfen ist. Während sie dankbar dafür ist, dass ihr jemand den Reifendruck prüft und die Glühbirnen wechselt, fühlt er sich gebraucht und erhält von ihr regelmäßig die Anerkennung, »es gut gemacht« zu haben.
Eine Frau, die gerne Mutter werden...