DIE WIENER RINGSTRASSE
DAS GRÖSSTE STÄDTEBAULICHE PROJEKT DES 19. JAHRHUNDERTS IN EUROPA
EIN BOULEVARD IN HUFEISENFORM
Als Gesamtkunstwerk des Historismus ist die Ringstraße das bedeutendste und größte Ensemble dieser Epoche, die in Wien als die Ringstraßenära in die Geschichte einging. Der für ihre Architektur stilbildende Historismus wird gerne als Ringstraßenstil bezeichnet. Die Form eines Hufeisens verleiht dem Boulevard seinen unverwechselbaren und einzigartigen Charakter und jene Architekturformen, die Europa in den letzten 2.000 Jahren prägten, begegnen einem in historistischer Form auf dem Ring. Die Ringstraße ist zudem ein Spiegelbild des wechselnden Selbstverständnisses der Habsburger-Monarchie, in der Zeitgeist und Politik eine Symbiose eingingen. Somit ist es eine lohnende Aufgabe, den Einfluss, den die Geschichte Österreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Entstehung des Ringensembles nahm, zu durchleuchten.
In der Zeit des Historismus schließt man an bewährte Traditionen an und schafft mit Hilfe historisierender Formen dennoch etwas vollkommen Neues, indem man ältere Motive zitiert und Stile mischt. Einerseits will man zwischen dem neuen Bau und den historischen Leistungen eine Kontinuität herstellen, andererseits ist der gewählte Stil insofern auch ein symbolisches Programm, als er auf die Funktion und Nutzung des Gebäudes hinweist. Die Architekten greifen auf jene Stile zurück, die der Bestimmung des Neubaus am besten entsprechen. Da architektonischen Formen bestimmte Charaktereigenschaften innewohnen, ordnet man dem Bau einen gewissen Stellenwert zu – es gilt diese Botschaften zu entschlüsseln.
Die drei wesentlichen Phasen des Historismus finden sich an der Ringstraße wieder. Der Romantische Historismus wählt nach Art eines Eklektizismus verschiedene historisierende Formen aus und komponiert einen Mischstil. Die Gebäude werden generell ohne Sockel in das Rastersystem der Grundfläche eingefügt. Die Staatsoper und die Wohnbauten auf dem Kärntner Ring wurden in dieser ersten Phase zu Beginn der Gründerzeit errichtet.
Der Strenge Historismus zieht einen Stil, der eine politische Aussage trifft, als tonangebend für ein Bauwerk vor. Diese Gebäude ruhen, Monumenten gleich, auf hohen Sockeln, was ihre Erhabenheit unterstreicht, die untrennbar mit der Funktion des Baus in Zusammenhang steht. Die Mehrzahl der Nutzbauten, wie Rathaus, Parlament oder Universität sind Zeugen dieser zweiten Phase.
Der Barockhistorismus orientiert sich in den Einzelformen am Barockstil, fasst aber die Architektur mit einer stark betonten räumlichen Gestaltung der Fassade wie eine Plastik auf.
Kein Bauwerk auf der Ringstraße ist einer konkreten historischen Kunstrichtung eindeutig zuzuordnen.
Architekten aus ganz Europa beteiligten sich an dem Ideenwettbewerb zu der Gestaltung des neuen Boulevards, der der Residenzstadt der Donaumonarchie – der am raschesten wachsenden Stadt Europas – den Charakter einer neuen Metropole geben sollte. Die Habsburgermonarchie war von der Fläche her der zweitgrößte Staat in Europa, von der Einwohnerzahl gesehen lag sie an dritter Stelle und zählte zu Beginn des 20. Jahrhunderts 50 Millionen Einwohner.
Man träumte davon, die berühmten Pariser Boulevards sogar noch zu übertreffen, wie sich Presseberichten vom 25. September 1859 entnehmen lässt.
DIE ANLAGE DER RINGSTRASSE EINE HISTORISCHE SPURENSUCHE
Es war „die“ Neuigkeit zu Weihnachten des Jahres 1857, die die Wienerinnen und Wiener wachrüttelte: Franz Joseph I. hatte ein Handschreiben an den einstigen Revolutionär und nunmehrigen Innenminister Alexander Freiherr von Bach verfasst, in dem er die Anlage der Ringstraße anordnete.
Am Morgen des 25. Dezember veröffentlichte die Wiener Zeitung die kaiserliche Willensbekundung:
Lieber Freiherr v. Bach! Es ist mein Wille, dass die Erweiterung der inneren Stadt Wien mit Rücksicht auf eine entsprechende Verbindung derselben mit den Vorstädten ehemöglichst in Angriff genommen und hiebei auch auf die Regulierung und Verschönerung Meiner Residenz- und Reichshauptstadt Bedacht genommen werde. Zu diesem Ende bewillige ich die Auflassung der Umwallung und Fortifikationen der inneren Stadt, sowie der Gräben um dieselbe.
Jener Theil der durch Auflassung der Umwallung der Fortifikationen und Stadtgräben gewonnenen Areal und Glacis-Gründe, welcher nach Maßgabe des zu entwerfenden Grundplanes nicht einer anderweitigen Bestimmung vorbehalten wird, ist als Baugrund zu verwenden und der daraus gewonnene Erlös hat zur Bildung eines Baufondes zu dienen, aus welchem die durch diese Maßregel dem Staatsschatze erwachsenden Auslagen, insbesondere auch die Kosten der Herstellung öffentlicher Gebäude, sowie die Verlegung der noch nöthigen Militär-Anstalten bestritten werden sollte.
Die neoabsolutistische Herrschaft Kaiser Franz Josephs I. gleicht am Beginn seiner Regierungszeit einer Militärdiktatur. Es besteht daher die Intention die Stadt zu militarisieren. Gerade in diese Zeit fällt die Konzeption der Ringstraße als äußerst breite Straße von fast 57 Metern, die im Fall einer möglichen Revolution die rasche Truppenverschiebung ermöglicht. Erste Ansätze zur Stadterweiterung gab es seit den 1830er Jahren durch die Freigabe zur Bebauung des äußersten Glacisrandes. Doch das Verbauen des 500 Meter breiten Glacisstreifens scheiterte an den Einsprüchen des Militärs. In der Planungsphase dachte man, die Ringstraße vorrangig als militärische Aufmarschstraße, deren Endpunkte zwei Kasernen, die Franz-Josephs- und die Roßauer Kaserne bildeten. Es drängt sich somit auf, den versteckten militärischen Charakter der Anlage zu demaskieren.
Die im Gebiet des heutigen Stubenrings gelegene Franz-Josephs-Kaserne war Teil des „Festungsdreiecks“, in das man Wien nach der Revolution von 1848 gezwängt hatte.
Nach der Niederlage von 1859 gegen Piemont-Sardinien und Frankreich änderte sich das politische Profil Österreichs. Das Königreich Lombardei ging verloren und der Neoabsolutismus neigte sich seinem Ende zu. Das Bürgertum ergriff nun seinerseits die Chance der aktiven politischen Betätigung; dieser Kurswechsel spiegelte sich in der Anlage des „Bürgerforums“ wider. Die Errichtung von Parlament, Rathaus – im gotischen „Oppositionsstil“ des Bürgertums – und Universität wurde erst möglich, als man auf die militärische Nutzung des Geländes zwischen Hofburg und Roßauer Kaserne verzichtete.
Das Kaiserhaus verewigte sich schließlich im „Kaiserforum“, das unvollendet blieb, und damit zum Symbol der zunehmenden Schwäche der Monarchie wurde.
Die Ringstraße entwickelte sich nun zu einem Prachtboulevard, an dem die Paläste der Regierung, Verwaltung, Bildung und Kunst entstanden. Neben dem geschwächten Kaiserhaus waren es vor allem Politiker, Bankiers und Industrielle, die die Möglichkeit nutzten, sich an dieser repräsentativen Straße selbst darzustellen. Die Bürger traten als Bauherrn und Mäzene auf. Der zuletzt gestaltete Ringstraßenbereich war das Stubenviertel, das erst nach dem Schleifen der Franz-Josephs-Kaserne 1901 bebaut werden konnte. Hier unternahm man einen letzten Versuch, in einem national nicht festgelegten Stil, dem Jugendstil, eine für die gesamte Monarchie verbindliche Formensprache zu finden. Diese Idee scheiterte jedoch, da der Jugendstil bald einer bestimmten politischen Gruppe zugeordnet wurde, nämlich dem liberalen Bürgertum. Somit verlor er seine Attraktion für die um Einheit kämpfende Regierung der Monarchie. Das den Stubenring architektonisch beherrschende Kriegsministerium wurde im Neobarock gebaut, dem dominierenden Stil der ausgehenden Monarchie. In Zeiten außenpolitischer Niederlagen, die die Franzisko-Josefinische Ära kennzeichneten, besann man sich der Zeit der größten Machtausdehnung Österreichs, der Barockzeit; und beschwor sie indirekt herauf, indem man neobarock baute.
Durch die zweite Stadterweiterung, im Rahmen derer 44 Vororte zwischen 1890 und 1910 eingemeindet wurden, stieg die Einwohnerzahl der Hauptstadt auf zwei Millionen. Somit war Wien um 1900 die sechstgrößte Stadt Europas geworden.
Der Plan zeigt das Glacis, das sich zwischen der Stadt und ihren Vorstädten erstreckte und als militärisches Sperrgebiet unbebaut war.
DIE VORGESCHICHTE
Der Stadtkern von Wien war seit dem beginnenden 13. Jahrhundert nicht mehr gewachsen. Damals hatten die Babenberger mit einem Teil des Lösegeldes, das sie für die Freilassung des widerrechtlich festgenommenen englischen Königs und Kreuzfahrers Richard Löwenherz erhalten hatten, die Stadt über den Graben hinaus erweitert; und in diesem starren Korsett blieb sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts.
Aufgrund der anhaltenden Türkengefahr...