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Domestic New York.
Einblicke in die Servicewelt
In der Lobby
Eine ganze Weile wohnen wir nun schon auf Manhattans Upper West Side, in einem Apartmenthaus am Broadway, das Komfort oder sogar Luxus verspricht, wie tausende andere Häuser in dieser Stadt auch. Unser Haus ist eines jener typischen Wohnhotels, das manche Leute als Lebensoption rundherum ablehnen. Ihnen widerstrebt diese Variante des betreuten Wohnens, das gewährleistet wird von einer vielköpfigen Besatzung aus Portiers, Rezeptionisten, Hausmeistern und sonstigen helfenden Händen. Rund um die Uhr werden hier die Mieter freundlich überwacht. Vielerlei Wünsche werden einem erfüllt, es wird einem ungefragt die Tür aufgehalten, Koffer und Pakete werden bei Bedarf in die Wohnung getragen. Zum Standard gehören meist auch ein Kinderspielraum, ein Gym, ein Swimmingpool, eine Dachterrasse – in besseren Häusern dann auch vielleicht noch ein Zen-Meditationsraum, eine Squashhalle oder eine Bibliothek, Dinge, nach denen man nicht unbedingt verlangt hat, die aber das Leben unter Umständen angenehmer machen und die natürlich in der Miete inbegriffen sind. Fast fühlt man sich gelegentlich an Bord eines Kreuzfahrtschiffes versetzt, nur verbringen wir hier nicht die schönsten Wochen des Jahres, sondern das halbe Leben. Dieses weit verbreitete New Yorker Komfortwohnen verträgt sich nur schlecht mit deutschen Vorstellungen von Autonomie und Selbermachen. Man wird hier dauernd an die Hand genommen und freundlich bevormundet, und man lässt es sich gefallen, weil ja das Leben draußen angeblich schon hart genug ist.
Am frühen Morgen versammeln sich im Eingangsbereich schon die häuslichen Helferinnen, die Kinder- und Zugehfrauen, Reinigungs- und Pflegekräfte, um dann bald mit der Arbeit anzufangen. Es sind keine Dienstmädchen in einem traditionellen Sinn, sondern häusliche Servicekräfte eines neuen Typs. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen am Eingang, dauernd bringen Kuriere und Boten Lieferungen ins Haus, Amazon-Pakete, Wäsche aus der Reinigung, Plastiktaschen mit bestelltem Essen und Kartons mit Lebensmitteln. Die weiblichen Servicekräfte arbeiten meistens im Haus, die Männer bringen die Sachen ins Haus. In der großen Mehrzahl handelt es sich bei diesen Arbeitskräften um Latinos, ein Sammelname für alle, die meistens aus Mexiko und Zentralamerika kommen, die hier leben, oft ohne Dokumente, oder die auf schwer nachvollziehbare Weise zwischen New York und ihren Herkunftsländern zirkulieren.
Die in Haushalten arbeitenden Personen nennt man hier domestic workers, auf Deutsch »Hausarbeiter«. Das früher übliche Wort »Hausangestellte« scheint hier fehl am Platz. Die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ist ohnehin unbekannt, und außerdem sind hier die wenigsten tatsächlich angestellt, jedenfalls nicht bei ihren Kunden. Bezahlte Hausarbeit leisten aber auch die Männer, wenn sie Kurierdienste verrichten. Ihre Arbeit findet nicht im Haushalt statt, aber sie ist haushaltsnah. Auch wenn sie unsere Wohnungen selten betreten und wir sie persönlich kaum kennen, gehören sie zum weiteren Kreis unseres Personals.
Anfangs fanden wir die Vielfalt des hiesigen Serviceangebots irritierend, ja beinahe obszön. Es fühlt sich nicht gut an, wenn einem permanent von Serviceleuten, zudem mit Migrationshintergrund, geholfen und assistiert wird, und das bei Verrichtungen, die man gut auch selbst erledigen könnte. Wir würden uns lieber mehr selbst helfen. Wir sind auch kulturell ungeübt darin, laufend käufliche Dienste in Anspruch zu nehmen. Als Kindern hat man uns beigebracht, möglichst alles abzuwehren, was auch nur von ferne als »verwöhnt« gelten könnte. In dieser Kindheitswelt gab es nicht viel, was nach Service aussah. Auf ersten Reisen in den Süden beeindruckten auf den Straßen und Plätzen die gewerbsmäßigen Schuhputzer, die lautstark um Kunden warben. Hätte man sich dort jemals die Schuhe putzen oder am Bahnhof von einem Dienstmann den Koffer tragen lassen, hätte man es den Eltern nach der Rückkehr besser verschwiegen. Es dauerte eine Weile, bis wir solche Dienstleistungskulturen verstehen lernten. Kunde sein war etwas, das man erst lernen musste. Wir begriffen, dass der Schuhputzer sich und seiner Familie von unserer Serviceangst nichts kaufen kann. Trotzdem blieb ein Unbehagen zurück, nicht an menschlicher Dienstleistung insgesamt, aber an uns in der Rolle des Bedienten, in der wir uns bestimmt kulturell unglücklicher fühlten als der Mann, der uns bediente.
Wir kennen die meisten Dienstleister in unserem Komplex beim Namen. Sie heißen Ronnie, Luis, Francisco, Gary, Isai, Eddie und Ramon, die meisten von ihnen machen Schichtdienst an der Tür, an der Rezeption und im Haus. Der Doorman trägt die typische New Yorker Uniform mit Mütze, die Herren am Desk tragen Anzüge, die übrigen einen Blaumann. Porter, Concierge, Handyman und alle anderen werden vor Weihnachten von allen Parteien des Hauses mit Trinkgeld und einem kleinen Dankesbrief bedacht. Wir schreiben ihnen dann, wie unentbehrlich ihr Job für unser Wohlergehen ist und wie sehr wir ihre Dienste schätzen, und wir meinen es ernst. Wir haben uns im Lauf der Jahre besser kennengelernt und gehen vertrauensvoll, ja fast schon herzlich miteinander um. Die Hausverwaltung weist uns darauf hin, dass wir keine Trinkgelder geben müssen, weil die Angestellten, was in New York nicht immer der Fall ist, anständig bezahlt würden. Aber man habe wie jedes Jahr am Empfang eine Box für unsere Geldgeschenke aufgestellt. Völlig undenkbar, das Trinkgeld zu verweigern. Erst mit dem Trinkgeld besiegeln wir das persönliche Verhältnis, das wir zu unseren Dienstleistern unterhalten. Das Hauspersonal ist nach Dienstgraden gestaffelt und erinnert von ferne ein wenig an das Diener-Korps in einem feinen Herrenhaus, etwa in Downton Abbey, obwohl hier natürlich weder gekocht noch Silber geputzt, noch den Insassen beim Ankleiden geholfen wird. Das Servicespektrum ähnelt eher einer gut funktionierenden Hotelrezeption. Wer fragt und mit Trinkgeld nicht geizt, dem werden sicher auch Extradienste erwiesen, Theater- und Baseballkarten, Restaurantreservierungen und wer weiß was noch. Wir haben selten solche Extrawünsche; sie würden nur den Eindruck weiter vertiefen, im Hotel zu leben, wenn auch mit eigenem Mobiliar. Aber natürlich geben wir ausgehende Briefe und Pakete einfach an der Rezeption ab, statt je ein Postamt aufzusuchen. Wenn etwas in der Wohnung zu reparieren ist, genügt eine kurze Benachrichtigung an der Rezeption. Wenn wir schweres Gepäck haben, schiebt es uns der Portier mit einem goldenen Gepäckwagen, wie man ihn aus der Hotelbranche kennt, in die Wohnung, es sei denn, wir hindern ihn daran. Einmal haben wir nach einem Katzen-Sitter gefragt, ein Service, der nicht zum Standardangebot des Hauses gehört. Wir fanden dann über den Doorman eine nette Nachbarin, die gegen ein kleines Honorar den Job übernahm. Solche Hilfeleistungen erhöhen fraglos die Bequemlichkeit. Überhaupt spielen tierbezogene Dienstleistungen eine große Rolle, nicht nur in diesem Haus. Wir begegnen immerfort meist jungen Leuten, die als Dienstleister fremder Leute Hunde ausführen, die gerade mit einem gemischten Hunderudel in Richtung Park aufbrechen oder von dort heimkehren. Auch die Aufsicht über die eigenen Haustiere kann man, wie vieles andere, an bezahlte Hände auslagern. Man kann sich von nahezu allen häuslichen Aufgaben freikaufen und dabei stets auf ein Überangebot an kostengünstiger Arbeitskraft zugreifen.
Ist der Mittelstand in dieser Stadt bequemer, vielleicht auch nur hilfsbedürftiger als andernorts? Oder warum sonst lässt man sich so gern bedienen, im Haus und gern auch außer Haus, eine Haltung übrigens, die keineswegs auf die Besserverdienenden beschränkt ist, die aber vielleicht ihr Vorbild im Lebensstil der gehobenen Klassen hat? Dieser Stil färbt ungewollt auf uns Neuankömmlinge ab, nicht derart, dass wir nun gar nicht mehr selbst kochen, wohl aber so, dass wir viel mehr als im eigenen Land auf Bequemlichkeits- und Entlastungsofferten eingehen, die hier nun einmal Teil der Kultur sind und für die unablässig und aufdringlich geworben wird. Anders als die Bekannte um die Ecke, die uns einmal bei einem wie selbstgemacht wirkenden Büfett freimütig verriet, alles sei bestellt und nichts selbst gekocht, denn ihr einziges Küchengerät sei ihr Telefon, kochen wir noch selbst. Allerdings haben wir uns schon sehr daran gewöhnt, einmal in der Woche telefonisch – was als altmodisch gilt, man macht das jetzt online bei Seamless und anderen Plattformen – Essen zu ordern. Nach einer guten halben Stunde klingelt dann der Fahrradkurier etwa vom Thai Market bei uns. Bei allen Wetterlagen sind diese Lieferanten auf ihren Fahrrädern unterwegs, in einer Stadt, in der sonst fast niemand mit dem Rad fährt. Je schlechter das Wetter, desto mehr bekommen sie zu tun, weil dann alle den Gang ins Restaurant meiden. Ein Schlechtwetteraufschlag wird nicht berechnet. Über die Bezahlung der Kuriere muss man spekulieren. Der gesetzliche Mindestlohn lag bis April 2016 bei 7,25 Dollar in der Stunde und wurde jetzt auf 15 Dollar angehoben, aber das heißt noch lange nicht, dass die Dienstleister auch nur in die Nähe dieses Limits kommen. Allenfalls mit Trinkgeldern kommen sie über die Runden. Mit Trinkgeld verschafft sich man sich als Kunde ein entspannteres Gewissen, fördert aber andererseits das Lohndumping.
Auch den Lebensmitteleinkauf kann man natürlich zeitsparend delegieren. Man muss in der knappen Freizeit nicht auch noch zum Supermarkt rennen und Einkäufe nach Hause schleppen, wenn man sich stattdessen den Einkaufswagen bei Fresh Direct online...