1 DAS STASI-KALIFAT
Der akribisch geplante Aufstieg des »Islamischen Staates«
Keiner weiß, wer der Mann wirklich ist, der in einer nordsyrischen Kleinstadt den Siegeszug der Dschihadisten plant. Mit Kugelschreiber bringt der Architekt des Terrors Dutzende Organigramme und Listen zu Papier – den Masterplan für den »Islamischen Staat«
Spröde sei er gewesen. Zuvorkommend höflich. Schmeichelnd. Extrem aufmerksam. Beherrscht. Verlogen. Undurchschaubar. Bösartig. Jene Männer aus verschiedenen Orten Nordsyriens, die sich Monate später an ihre Begegnungen mit ihm erinnern, schildern ganz unterschiedliche Facetten des Mannes. Nur in einem sind sie sich einig: »Wir wussten nie, wem wir da eigentlich gegenübersitzen.« Und das in mehrfacher Hinsicht. Denn wer der hochgewachsene Endfünfziger mit dem kantigen Gesicht wirklich war, das wussten noch nicht einmal jene, die ihn an einem Januartag 2014 nach kurzem Feuergefecht im Ort Tal Rifaat erschossen. Dass sie den strategischen Kopf des »Islamischen Staates« umgebracht hatten, war ihnen nicht bewusst – und dass es überhaupt geschehen konnte, war eine rare, aber letztlich fatale Fehlkalkulation des brillanten Zynikers. Den örtlichen Rebellen musste erst jemand erklären, wie wichtig der Mann gewesen war, bevor sie seinen Leichnam wieder aus der kaputten Kühltruhe hoben. Eigentlich hatten sie ihn darin begraben wollen.
Samir Abed al-Mohammed al-Khleifawi war der echte Name des Mannes, dessen knochige Züge von einem weißen Vollbart etwas gemildert wurden. Unter diesem Namen kannte ihn niemand. Aber auch mit Haji Bakr, seinem bekanntesten Pseudonym, wussten die wenigsten etwas anzufangen. Irgendwann Ende 2012 war der Iraker in der Umgebung von Aleppo aufgetaucht, Syriens nördlicher Wirtschaftsmetropole, um die ab dem Sommer desselben Jahres erbittert gekämpft wurde. Seit verschiedene Rebellengruppen die nahen Grenzübergänge eingenommen hatten, kam ein steter Strom ausländischer Dschihadisten über die türkische Grenze. Haji Bakr war schon länger da, einer von vielen, die sich in dieser syrischen Zwischenwelt aufhielten, in der die Macht Baschar al-Assads bis auf kleine Inseln verschwunden war. Aber stattdessen gab es nicht eine neue Macht – sondern derer viele. Iraker kamen nur wenige, aber weder fiel Bakr als Kämpfer auf, noch machte er Anstalten, Anführer einer Rebellengruppe werden zu wollen, wie sie zu Dutzenden in jenen Tagen entstanden. Der alte Mann, der viel unterwegs war, hatte etwas ganz und gar anderes vor: Er wollte einen Staat errichten – mit dem ihm innewohnenden Anspruch auf die Weltherrschaft.
So etwas ist nicht ganz einfach.
Fast ein Jahrzehnt hatte der einstige Baath-Parteikader schon damit verbracht, eine Macht zu etablieren gegen die neuen Verhältnisse im Irak, die der früheren Elite des Landes ihre Stellung genommen hatten. Er war Geheimdienstoberst der Luftabwehr in Saddam Husseins Armee gewesen, zuständig kurioserweise unter anderem für Konzepte zur Rettung von Piloten notwassernder Militärjets, bevor Saddam Hussein gestürzt und die Armee per Dekret aufgelöst wurde. Bakr war daraufhin in den Untergrund gegangen. Um gegen die Amerikaner zu kämpfen, hatte er die kurzlebigen »Brigaden der Baath-Partei« mitgegründet und war dann bei al-Qaida gelandet, erinnert sich der irakische Kenner der Dschihadisten Hischam al-Haschimi, der ihn noch aus der Zeit vor Saddams Sturz kannte: »In Anbar«, einer Provinz im Westirak, »lernte er Abu Musab al-Zarqawi kennen«, den jordanischen Gründer von al-Qaida im Irak. Ein Fanatiker oder Ideologe sei der Mann, der mit Haschimis Cousin an der Luftwaffenbasis Habbaniya stationiert war, hingegen nicht gewesen. Sondern schlicht verbittert darüber, per Federstrich des US-Statthalters Paul Bremer einfach auf die Straße gesetzt worden zu sein. Außerdem war Bakr ein überzeugter Nationalist, der fand, dass die amerikanischen Besatzer vertrieben gehörten.
In der Eskalation des irakischen Bürgerkriegs folgte Haji Bakr dem Kurs Zarqawis. Noch erbitterter als die Amerikaner bekämpfte er die nun herrschende Mehrheit der Schiiten. Ab 2006 verfolgte seine Bewegung den ambitionierten – oder größenwahnsinnigen – Plan, einen »islamischen Staat« zu errichten, und hatte sich konsequent umbenannt in »Islamischer Staat im Irak« (ISI). Der Plan sah die Wiederauflage der Umma vor, der frühen Gemeinde des Propheten Mohammed, die nach beispiellos kurzen Eroberungszügen zum Imperium herangewachsen war. Ein solcher Staat, wie auch immer er aussehen würde, könnte aus dem Vollen der Überlieferungsgeschichte und Mythen schöpfen. Er wäre Projektionsfläche für all die Enttäuschten, Zukurzgekommenen und Wütenden in der islamischen Welt, denen man ein Heilsversprechen mit göttlichem Siegel präsentieren könnte.
Auch andere hatten derartige Versuche schon vorher unternommen: Ob Osama Bin Laden, die Muslimbrüder, zig kleinere Dschihadistengrüppchen oder nationale Bewegungen wie die Taliban – ihnen allen schwebte stets als Endziel ein solcher Staat vor, wenn auch unterschiedlichen Ausmaßes. Und sie alle waren gescheitert, auf die eine oder andere Weise: die Taliban am Terror ihrer al-Qaida-Gäste, die anderen an ihrer Unfähigkeit, mehr als einen Gebietszipfel zu erobern, den sie dann meist auch nur für kurze Zeit halten konnten, bevor sie vernichtend geschlagen wurden – die Gruppe Ansar al-Islam 2003 im Nordirak, die Gruppe Fatah al-Islam 2006 im Flüchtlingslager Nahr al-Barid im Nordlibanon, die radikalen Koranschüler in Islamabads Roter Moschee 2007.
Fehlschlag nach Fehlschlag. An einem von ihnen war Haji Bakr beteiligt. Denn auch im Irak würde der Kampf von al-Qaida spätestens 2010 zunächst scheitern, würden ihre Führer aufgerieben werden. Bakr überlebte. Ein ehemaliger Häftling des syrischen Gefängnisses Saidnaya, in dem die meisten islamistischen Häftlinge und vor allem die Rückkehrer aus dem Irak einsaßen, erinnert sich: »Haji Bakr war bei al-Qaida aufgetaucht, aber die meisten echten Islamisten misstrauten ihm – schließlich war er ein Funktionär der Baath-Partei gewesen, ein hoher Offizier, rasiert, ein Saddam-Mann, kurz: einer von denen, die sie früher ins Gefängnis gebracht hatten. Außerdem glaubte ihm keiner, dass er plötzlich religiös geworden sei.« Aber er hatte andere Qualitäten, so Haschimi: »Er war ein begnadeter Planer und Logistiker, sehr organisiert, sehr klug.« Ideologen hatte al-Qaida ja ohnehin genügend. Woran es den religiösen Ultras stets gemangelt hatte, waren gewissermaßen die Ingenieure des Terrors, die zum Erfolg einer Operation – eines Sprengstoffattentats, einer Gefangenenbefreiung – nicht auf Gottvertrauen setzten, sondern auf solide, umsichtige Vorbereitung. Solche Männer brauchte auch die radikalste religiöse Terrorvereinigung. Gott schenkt einem nicht den Sieg, wenn man den Zünder vergisst oder am Mobiltelefon über Anschlagsdetails spricht und anschließend vom US-Militär mit einer Rakete eingeäschert wird.
Die einzelnen Führer der Terrororganisation waren selten gemeinsam an einem Ort, kommunizierten oft über komplizierte, langwierige Umwege und kannten einander schlicht wenig. Haji Bakr war zuständig für die Kontakte zum Kreis um den einstigen irakischen Vizepräsidenten Izzat al-Duri, der vor dem Einmarsch der Amerikaner 2003 alles andere als eine Führungspersönlichkeit gewesen war. Vielmehr handelte es sich bei ihm um einen devot ergebenen Jugendfreund Saddam Husseins, der vor seinem Aufstieg in der Politik als Verkäufer von Eisbarren gearbeitet hatte. Aber al-Duri hatte schon zu Regime-Zeiten Kontakte zur Nakschbandiya-Bruderschaft gehalten, ursprünglich ein Sufi-Orden, aus dem eine militärische Formation im Kampf gegen die US-Truppen hervorgegangen war. Und: Izzat al-Duri war nach dem Sturz Saddam Husseins nie verhaftet worden, als Einziger aus der Führungsspitze.
Von 2006 bis 2008 war Haji Bakr im berüchtigten irakischen Gefängnis Abu Ghraib und für eine Weile auch im US-Gefangenenlager Camp Bucca im Süden inhaftiert. Danach pendelte er gelegentlich nach Syrien, hatte nahe Damaskus eine Wohnung und soll sich dort mindestens einmal zwischen 2008 und 2010 mit Asif Schaukat getroffen haben, dem Chef des Militärgeheimdienstes, Schwager von Baschar al-Assad – und Koordinator des diskreten Transfers von Dschihadisten aus aller Welt durch Syrien in den Irak. Bakr avancierte zu einem der militärischen Anführer des ISI, zuständig für die Provinz Anbar, dann zu dessen Militärchef, ernannt von ISI-Führer Abu Ayyub al-Masri. Als dieser und Zarqawis nomineller Nachfolger Abu Omar al-Baghdadi im Frühjahr 2010 von den Amerikanern gestellt wurden und sich lieber in die Luft sprengten, als aufzugeben, war es Haji Bakr, der dessen Nachfolger kürte: Abu Bakr al-Baghdadi, wie er sich nennt, ein enger Vertrauter noch aus den Jahren in Anbar. Bakr habe, so ein ISI-Gefolgsmann jener Zeit, die verbliebenen Mitglieder der obersten Räte einzeln gesprochen und ihnen jeweils die Zustimmung aller anderen versichert. Später dann seien drei Männer, die sich gegen ihn ausgesprochen hatten, spurlos verschwunden.
Ob es letztlich die Machtübernahme der einstigen Baathisten oder die Lernkurve aller war: Die überschaubare Schar der Anführer (die meisten waren von den amerikanischen und irakischen Truppen nach und nach getötet worden) schien zu einem für religiöse Fanatiker ungewöhnlichen Schritt entschlossen: aus Fehlern zu lernen. Eine Lehre zu ziehen aus all den Desastern der vergangenen Jahrzehnte, den...