II.
Zuhören – die unterschätzte Fertigkeit
»Du hörst mir gar nicht richtig zu!« Wer kennt ihn nicht, diesen vorwurfsvollen Satz? Bestimmt haben Sie ihn schon mehr als einmal selbst gesagt oder vielleicht von einem genervten Gegenüber zu hören bekommen. Dass der Satz mit Ausrufezeichen uns immer mal wieder begegnet, weist auf zweierlei hin: zum einen auf das Grundbedürfnis jedes Menschen, gehört, wahrgenommen, ernst genommen zu werden; zum anderen darauf, dass »Zuhören« – im Unterschied zu einer weitverbreiteten Meinung – nichts Passives, sondern etwas ausgesprochen Aktives ist, etwas, das Aufmerksamkeit, Zuwendung und Konzentration erfordert. Der Satz legt schliesslich auch nahe, dass beim Zuhören vieles falsch, aber auch einiges richtig gemacht werden kann. Das erklärt nicht zuletzt, dass das Interesse am Gesprächsangebot oder vielleicht besser am »Zuhörangebot« von Tel 143 auch nach 60 Jahren ungebrochen ist.
Nehmen Sie sich bitte kurz die Zeit zu überlegen, was für Sie hilfreich war an einem Gespräch. Nicht ein Gespräch, bei dem nur Informationen ausgetauscht wurden. Eher eines, das man mit einem vertrauten Menschen, einem guten Freund oder wohlwollenden Bekannten führt – ein Gespräch von Mensch zu Mensch. »Können wir zusammen reden?«, haben Sie vielleicht Ihrem Gegenüber bedeutet und eigentlich eher gemeint: »Könntest du mir bitte zuhören.« Wenn Menschen um ein solches Gespräch bitten, wünschen sie sich – und das ist ein häufiges Missverständnis – eher einen Zuhörer, eine Zuhörerin als jemanden, der vor allem selbst redet.
Darum geht es hier: Um die Frage, was notwendig ist, um dem Wunsch nach aktivem und hilfreichem Zuhören möglichst gut nachzukommen. Bei keiner anderen Anlaufstelle in diesem Land ist man mit so vielen unterschiedlichen Aspekten des Lebens – mit Problemen, Nöten, Wünschen und Hoffnungen – konfrontiert wie bei Tel 143. Die Dargebotenen Hände sind aber weder Therapeuten, noch haben sie in der Regel zu den unterschiedlichsten Anliegen, denen sie bei ihrer Arbeit begegnen, tiefer gehende fachliche Kenntnisse. Sie sind Generalisten, die in erster Linie gelernt haben, richtig zuzuhören.
Sind Sie eine gute Zuhörerin, ein guter Zuhörer? Wo würden Sie sich selbst sehen auf einer Skala von 0 bis 10? Die Ansicht, dass einem das Zuhören quasi in die Wiege gelegt ist, ist weitverbreitet. In ihrer Psychologie des Zuhörens betont Margarete Imhof, dass »Zuhören« die erste Sprachfertigkeit ist, die ein Mensch erwirbt.[27] Das Ohr ist bei der Geburt das am weitesten entwickelte Sinnesorgan. Erst nach den ersten, längeren Erfahrungen eines Kleinkindes mit dem Hören und Zuhören folgen das Sprechen, das Lesen, das Schreiben. Vor allem auf diese drei letzteren Fertigkeiten haben sich aber die Gesellschaft, die Schule lange Zeit konzentriert, während es mit Unterrichtsmaterialien für richtiges Zuhören sowie mit dem Bewusstsein, dass das Zuhören ebenfalls gelernt sein will, weniger gut stand. Seit einiger Zeit wird an den Schulen allerdings etwas gegengesteuert.
Auch die Flut an Ratgeberliteratur zu gutem Zuhören, die sich an Menschen der unterschiedlichsten Berufe wendet, ist ein Indiz für das weitverbreitete Zuhör-Defizit, worauf Kirsten Menzel in ihrer kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung Zuhören für Fortgeschrittene hinweist.[28] In den zahlreichen Zuhör-Ratgebern sehr unterschiedlicher Qualität, die Menzel durchforscht hat, werden verschiedenste Gründe genannt, warum es sich lohnt, eine bessere Zuhörerin, ein besserer Zuhörer zu werden. So zeige die Forschung, dass der Mensch zwar fast die Hälfte der Kommunikationszeit mit Zuhören verbringe, diese am häufigsten gepflegte Kommunikationsform aber gleichzeitig am wenigsten gehegt und gepflegt werde. Die Zuhör-Unfähigkeit wird als ein wichtiger Grund für das häufige Scheitern von Ehen und Partnerschaften erwähnt. Auch ist die Rede von wirtschaftlichen Verlusten in Milliardenhöhe, die im Geschäftsleben auf das Konto schlechten Zuhörens gehen. Würden die Menschen einander generell besser zuhören, wäre die Welt wohl eine andere, ist man da geneigt zu sagen.
Was immer an Argumenten zutreffen mag: Unbestritten ist, dass schlechtes Zuhören für eine Fülle interpersonaler Probleme und zwischenmenschlicher Konflikte verantwortlich ist. Das Hören ist dem Menschen in die Wiege gelegt, nicht jedoch das richtige Zuhören. Denn die Zuhörfähigkeit – oder vielleicht treffender die »Zuhörarbeit« – sollte nicht mit der physischen Hörfähigkeit verwechselt werden.
Zuhören als unterschätzte Fertigkeit ist das eine, das andere sind gesellschaftliche Gegebenheiten, die heute bei vielen Menschen eher das Weghören als das Zuhören fördern. Angesichts der Reizüberflutung in unserem Alltag ist die akustische Aufmerksamkeit ein knappes Gut geworden. Das Zeitalter der Ablenkungen setzt der Zuhörfähigkeit und -bereitschaft arg zu. Unsere Erfahrungswelt ist vielfältiger, kurzlebiger und hektischer denn je. Vieles in unserem Alltag zwingt uns zum Mithören, wenig jedoch zum Hinhören – und noch weniger zum Zuhören. Man kann zumindest vermuten, dass die stete Notwendigkeit, sich von zu vielen Höreindrücken abzugrenzen, ebenfalls dazu beiträgt, dass das menschliche Grundbedürfnis, gehört und dabei auch wirklich wahrgenommen zu werden, häufig zu kurz kommt.
Die vermeintlich so selbstverständliche Tätigkeit des Zuhörens ist laut Forschung ein komplexer Prozess mit vielen Facetten. Aufmerksam nehmen wir beim aktiven Zuhören eine Sprache, eine Stimme, Informationen und die dazugehörige Person – mitsamt der nonverbalen Signale – wahr. Wir vergleichen das Wahrgenommene mit unserem eigenen Erfahrungsschatz und unserem Wissen, wägen ab, ordnen ein und bewerten. Zuhören kann der reinen Wissensvermittlung dienen oder ist ein besonders wirkungsvolles Instrumentarium für eine gelungene soziale Interaktion. Ganz besonders gefragt ist die Zuhörfähigkeit bei Beratungs- und Problemlösungsgesprächen. Und dieses therapeutische Zuhören ist, wie die Dargebotenen Hände tagtäglich unter Beweis stellen, keineswegs nur auf das professionelle therapeutische Setting beschränkt.
Die Anfänge des wissenschaftlich und theoretisch untermauerten aktiven Zuhörens reichen zurück bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts – zufällig also genau in die Zeit, in der in Zürich die Dargebotene Hand gegründet wurde. Der US-amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers arbeitete seit den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts als Therapeut in einer besonders herausfordernden Umgebung: mit verhaltensauffälligen, teils auch schwer gestörten Kindern und deren Eltern. Dabei ging er völlig neue Wege. Im Jahr 1957 brachte er in einem wenige Seiten umfassenden Fachartikel seine bahnbrechenden Gedanken auf den Punkt.[29] Sein darin beschriebenes neuartiges Therapiekonzept, das dem aktiven Zuhören eine zentrale Rolle zuwies, und seine folgenden aufsehenerregenden Forschungsarbeiten machten Rogers zum Vater der sogenannten »klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie«. Dabei wollte er sein neuartiges Therapiekonzept nicht auf die Psychotherapie beschränkt wissen, wie er immer wieder betonte. Vielmehr sollte es auch bei Beratungsgesprächen eingesetzt werden. In seinen späteren Schriften vertrat er dann die Ansicht, seine Erkenntnisse seien auf alle Bereiche zwischenmenschlicher Beziehung anwendbar. Denn letztlich sei ja »gute Kommunikation immer auch therapeutisch«. Dieser Befund hat sich ohne Zweifel bestätigt: Heute richten nicht nur Psychologen und Psychiater sich nach seinen Ideen, sondern auch viele Fachkräfte der unterschiedlichsten psychosozialen Angebote, bei denen das helfende Klientengespräch im Vordergrund steht.
Es ergibt Sinn, sich ein paar prinzipiell banale kommunikationspsychologische Sachverhalte in Erinnerung zu rufen, die dem Verständnis des aktiven Zuhörens dienen. Nicht nur das Erzählen, sondern auch das Zuhören ist stark von unserer subjektiven Weltsicht geprägt. Wer hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass eine Botschaft beim Gegenüber ganz anders angekommen ist, als man sie eigentlich meinte! Was wir hören, hören wir nicht nur von unserem Gegenüber, wir hören es zu einem Teil auch aus uns selbst heraus. Wenn wir irgendetwas verstehen wollen, tun wir das immer mithilfe unseres eigenen Bezugsrahmens.
Erzählt jemand am Telefon seine Geschichte, fliessen dabei neben seinen Erfahrungen und Gefühlen auch sein Wissen und seine Meinungen, seine Normen und Werte, seine Glaubenssätze über seine eigene Person und nicht zuletzt seine momentane Verfassung ins Gespräch ein. Die Person der Dargebotenen Hand am anderen Ende der Leitung nimmt das...