PROLOG
DIE RHETORISCHE MACHT
DES KALIFATS
Cedant arma togae. In dieser Redewendung wird pazifistisches Wunschdenken gerne auf den Punkt gebracht: Die Waffen mögen dem Wort weichen. Aber das ist eine Illusion. Waffen lieben Worte. Und aus den Worten werden neue Waffen.
Während die Öffentlichkeit der westlichen Welt in der Regel ignoriert, wenn in den vom Kalifat kontrollierten Wilayat tagtäglich Terroranschläge gegen Menschen verübt werden, musste sie nach den Blutbädern der vergangenen Monate (Enthauptungen von Journalisten, humanitären Helfern und unvorsichtigen Reisenden vor laufender Kamera, Verfolgung von Minderheiten, die sich weigerten, zum Islam zu konvertieren, sowie zahlreichen erfolgreichen oder vereitelten Attentaten in Europa) und nach der Zerstörung antiker Stätten doch zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die Aktionen der Soldaten des Kalifats im Kampfgebiet als auch die Blutbäder, die seine Anhänger in unseren Ländern anrichten, von Worten begleitet werden.1 Nach der blutigen Strafaktion gegen die Zeitschrift Charlie Hebdo feuerte das Kalifat eine zweite Salve ab, diesmal mit Worten; vor dem Hintergrund des Eiffelturms rief es seine Anhänger zu neuen Angriffen auf, auf dem »verfluchten« Boden dieser Nation:
Für alles gibt es eine Zeit, eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben, eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen, eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu hassen. Jetzt ist die Zeit zum Handeln gekommen, die Zeit, der Religion beizustehen: mit der Sprache, dem Herzen, den Gliedern, der Feder und dem Säbel.2
Tatsächlich Feder und Säbel. Diese Beschimpfungen und Attacken haben uns überrascht. Und dann kam der 13. November 2015.
Dabei hat Frankreich praktisch seit seiner Gründungszeit eine Nähe zum Islam. Das Rolandslied, unser erstes Literaturdenkmal und das erste europäische Versepos überhaupt, erzählt, wie sich der Recke an Mariä Himmelfahrt, dem 15. August 778, opferte, um die vorrückenden Sarazenen aufzuhalten. Wir Franzosen haben von allen Ländern Europas wahrscheinlich die umfangreichste Literatur über Mohammed hervorgebracht:3 Der Benediktinermönch Pierre le Vénérable, im 12. Jahrhundert Abt von Cluny im Burgund, fertigte die erste Übersetzung des Korans in eine europäische Sprache an. Und dennoch erstaunt uns der muslimische Diskurs immer wieder aufs Neue, vergessen wir von Jahrhundert zu Jahrhundert die vielen Lehren aus dieser lang andauernden und schwierigen Beziehung.
Was uns besonders verwirrt, ist das »rhetorische Material« des Islam; und gerade über diesen Umweg wollen wir uns der Frage nähern, die dieses Buch aufwirft: Wie lassen sich die Wortgewalt und die Überzeugungskraft des Dschihadismus und vor allem des Kalifats nachvollziehen?
»Allahu akbar«
Zunächst sollten wir uns klarmachen, wie wichtig, rhetorisch gesehen, das muslimische Glaubensbekenntnis, die Schahada4, ist. Es ist beispielhaft (für die Gläubigen) und besonders (in der Beziehung zu anderen Glaubensrichtungen) zugleich: Der Islam ist eine Religion, zu der man gehört, sobald man eine kurze Formel ausspricht (oder direkt nach der Geburt hört): »Ich bezeuge: Es gibt keinen anderen Gott als Allah, und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.« Der Beitritt zum Christentum erfordert hingegen eine Vorbereitung, das Studium des Katechismus, ein Gespräch mit dem Priester, die Taufe, kurzum, eine ganze Reihe freiwilliger Handlungen, die auch überprüft werden. Der Beitritt zum Islam besteht nur in diesem einen kraftvollen, schnellen Sprechakt.5 Wörtlich bedeutet das Wort »Koran« Rezitation: Die mündliche, laut vorgetragene Rede liegt in der Natur des muslimischen rhetorischen Modells.
Dieses schlichte muslimische Glaubensbekenntnis (das mit einer rituellen Waschung einhergeht) strukturiert alle Wortäußerungen des IS und des Dschihadismus.6 Seine Schlichtheit bildet die Basis jeder Handlung, denn sie zeugt von der Einzigartigkeit des muslimischen Gottes und von der Wahrhaftigkeit des prophetischen Wortes, das im Koran niedergeschrieben wurde. Bei Anschlägen der Stadtguerilla oder bei Kampfhandlungen konzentriert und bündelt sich die Schlichtheit in dem einen Ausruf »Gott ist groß«. Sie wird verstärkt und erläutert in den feierlichen Reden, die die Milizionäre des Kalifats während der Enthauptungen und anderen Hinrichtungen halten. Die Kürze des Glaubensbekenntnisses, zusammengefasst in dem einen gläubigen Aufschrei, und der Wortreichtum der Reden, die das Glaubensbekenntnis mit Argumenten untermauern, gehören also zusammen.
Wer sich die selbstverständliche Schlagkraft dieses Allahu akbar vergegenwärtigen will, der sehe sich Videos an, die Enthauptungen, Steinigungen, Fensterstürze und Kreuzigungen zeigen, begleitet allein von diesen beiden Wörtern; in Städten unter der Herrschaft des Kalifats werden solche Strafen gewöhnlich vor den Augen einer Menschenmenge vollstreckt, die beispielsweise gerade ihre Einkäufe erledigt oder im Stau steht.
Solche Tötungen sind tatsächlich erlaubt, ja sie gelten als Rechtshandlungen: Sie sind zugleich Beweis und Veranschaulichung dafür, dass das Glaubensbekenntnis bei der Hinrichtung des Opfers seine Wirkung entfaltet, genauso wie ein Selbstmordattentäter seinen Anschlag als Akt des Glaubens verübt. Sehr aufschlussreich für die Verwirrung, in der wir uns befinden, wenn wir solche Taten in Worte fassen sollen, ist die Tatsache, dass die Medien in diesem Zusammenhang fahrlässig das Wort »Märtyrer« gebrauchen: Ein islamischer Märtyrer stirbt, während er eine Gewalttat begeht, ein christlicher Märtyrer gebraucht keine Gewalt, er ist ein Gewaltopfer.
Man braucht sich nur in Internetforen und Blogs umzuschauen: Wer sich über das vermeintlich zwanghafte Allahu akbar der Soldaten und Partisanen lustig macht und den Ausruf als kehligen Ausdruck der Dummheit und des politischen Analphabetismus anprangert oder als Schrei von Wilden – knapp, monoton, mechanisch und bedeutungslos –, alle diese Leute begreifen nicht, dass die Formel gerade deshalb sich selbst genügt, weil sie das kurze, ursprüngliche Glaubensbekenntnis noch einmal bekräftigt, das den Dschihad im Zentrum der Welt verankert. In dem Kampf, den wir gegen die islamistische oder islamische Radikalisierung führen sollen, werden uns so lange die Waffen der Worte fehlen, wie wir eines nicht begriffen haben: Die Werte der Französischen Revolution haben nicht mehr die gleiche verkündende und kategorische Wirkung wie die muslimischen Glaubensformeln.7
Außer man besönne sich wieder auf die rhetorischen Quellen der bewaffneten Republik; aber wer wäre heute noch bereit, derartige Sätze überzeugend auszusprechen oder gar in die Tat umzusetzen: Saint-Justs »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit«, Robespierres »Wer den Himmel anruft, will die Erde an sich reißen« oder Marats »Die Freiheit muss mit Gewalt errungen werden«. Heute will das niemand mehr. Nur noch das Kalifat.
Fest steht aber, dass man ein rhetorisches Modell nur dann bekämpfen kann, wenn man versteht, wie dieses gegnerische Modell funktioniert – falls man es denn bei den Waffen der Worte bewenden lassen will.
Die Macht der rednerischen Arabeske
Zweitens verbündet sich die durchschlagende Macht des kurzen Glaubensbekenntnisses mit der kultivierten Macht des politischen und militanten Schwulsts, dem man nicht nur in den Reden während der Hinrichtungen begegnet, sondern auch in den Zeitschriften und Videos, die um Gefolgschaft für das Kalifat werben.8
Die arabisch-islamische Redekunst unterscheidet sich von vielen anderen Redekulturen (indoeuropäisch, chinesisch-japanisch, indianisch, buddhistisch etc.) durch ihren blumigen Stil, ähnlich den Arabesken der Mosaike; dieser Stil fließt über von Allegorien, Verzierungen, weitschweifigen Formulierungen, Wiederholungen und Umschreibungen. Kurz, er schöpft aus einer Fülle von Redefiguren, der für unsere Ohren ins Übertriebene abgleitet.
Der Koran behauptet von sich selbst, er sei in »offenkundiger arabischer Zunge« (Sure XXVI, 195)9, also in leicht verständlichem Arabisch diktiert worden; nichtsdestoweniger ist die arabisch-islamische Rhetorik von moralischen Allegorien geprägt – angefangen bei den Titeln der Suren im Gründungstext des Islam (Die Biene, Die Spinne); der Stil des Korans durchdringt die ganze sprachliche Welt, die von ihm abhängt.
Khomeini hat in seiner wortmächtigen Ansprache »Abschiedsrede und Testament« (1983)10 von der großen Bedeutung der Rede in der islamischen Kultur Zeugnis abgelegt: Zum »größten Buch nach dem Koran« erklärt er die Sammlung militärischer Ansprachen und mahnender Predigten Alis, des Begründers der Schia. Damit stellt er einen Band, in dem Beispiele menschlicher Redekunst versammelt sind, neben die heilige Schrift11, die menschliche Kunst der Überredung neben das göttliche Wort; dahinter steht folgende Überlegung: Zweck der menschlichen Überredungskunst ist es, die göttliche Weisung zu konkretisieren. Die menschliche Überredungskunst macht das, was sonst Literatur oder Mystik bliebe, erst anwendbar.
Übertragen in die heutige Sprache klingt die arabisch-islamische Redekunst für unsere Ohren pompös und leicht veraltet:
Das Blut der Märtyrer, die Tränen der Frommen und...