Einführung
Woher kommt die Suchtfibel?
Die erste Fassung dieses Buches erschien 1978. Ihr Zweck war es, alkoholabhängigen Patienten in allgemein verständlicher Form die wichtigsten Informationen über ihre Krankheit zu vermitteln. Den Titel „Suchtfibel“ verpassten die Patienten der Informationsbroschüre als Spitznamen. Er bürgerte sich rasch ein und wurde bei der Veröffentlichung als Buch schließlich übernommen.
Seitdem wurde die Suchtfibel mehrfach überarbeitet. Sie ist in einer früheren Fassung auf Russisch, Rumänisch und Ungarisch erschienen. Sie wurde auf Grund vieler Anregungen und Wünsche immer umfangreicher. Beispielsweise hat im Laufe der letzten Jahre der Anteil der von mehreren Substanzen Abhängigen unter den jüngeren Patienten so sehr zugenommen, dass viele Kolleginnen und Kollegen mit der dringenden Bitte an mich herangetreten sind, auch auf illegale Substanzen näher einzugehen. Diejenigen, die ihre Wünsche nun erfüllt sehen, werden zufrieden sein. Andere werden die Ausweitung bedauern, weil sich Lesemuffel durch ein dünnes Büchlein leichter zur Beschäftigung mit ihrer Krankheit motivieren lassen.
Die deutsche Auflage hat über 250.000 Exemplare erreicht. Trotz dieser stolzen Zahl kamen angesichts der bestechenden Möglichkeiten moderner Medien beim Autor Zweifel auf, ob in einer Zeit, die in immer kürzeren Abständen neue Erkenntnisse hervorbringt, gedrucktes Papier noch die richtige Form für die Wissensvermittlung ist. Gegen alle solchen Zweifel haben wir uns für eine umfassende Überarbeitung entschieden, denn die wesentlichen Botschaften der Suchtfibel sind „konservativ“, also keinem raschen Wandel unterworfen. Außerdem gibt es immer noch genügend Leute, die Bücher mögen, weil man sie überall in die Hand nehmen und darin blättern kann, ohne auf Strom angewiesen zu sein.
An wen wendet sich die Suchtfibel?
Eine Fibel ist laut Duden entweder ein bebildertes Lesebuch für Schulanfänger oder ein Lehrbuch, das Grundwissen aus einem Fachgebiet vermittelt. Die Suchtfibel ist beides: ein bebildertes Lesebuch für „Suchtanfänger“ und ein Lehrbuch zum Thema „Wege in die Sucht und aus ihr heraus“. Sie wendet sich vornehmlich an die Betroffenen selbst und an alle Personen aus deren sozialem Umfeld. Die Suchtfibel fand aber auch bei professionellen Helfern, Studenten und Lehrkräften eine erstaunlich positive Resonanz, weil sie – anders als die üblichen Lehrbücher – vor allem Informationen enthält, die unmittelbar in der Praxis verwertbar sind und die dazu beitragen, Suchtkranke menschlich zu verstehen.
Primär will die Suchtfibel den Betroffenen helfen, zu Experten für ihre eigene Krankheit zu werden. Ein solches Expertentum ist für die Genesung nicht nur wünschenswert, sondern notwendig. Bei einer chronischen Erkrankung wie der Sucht geht es nicht ohne Eigenaktivität und Selbsthilfe! Die Entscheidung für die Freiheit und den gesunden Lebensstil muss jeden Tag aufs Neue selbstständig getroffen werden. Das klingt einfach, aber es ist nicht leicht. Millionen von Bewegungsmuffeln, Übergewichtigen und Stressgeplagten können das bestätigen.
Bei schwerst kranken Süchtigen, die einer Rehabilitation nicht mehr zugänglich sind, stehen natürlich andere Zielsetzungen als eine vollständige Befreiung von der psychischen Abhängigkeit im Vordergrund. Für diesen Personenkreis geht es vornehmlich ums Überleben oder um ein Leben ohne allzu gravierende Schäden. In allen anderen Fällen ist es jedoch das erste grundsätzliche Ziel der Suchthilfe, das Wollen und Können der Betroffenen dahin zu entwickeln, dass sie eine kluge und weitsichtige Entscheidung für ein „richtiges Leben“ in ihrem eigensten Interesse treffen. Das zweite grundsätzliche Ziel der Genesung richtet sich auf die Nutzung und Entwicklung der Fähigkeiten, die man benötigt, damit aus der Entscheidung mehr als ein frommer Wunsch wird: ein stabiler Vorsatz, der auch in schweren Wettern Bestand hat. Auf diesem Weg will die Suchfibel Begleiter und Wegweiser sein. Lange bevor die Suchtkranken selbst Rat und Hilfe suchen, tun dies diejenigen, die ihnen nahe stehen. Gerade von diesem Personenkreis kamen viele Anregungen und Rückmeldungen zur Suchtfibel. Ich hoffe, dass sie infolgedessen auch für Angehörige hilfreich ist.
Was darf man von der Suchtfibel erwarten und was nicht?
Da sich anscheinend sehr viele Menschen mit der Lebenskunst recht schwer tun, gibt es Ratgeber zu Hauf, die Glück und Erfolg mit einfachen Rezepten versprechen. Auch für Personen mit Suchtproblemen gibt es solche Wegweiser für kurze und einfache Schritte zum „Kontrollierten Trinken“ oder zur Abstinenz. Diese Art von Einfachheit finden Sie in der Suchtfibel nicht. Keine Entscheidung wird Ihnen aufgezwungen oder abgenommen. Die Einfachheit, auf die das Wort „Fibel“ sich bezieht, bezieht sich auf das Bemühen um Verständlichkeit in der Sprache und Klarheit in der Aussage. Einfach heißt dabei nicht oberflächlich: auf eine wissenschaftliche Fundierung wurde großer Wert gelegt, ohne allerdings durch Quellenhinweise zu jedem einzelnen Punkt den Lesefluss zu unterbrechen.
Die Suchtfibel will Informationen vermitteln, die eine Hilfe zum Verstehen, Entscheiden und Handeln geben. Erstens ist es gut, wenn man versteht, wie es zur Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen kommt, damit man sich als Betroffener selbst verzeihen und akzeptieren kann. Zweitens muss sich jeder selbst für seinen persönlich richtigen Umgang mit den problematischen Stoffen und Verhaltensweisen entscheiden. Und drittens fällt die Entscheidung umso leichter, je sicherer man ist, dass man sie ins eigene Handeln umsetzen kann.
Wie ist die Suchtfibel aufgebaut?
Die fünf Kapitel der Suchtfibel entsprechen der Unterteilung des Änderungsprozesses bei der Befreiung von Süchten, der unter anderem mit den Namen der amerikanischen Suchtforscher Prochaska & DiClemente verbunden ist. Die entsprechende Abbildung befindet sich am Anfang des vierten Kapitels. Die fünf Kapitel sind in möglichst mundgerechte Häppchen aufgeteilt. Über jedem Abschnitt steht eine Überschrift, die als Frage formuliert ist. Es handelt sich um Fragen, wie sie uns in der Therapie, bei Vorträgen und in Angehörigen- oder Betriebsseminaren oft gestellt werden. Im folgenden Text werden die einfachen Sachfragen möglichst knapp beantwortet. Manche Fragen klingen jedoch nur einfach, sprechen aber ein umfangreiches Thema an. Sie werden entsprechend umfassender behandelt, so dass die Leserinnen und Leser daran schon etwas mehr zu beißen haben. Aber auch diese Abschnitte sollten für jeden verdaulich sein. Wenn dem nicht so ist, bitten wir dringend um Ihre Rückmeldung an den Verlag oder den Autor.
Einige Texte, die Sie in der Suchtfibel finden, sind anders gesetzt als der übrige Text. Sie dienen der Auflockerung unseres ernsten und trockenen (!) Themas mit humorvollen oder anregenden Zitaten, Gedichten, Witzen und Bildern, die auf ihre Weise manches besser erhellen als ein Sachtext.
Wenn Sie die Suchtfibel als Arbeitsbuch verwenden, um sich aus einer Sucht zu befreien, dann sollten Sie besonders auf die Übungen und Aufgaben achten, die grau hinterlegt sind. Sofern Sie sich in Behandlung befinden, sollten Sie gegebenenfalls mit Ihren Therapeuten darüber sprechen.
Wie sollte man die Suchtfibel lesen?
Wenn die Suchtfibel in Therapien als Begleitlektüre verwendet wird, empfiehlt es sich, mit den ersten neun Themen des vierten Kapitels zu beginnen („Vom Zaudern zum Handeln: Wie man sich aus Abhängigkeiten befreien kann“).
Ansonsten gilt: Von vorne nach hinten, querbeet, gezielt mit Hilfe des Stichwortverzeichnisses, täglich einen Abschnitt oder alles in einem Zug – wie Sie wollen. Wichtig ist nur, dass das Lesen seinen Zweck für Sie erfüllt. Das ist dann der Fall, wenn das Durcharbeiten des Buches Verständnis für das Süchtigwerden und -sein erzeugt, wenn Entscheidungshilfen für die Befreiung aus der Sucht gefunden und konkrete Handlungsmöglichkeiten umgesetzt werden können.
Aber kann das ein Sachbuch überhaupt leisten? Es ist schließlich bekannt, dass emotionsloses Wissen von sich aus nur wenig in unserem Denken und in unseren Werthaltungen verändert und noch viel weniger in unserem Verhalten. Informationen bewirken nur dann eine Veränderung, wenn sie sich von dem vorhandenen Denken, Fühlen und Handeln zumindest ein wenig unterscheiden und dieser Unterschied durch eine Korrektur der bisherigen Einstellung verringert oder beseitigt werden kann. Der Sinn der Suchtfibel erfüllt sich also darin, inwieweit sie eine solche Änderung bewirkt. Das Lesen sollte Sie nachdenklich machen, und zwar nachdenklich über sich selbst, und ihre Gedanken sollten möglichst oft Gefühle in Ihnen anrühren.
Wenn Sie nämlich die Informationen dieses Buchs wie Nachrichten von einem anderen Stern lediglich zur Kenntnis nehmen, ohne sie auch...