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E-Book

In die Tiefe

Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand

AutorAnna von Boetticher
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783843720557
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'Die meisten von uns limitieren sich selbst, bevor sie überhaupt angefangen haben.' Eine zu kleine Lunge und eine Autoimmunkrankheit halten Anna von Boetticher nicht auf: Gegen alle Widerstände wird sie die erfolgreichste Apnoe-Taucherin Deutschlands. Sie schwimmt, frei von störendem Equipment, in den tiefsten Tiefen der Weltmeere mit Haien, Orcas und Mantarochen. Boetticher ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er will. Sie erklärt, wie wir mentale Stärke finden, in extremen Situationen die Ruhe bewahren und ganz bei uns bleiben. Auch wir Landratten können aus jeder Situation unter Wasser etwas mitnehmen: Wie überwinde ich Ängste? Wohin bringt mich Neugier, wenn ich sie zulasse? Wie lerne ich vollkommen zu vertrauen?

Anna von Boetticher ist Extremsportlerin. Mit nur einem Atemzug taucht sie über 100 m tief. Sie kommt ohne Luft sechs Minuten lang aus. Mit 33 nationalen Rekorden, dreimal WM-Bronze und einem Weltrekord ist sie die erfolgreichste Apnoetaucherin Deutschlands. Seit 2015 arbeitet sie mit Kampfschwimmern, Minentauchern und Polizeitauchern an Stressbewältigung in gefährlichen Situationen unter Wasser und ab 2018 ist Anna von Boetticher Teil einer Projektgruppe aus internationalen Experten für die ESA.

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Leseprobe

In meiner Erinnerung ist es Sommer. Das Schwimmbad zu Hause, in unserem wilden Garten, ist kühl. Uns Kindern ist egal, ob wir frieren – wenn wir im Wasser sind, zählt nur der Augenblick. Jede freie Minute verbringen wir im Becken.

Ich weiß noch, wie das Hellblau des Bodens aussah. Eine feste Plane, keine Kacheln, sie ist in Bahnen verschweißt. Die Nähte geben mir einen Anhaltspunkt: Schwimme ich geradeaus? An manchen Stellen ist das Blau ausgeblichen.

Ich trage eine große, orangefarbene Taucherbrille mit rundem Glas, die beinahe mein ganzes Gesicht bedeckt. Bei warmem Wetter nehme ich sie kaum ab, denn ständig bin ich damit unter Wasser. Ich stelle mir vor, der Pool sei der Ozean. In meiner Fantasie ist die Plane dunkel, das Schwarzblau der Tiefe. Bodenlos. Ein Universum von Möglichkeiten.

An diesem Tag konzentriere ich mich. Ich hole ein letztes Mal Luft, dann lasse ich mich unter die Oberfläche fallen und stoße mich vom Beckenrand ab. Ich schwimme mit kräftigen Zügen, denn ich habe mir vorgenommen, tauchend die andere Seite zu erreichen, zwölf Meter weit entfernt. Am Ende der Bahn spüre ich es, das Ziehen im Bauch, das Bedürfnis zu atmen. Es wird stärker, brennt in mir, verlangt nach Luft. Ich denke: umdrehen! Nach der Wende nur ein Schwimmzug, sage ich mir, dann hoch. Mein Zwerchfell zieht sich zusammen, der Bauch fängt an zu pumpen. Rhythmische Kontraktionen. Ein seltsames Gefühl, als versuche mein Körper Luft zu holen, mit Gewalt. Alles in mir will atmen. Jede Zelle. Nur ich will nicht. Ich will die zweite Bahn bis zum Ende schaffen. Ich schwimme weiter.

An der Wand der Stolz: zwei Längen! Bevor ich weiß, was geschieht, drehe ich um. Ein letztes Mal abstoßen, denkt sich etwas in mir. Die Zwerchfellkontraktionen sind intensiv, doch ich ignoriere sie. Meine Arme sind schwer, die Beine ebenso, wie Blei. Während mich dieses neue Gefühl beschäftigt, schwimme ich weiter, wieder sehe ich die Wand, zum dritten Mal. Sie ist nicht weit, gleich bin ich da, wenn ich noch etwas aushalte, erreiche ich sie. Nur funktionieren meine Arme und Beine kaum, das ist seltsam.

Wie aus dem Nichts taucht es auf, das Ende der Strecke, die Plane unter meiner Hand fühlt sich weich an, und warm. Ich wende. Als ich die Füße ansetze, um mich erneut hinauszudrücken, in die Bahn, die offenen Möglichkeiten, erscheinen an den Rändern meines Sichtfeldes schwarze Pünktchen. Eine dunkle Wolke aus Pixeln, die sich zuzieht, ich sehe durch eine lange Röhre, ihr Ende entfernt sich. Der Tunnelblick. Etwas sagt mir, dass hier die Grenze ist. Dass ich jetzt aufhören muss.

Das Durchbrechen der Oberfläche ist wie die Rückkehr in eine Welt mit Licht, Klang, Leben. Die Sonne auf dem Wasser, die unruhigen Schatten der Buchen auf dem Kiesweg. Das Brummen des Rasenmähers im Nachbargarten. Eine Flut von Eindrücken stürzt auf meine Sinne ein, die Lungen füllen sich, verschlingen die Luft mit großen, rettenden Atemzügen, jeder von ihnen wie ein Geschenk. Die Pixelwolke verschwindet, ich bin zurück. Mein erster Gedanke: Wahnsinn! Und: Schaffe ich mehr?

38 Meter weit war ich getaucht, mit acht Jahren, entgegen jedem Instinkt, der mich zum Abbrechen zwingen wollte. Ich erinnere mich daran, hinterher lange über das Erlebte nachgedacht zu haben. Dieses Verlangen nach Luft, das so früh kam. Die Entdeckung, dass ich nicht atmen muss. Das merkwürdige Pumpen des Bauches. Die schweren Glieder. Begeistert erklärte ich meinem jüngeren Bruder Patrick, er könne tauchen, bis »es an den Rändern ganz schwarz wird«. Ich wusste nicht, dass ich mich an den Rand der Ohnmacht und damit in Lebensgefahr gebracht hatte. Da ich allein im Wasser war, hätte ein Blackout Ertrinken bedeutet.

In dem blassblauen Schwimmbad unter den großen Bäumen hatte ich eine Entdeckung gemacht, die mich nicht mehr losließ: den Sieg meines Geistes über den Körper. Schon damals trug ich die Sehnsucht nach dem Ungewissen in mir. Ich verspürte eine intensive Neugierde auf die Welt und hatte das dringende Bedürfnis, mich ihren unentdeckten Weiten auszusetzen und mich darin zu erleben. Genährt durch eine von Anregung und Abenteuern bestimmte Kindheit in einem kleinen Dorf am Rande der Alpen, wurde die Faszination des Unbekannten zu einem elementaren Bestandteil meines Lebens.

Mit meinen Eltern, den drei jüngeren Brüdern Patrick, Niklas und Albrecht und einem Haufen Haustiere, darunter eine aus dem Nest gefallene Krähe, die wir gerettet hatten, genoss ich den Luxus des Lebens auf dem Land: uneingeschränkten Platz. Es gab zwar keinen großen Supermarkt in der Nähe, doch auf unserem Grundstück hatte der Vorbesitzer ein Loch gebuddelt und selbst ein Schwimmbad gebaut. Unbeheizt und eiskalt, war es nur ein paar Wochen im Jahr nutzbar. Diese Zeit genossen wir dafür umso mehr. Die großen Buchen, die den Garten überwucherten, verfluchten wir jeden Herbst, wenn wir täglich Unmengen von Laub zusammenharken mussten. Gleichzeitig liebten wir die Bäume von ganzem Herzen, denn sie boten Vögeln und Eichhörnchen ein Zuhause und waren der perfekte Abenteuerspielplatz. In schwindelerregender Höhe hatte ich in einer Astgabel ein Seil hin- und hergewoben und mir damit ein perfektes – wenn auch gefährliches – Leseversteck gebaut, in das ich stundenlang verschwinden konnte.

Wie die meisten Kinder träumte ich mich in die Welt hinaus. Mit vor Aufregung geröteten Wangen folgte ich den Erzählungen von Karl May, in denen Indianer, Trapper und Cowboys durch die Prärie streiften, und versenkte mich in Jack Londons Geschichten über die Wildnis Nordamerikas. Viele dieser Bücher las ich, bis sie auseinanderfielen. Eines davon war Kurt Helds Erzählung »Die rote Zora«, die von einer Bande Waisenkinder am Mittelmeer handelt. An einer Stelle kämpft Branco, der Held des Buches, mit einer riesigen Krake, die versucht, ihn unter Wasser zu ziehen, und die er nach langem Ringen mit seinem Messer besiegt. Die Mischung aus dem mythischen Ungetüm und dem Mut, mit dem Branco die Gefahr überwand und damit das Meer und seine eigenen Grenzen bezwang, übte große Faszination auf mich aus. Wo war die Krake hergekommen? Ob weitere Ungeheuer in der Tiefe lauerten? Ich erörterte diese Dinge intensiv mit meinem Bruder Patrick, der in Abenteuerfragen trotz aller Auseinandersetzung unter Geschwistern immer mein Kamerad war. Wenn möglich übertrugen wir unsere Theorien und Gedanken in unser Spiel, denn wir wollten die Gefahren erleben, anstatt nur darüber zu lesen. So wurde ein Stück altes Hanfseil zur Krake mit ihren langen Armen, die uns in die Tiefe zog, ein Ast das Messer, mit dem wir sie besiegten. Ich empfand die gespielten Geschichten so intensiv, dass ich noch heute weiß, wie sich der Saugarm anfühlte, der sich in meiner Fantasie um mein Bein schlang.

Durch die Mühe, die sie sich gaben, uns zu inspirieren, weckten meine Eltern unsere Neugierde auf die Welt und darauf, sie mit allen Sinnen zu erleben. Einen Sommer lang herrschte zum Beispiel erbitterter Krieg zwischen den Stämmen der Weißfeder- (mein Vater) und Schwarzfeder-Indianer, einem Haufen Kinder. Regelmäßig wurde mein Vater gefangen genommen und an den Baum gebunden. Er brachte uns bei, aus dem Wald die richtigen Zweige zu holen, um Bogen zu bauen, dazu leichte Pfeile aus Schilf, die hinten vorsichtig mit Federn für den geraden Flug versehen und vorne mit etwas Holz ausbalanciert wurden. Nie waren unsere Eltern zu müde oder zu genervt für ein Spiel. Mitten im Winter organisierte meine Mutter spontan ein Picknick im tiefen Schnee an einer geschützten Stelle des Hauses. Sie versorgte uns mit Decken, servierte heißes »Skiwasser« in Bechern mit einer »Skijause«, bestehend aus Schinkenbroten, und gab uns das Gefühl, wir wären im Winterurlaub in einem Schweizer Skiort. Sie verstand es, ein alltägliches Mittagessen in ein Abenteuer zu verwandeln.

Es gibt ein Foto von meinen Brüdern Niklas und Albrecht, sie sind darauf vielleicht acht und vier Jahre alt. Durch den tiefen Schnee im Garten ziehen sie einen braunen Holzschlitten, während Baska, unser Labrador, um sie herumspringt. Sie spielen Amundsen auf dem Weg zum Südpol und empfinden dabei die Mühe, das Elend und die Qual der Expedition ebenso wie die Faszination, widrigen Umständen zum Trotz nach einem Ziel zu streben. Man sieht, mit welcher Intensität sie in dem Abenteuer versunken sind, es ist real, mit allen Sinnen kämpfen sie sich durch einen Sturm in der Antarktis. Wenn man schon als Kind in der Lage ist, sich im Spiel in solchem Maße auf eine Situation einzulassen, begleitet einen diese Fähigkeit ein Leben lang. Sie hilft, die Kraft und das Potenzial neuer Erlebnisse zuzulassen und zu schätzen.

Ein einschneidendes Erlebnis für mich war eine wilde Segelreise mit der ganzen Familie. Ein Bekannter meines Vaters hatte mit der Leidenschaft des Unvernünftigen ein uraltes Boot wieder nutzbar gemacht und war dabei, es zu vermieten. Zusammen mit Freunden stopften wir jede Ecke des Schiffes mit Erwachsenen und einer Horde Kinder voll und machten uns so auf den Weg zu den Ionischen Inseln. Für mich und meine Brüder eröffnete sich eine neue Welt: der Wind in den Haaren, das Wasser, das am Schiff vorbeirauschte, so tiefblau, wie es nur weit draußen auf dem Meer ist, die großen Masten und die verwaschenen Schwimmwesten, die wir tragen mussten. Alles war aufregend.

Ich erinnere mich daran, dass man Niklas, Patrick und mich kaum vom Bug wegbekam, von Seekrankheit keine Spur. Wir klammerten uns an der Reling fest und sahen das Wasser auf uns zusausen. Wenn uns die Gischt erreichte, feierten wir mit Gejohle. Jede Welle war ein Erlebnis, über Stunden hinweg.

In den zwei Wochen auf dem Segelboot war nichts für...

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