Einleitung
Als ich 1998 von München nach Hamburg zog, um mein Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk anzutreten, war die Panorama-Redaktion für mich eigentlich keine Option. Wer dort arbeitete, musste immer im Sumpf wühlen, so stellte ich es mir jedenfalls vor. Ich hatte Politikwissenschaften studiert und nebenher beim Privatradio gearbeitet, hauptsächlich als Verkehrsfee, die Staumeldungen und Blitzer on air brachte. Als Autorin hatte ich Beiträge über den Frühling, Flirten an der Eisdiele oder neue Trendsportarten gemacht. Aber dem war ich langsam entwachsen, ich wollte mehr. Journalistin wollte ich werden. Die meisten meiner Volontariatskollegen beim NDR hatten bereits genaue Vorstellungen, in welcher Redaktion sie später arbeiten wollten, viele von ihnen schielten auf Panorama. Mir war das nicht so wichtig, ich wollte mir erst mal die Grundlagen aneignen und alles ausprobieren.
Während eines Volontariats durchläuft man die verschiedenen Stationen eines Senders. Ich arbeitete also in den Landesfunkhäusern, beim Radio, bei der Tagesschau, machte aktuelle Beiträge, boulevardeske oder auch satirische. Irgendwann führte mich der Weg dann zu Panorama. Ich kam im Sommer in die Redaktion, als viele der Mitarbeiter gerade im Urlaub waren und etwas Personalnot herrschte. So ergab es sich, dass ich als Volontärin ganz allein einen Film machen durfte. Es ging um Betriebskrankenkassen, die ältere Mitglieder einfach rausgeschmissen hatten, weil sie höhere Kosten verursachten. Für diesen Beitrag führte ich auch das erste konfrontative Interview meines Lebens. Ich war unglaublich nervös, bevor ich den Geschäftsführer einer Betriebskrankenkasse traf. Der freute sich mächtig, dass das Fernsehen zu ihm kam, hatte schon Wasser und Kekse bereitgestellt und dachte, er könnte seine Kasse jetzt in der ARD groß rausbringen. Das Interview verlief freundlich bis zu dem Punkt, als ich plötzlich meine Frage zu dem Fall eines älteren Ehepaars stellte, dem von der Betriebskrankenkasse aus fadenscheinigen Gründen gekündigt worden war. Der Geschäftsführer stockte, stotterte und verlangte, die Kamera abzustellen. Was tun? Ich hatte ja keinerlei Erfahrung mit einer solchen Situation. Instinktiv blieb ich hart und erwiderte, dass es seine Gelegenheit wäre, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Tatsächlich konnten wir das Interview weiterführen, wobei er irgendwelche Ausflüchte stammelte. Ich hatte es geschafft, ich hatte ganz allein einen richtigen Panorama-Beitrag zustande gebracht, der dann tatsächlich auch gesendet wurde.
Nach dieser Erfahrung wollte ich nichts anderes mehr machen als für Panorama zuarbeiten. Die Möglichkeit, sich richtig tief in ein Thema einzuarbeiten, das Gefühl, als Anwalt des Zuschauers einen – zugegebenermaßen nicht riesigen, aber dennoch relevanten – Missstand aufgedeckt zu haben, erfüllte mich mit tiefer Zufriedenheit. Es gab den vielen Nächten, in denen ich mir den Kopf zermartert hatte, wie und ob ich diesen Beitrag nun hinkriegen würde, einen Sinn.
Im Januar 2000 fing ich dann also tatsächlich als freie Mitarbeiterin bei Panorama an. Es war großartig. Irgendwie hatte man das Gefühl, Teil etwas Bedeutungsvollen zu sein. Es wurde über Themen gestritten, in den Tagen vor der Sendung liefen übernächtigte Redakteure über die Flure, ja, es gab tatsächlich Redaktionskonferenzen nachts um 2 Uhr, in denen wir die gesamte Sendung umschmissen, weil plötzlich ein anderes Thema viel wichtiger erschien. Ich machte Beitrag für Beitrag und lernte immer mehr. Gut ein Jahr später, im Juni 2001, wurde ich die neue Moderatorin von Panorama. Ich mit meinen 28 Jahren sollte eine Sendung moderieren, die knapp zwölf Jahre älter war als ich. Ich wurde die jüngste Moderatorin, die es je in einem ARD-Politmagazin gegeben hatte. Bei vielen stieß das auf große Bedenken, die ich aus heutiger Sicht gut nachvollziehen kann. Bezeichnenderweise war dieser Tag in doppelter Hinsicht historisch. Mein Start als neues Gesicht von Panorama fiel zusammen mit dem 40. Geburtstag dieser Sendung.
Anlässlich dieses Jubiläums waren viele Politiker gekommen, Oskar Lafontaine beispielsweise, der Panorama mal als Schweinejournalismus bezeichnet hatte, und die alten Haudegen der Politmagazine, darunter Peter Merseburger, Gerhard Löwenthal, Gert von Paczensky, Franz Alt, Heinz Klaus Mertes. Sie stritten sich in einer Podiumsdiskussion über alte Ideologien und darüber, wer mit welcher politischen Interpretation damals recht gehabt hatte. Ich glaube, erst an diesem Tag wurde mir die historische Bedeutung dieser Sendung, die ich da nun präsentieren sollte, so richtig bewusst.
Von diesem Moment an habe ich mich immer wieder mit der Vergangenheit der Politmagazine beschäftigt, besonders mit der von Panorama. Mit zwei Kollegen schnitt ich die lange Nacht der Skandale, Affären und Enthüllungen zusammen, eine dreieinhalbstündige Dokumentation über die bewegte Geschichte der politischen Fernsehmagazine. Ich habe Dutzende alter Beiträge gesehen, brisante und aufregende, langweilige und witzige aus den Anfängen, aus den 70ern, den 80ern, den 90ern, und ich habe mit ehemaligen Redaktionsleitern und Autoren gesprochen sowie Hunderte von Presseartikeln zu den jeweiligen Sendungen gelesen. Und je mehr ich wusste, desto spannender fand ich es.
Und nun wird Panorama 50. Ein halbes Jahrhundert!
Da muss man doch ein Buch schreiben, war sofort mein Gedanke. »Ein Buch über eine Fernsehsendung, wen soll denn das interessieren?«, war die häufigste Reaktion auf meinen begeisterten Vorstoß. Na, alle! Denn es geht nicht um eine Fernsehsendung, es geht um die Geschichte der Bundesrepublik. Vorrangig um die westdeutsche Geschichte. Erst durch die Sicht eines Politmagazins habe ich verstanden, wie unglaublich viel Mühe, harte Auseinandersetzung und Kämpfe es gekostet hat, unsere Gesellschaft zu der zu machen, die sie heute ist. Nur durch sie wurde unsere Demokratie auch tatsächlich demokratisch: mit einer Politik, die sich in ihren von der Verfassung gegebenen Schranken bewegt, mit einer Presse, die jederzeit kritisch berichten kann, mit einer aufgeklärten Bevölkerung. All das war keine Selbstverständlichkeit, all das war nicht einfach von vornherein da, sondern musste erst mühsam über Jahrzehnte erkämpft werden – auch von unerschrockenen Journalisten, auch von Panorama.
Mein Schulwissen über Deutschland endete mit der deutschen Teilung, mehr wurde nicht gelehrt bis zum Abitur. Und ich hatte immerhin Geschichte als Abiturfach und das in Bayern. Willy Brandts Ostpolitik hatten wir noch so eben in einer Stunde am Rande durchgenommen, aber natürlich ohne je darüber zu sprechen, wie schwer der Weg bis zur Versöhnung mit dem Osten gewesen war.
Notstandsgesetze, Studentenproteste, die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, die RAF, der Mauerbau, die Frauenbewegung, die Einführung der Antibabypille, die Antiatomkraftbewegung, das Zusammenwachsen Europas, all das, was so entscheidend war für die Bundesrepublik, wurde mit keinem Wort erwähnt. Wenn man also das Pech der späten Geburt hat, kann man sich vieles von dem, was auch heute noch politisch relevant ist, gar nicht erklären. Panorama und die anderen politischen Magazine haben diese Prozesse, die prägend sind für unsere heutige Gesellschaft, mit begleitet, zum Teil sogar mitgestaltet.
Sie haben den Zuschauern und damit den Bürgern gezeigt, dass man Missstände benennen muss, dass man sich gegen sie auflehnen kann, dass Obrigkeitshörigkeit in einer gesunden Demokratie nicht förderlich ist. Die Politmagazine haben den Blick eines breiten Fernsehpublikums über Jahrzehnte geschärft. Sie haben unermüdlich politische Mauscheleien aufgedeckt, große gesellschaftliche Debatten mitverfolgt, vielleicht teilweise auch angeheizt. Sie haben auf Defizite hingewiesen und versucht, auf verständliche Art und Weise deutlich zu machen, welche Auswirkungen politische Entscheidungen haben können. Die politischen Magazine haben letztlich entscheidend dazu beigetragen, aus Bürgern mündige Demokraten zu machen.
Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Viele interessante Geschichten musste ich weglassen und habe das beschrieben, was mich fasziniert hat. Das meiste habe ich persönlich nicht miterlebt, aber ich habe mit vielen Zeitzeugen gesprochen, die dabeigewesen sind. Ich habe das Pressearchiv durchforstet, um zu erfahren, wie einzelne Beiträge in ihrer jeweiligen Zeit aufgenommen wurden, welche Wirkung sie entfaltet haben. Viele Skandale, viel Empörung lässt sich nur verstehen, wenn man die Atmosphäre kennt, in der sie entstanden sind. Und oft musste ich erleben, dass Missstände, die man eigentlich für überwunden glaubte, heute plötzlich wieder auftauchen. Ausbeuterische Arbeitgeber zum Beispiel. Schon in den 70ern war das häufig Thema bei Panorama. Und heute, 40 Jahre später, beschäftigen wir uns erneut damit. Mit dem Bericht über die unfairen Arbeitsbedingungen des Textildiscounters kik beispielsweise haben wir 2010 bundesweit Schlagzeilen gemacht.
Dieses Buch erzählt Teile der Geschichte der Bundesrepublik durch die Brille von Panorama. Es ist keine Chronik, sondern ein ganz persönlicher Blick auf Deutschland. Auf große Themen, die die Menschen zur jeweiligen Zeit bewegt haben, auf Enthüllungen, die vielleicht doch mal die Republik »erschüttert« haben, auf Personen, die bei Panorama gearbeitet haben, vielleicht sogar damit berühmt geworden sind. Es gibt Einblicke...