KAPITEL 1
BLUTSBRÜDER UND -SCHWESTERN GESUCHT
Jeder Mensch braucht Blutsbrüder und Blutsschwestern an seiner Seite, auf die er sich blind verlassen kann. Zweckgemeinschaften lösen sich früher oder später auf, große Lieben können vergehen, doch die Verbundenheit mit einem Seelenverwandten trägt über Jahrzehnte – vielleicht sogar bis zum Ritt in den Sonnenuntergang.
Winnetou und Old Shatterhand,
Lederstrumpf und Chingachgook,
Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski,
Sherlock Holmes und Dr. Watson,
Christo und Jeanne-Claude,
Thelma und Louise,
Karl Marx und Friedrich Engels,
Bud Spencer und Terence Hill,
Winnie Puh und Ferkel,
Schiller und Goethe,
John Lennon und Yoko Ono …
Die Liste berühmter Blutsbrüder und -schwestern – reale und fiktive – ist lang. Und auch unter uns Normalsterblichen gibt es Super-Buddys, die gemeinsam durch dick und dünn gehen und das Beste im jeweils anderen zum Vorschein bringen. Schon als Kind war es mein sehnlichster Wunsch, dass auch ich einen Seelen-
verwandten finde. Denn Blutsbrüder sind praktisch unverwundbar. Sie stehen Seite an Seite und helfen sich wieder auf, wenn einer von ihnen doch mal vom Leben in die Knie gezwungen wird. Vor allem aber genießen sie gemeinsam die Schönheit der Welt und verdoppeln mit der Kraft der zwei Herzen ihre Freude am Dasein.
Aber wie findet man so einen Begleiter durchs Leben? Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, muss man erst einmal wissen, was genau einen echten Blutsbruder ausmacht.
Unendliche Weiten
Die Liste oben führt es vor Augen: Blutsbrüder/Blutsschwestern sind Seelenverwandte – und doch total unterschiedlich gestrickt. Klugheit trifft auf Stärke, Besonnenheit auf Abenteuerlust, Einfühlsame tun sich mit Machern zusammen. Jeder ist das fehlende Puzzleteil für sein Gegenüber. So verschieden Blutsbrüder auch sind, sind sie doch einander ebenbürtig. Ihre Freundschaft ist eine Freundschaft unter Gleichen. Ohne die sozialen Skills des Dr. Watson wäre Sherlock Holmes nicht mehr als ein arroganter Schnösel, und ohne Ferkel wäre Winnie Puh einfach nur ein gefräßiger kleiner Bär. Erst im Doppel-
pack wird es magic.
Kann man sich unterschiedlichere Typen vorstellen als Captain Kirk und Spock? Der eine hitzig und instinktgetrieben, der andere der Inbegriff des kühlen Logikers. Kirk und Spock gehörten für mich als Kind zu meinen Schutzheiligen, und sie sind es heute noch. Denn sie sind der Beweis, dass man noch nicht einmal vom selben Planeten kommen muss, um gemeinsam alle Probleme aus dem Weg zu räumen. Ich weiß nicht, ob der Erdling und der Vulkanier sich jemals gegenseitig als Freunde bezeichnet haben. Das ist auch gar nicht notwendig. Für die Gewissheit, dass man in allen Lebenslagen füreinander da ist und den anderen aus jeder noch so gefährlichen Bredouille herausholt, braucht es keine großen Worte. Nur Taten zählen. Der Clou: Die Darsteller Leonard Nimoy und William Shatner waren auch in der Realität echte Freunde, später erzähle ich mehr dazu.
Dass zwei Blutsbrüder sich perfekt ergänzen, erklärt aber noch nicht die starke Bindung zwischen ihnen. Einfach nur Seite an Seite stehen und zusammen kämpfen, reicht nicht. Der wahre Kitt ist die Tatsache, dass sie trotz aller Unterschiede die gleichen elementaren Werte teilen. Erst auf dieser Basis ist es möglich, dass sich Blutsbrüder gegenseitig ein Leben lang mit Impulsen versorgen und voranbringen. So werden sie zu perfekten Botschaftern des Prinzips »Lebenslanges Lernen«.
Auch Winnetou und Old Shatterhand komplettieren sich ideal in ihrer Unterschiedlichkeit, stoßen aber auch in ihrem jeweiligen Blutsbruder eine tiefgreifende Entwicklung an. Winnetou ist zu Beginn ihrer Freundschaft angehender Häuptling mit unbestechlichem Blick für das Wohl seines gesamten Stammes, Old Shatterhand das Greenhorn aus Deutschland, das zwar Freunde hat, aber doch nur für sich selbst einsteht. Der anfangs kriegerisch-brutale und rachedurstige Winnetou nimmt die Friedensbotschaft seines Freundes an und erkennt, wie heilsam es ist, einem Feind auch mal eine zweite Chance zu geben. Old Shatterhand entwickelt sich dank seines Freundes von der One-Man-Show zu einem echten Häuptling mit Führungsqualitäten. Dies alles geschieht, weil beide dieselben Werte teilen: Geradlinigkeit, Fairness, Menschlichkeit.
Die Botschaft, dass Menschen aneinander wachsen können, hat mich schon als Junge an den Winnetou-Geschichten fasziniert. Gebannt lauschten meine Geschwister und ich mit glänzenden Augen den Erzählungen meines Vaters, wenn wir die heißen Nachmittagsstunden im abgedunkelten Kinderzimmer unseres Hauses in Rio de Janeiro verbrachten. Wir bangten mit, wenn Old Shatterhand lernte, sich lautlos an Feinde anzuschleichen, und Winnetou sich dank seines Freundes die Kunst des Schmiedens langfristiger Pläne aneignete. Dieses Grundmuster gegenseitiger Persönlichkeitsentwicklung begegnet mir überall im Leben. Da ist das vom Chef zusammengewürfelte Zweierteam, das scheinbar gar nicht zusammenpasst, und doch einen Erfolg nach dem anderen verbucht. Denn der ältere Kollege hilft dem Newcomer auf die Sprünge und vermittelt ihm Fachwissen; im Gegenzug wirft der Senior ein paar angestaubte Glaubenssätze über Bord, die ihn jahrelang ausgebremst haben. Oder zwei Freundinnen, die eine lebt ihr Leben immer im roten Bereich des Drehzahlmessers, die andere ist eher bei 40 Stundenkilometern im vierten Gang unterwegs. Nummer eins lernt, sich auch mal zu entspannen, und Nummer zwei überwindet dank des Einflusses ihrer Partnerin ihr Phlegma und kommt auch mal auf Puls 120.
»Bin gleich da!«
Was unterscheidet Freunde von guten Freunden, und gute Freunde von Blutsbrüdern? Dieses Thema hat schon die alten Griechen beschäftigt. Aristoteles unterscheidet in einer seiner Schriften über Ethik drei Typen der Freundschaft:
1. Es gibt Freundschaften, die dem gegenseitigen Nutzen dienen, zum Beispiel im Beruf oder in der Politik. Das ist völlig in Ordnung, aber es sollte klar sein, dass so eine Freundschaft nur auf Zeit angelegt ist. Sobald einer der Partner zum Beispiel eine andere Arbeitsstelle antritt, verliert man sich aus den Augen. Die gemeinsame Basis, als Seilschaft Erfolge im Unternehmen einzufahren, ist ja weggefallen.
2. Dann gibt es noch die Freunde, die Vergnügen und Lust miteinander teilen wollen. Auch hier wieder: Bleibt die äußere Kulisse weg, ist es auch mit der Freundschaft schnell vorbei. Zu dieser Sparte gehören viele Jugendfreundschaften. Sobald der Schulabschluss in der Tasche steckt, geht man auseinander. Auch bei Sportkameraden verhält es sich häufig so. Wechselt einer den Verein, verabredet man sich noch, Kontakt zu halten. Und dann sind auf einmal zehn, zwanzig Jahre vergangen und man erinnert sich kaum noch an den Namen.
3. Die dritte Art der Freundschaft ist dauerhafter angelegt: Die Freunde sind beieinander, weil es ihnen um die Person des anderen geht. Diese Beziehungen halten in der Regel viel länger als die anderen, denn Werte und Vorstellungen, die ja eine Person ausmachen, wechselt man nicht so schnell wie berufliche Standorte oder Lust auf Party. Die Halbwertzeit von Lebenseinstellungen ist um ein Vielfaches höher als zum Beispiel die Kosten-Nutzen-Kalkulationen eines Beziehungs-Invests.
Ich finde, diese Einteilung trifft es sehr gut – seit über 2.000 Jahren scheint sich da nicht viel geändert zu haben. Echte Blutsbrüder oder -schwestern findet man meist in der dritten Kategorie – aber nicht nur! Auch wenn in den ersten Fällen die Freundschaften eher auf einzelne Lebensabschnitte angelegt sind und das Verfallsdatum schon eingewebt ist, kann es doch sein, dass du nach einiger Zeit mal wieder deinen alten Gefährten triffst und nach den ersten Sätzen schon merkst: Es ist noch genauso wie früher! Und plötzlich weißt du: Da ist eine gemeinsame Lebenseinstellung als Basis, die euch gar nicht bewusst war; das Band war nie zerschnitten. Dass du längst einen Blutsbruder hast, hast du übersehen. Endgültig zementiert wird der Blutsbruder-Status dann, wenn Not am Mann ist. Du rufst einen Kumpel von früher nachts um halb vier an, weil dein Auto gerade auf der Autobahn im Nirgendwo den Geist aufgegeben hat. Was für ein überraschendes Geschenk, wenn er dann einfach nur sagt: »Bin gleich da.«
Eine Überraschung ist auch der umgekehrte Fall: Eine Freundschaft der dritten Art, die für die Ewigkeit gemacht schien, erweist sich als nicht tragfähig, wenn es darauf ankommt. Die gemeinsamen Werte und Lebenseinstellungen, Basis jeder Blutsbrüderschaft, haben sich auseinanderentwickelt. Manchmal sind die beschworenen Werte eines Freundes doch nur Lippenbekenntnisse gewesen. Es trifft einen tief, wenn es dann auf einmal vorbei ist mit der Freundschaft. Wenn Klarheit herrscht, weiß man, woran man ist. Pierre Brice verfügte über diese Klarheit. Ihm wurde einmal die Frage gestellt, ob er und Lex Barker, der Darsteller des Old Shatterhand in den Spielfilmen der Sechzigerjahre, Blutsbrüder gewesen seien.1 Brice antwortete klar und knapp: »Wir waren Freunde, aber keine Blutsbrüder.« Und dann erzählte er, dass er sich einem anderen Schauspieler vom Winnetou-Set wie einem Blutsbruder verbunden gefühlt hatte: Rik Battaglia, der die Rolle des Banditen Rollins spielte....