EINFÜHRUNG
Anpassen oder untergehen.
Das ist seit jeher das unerbittliche Gesetz der Natur.
—H. G. Wells, A Short History of the World (1922)
(deutsch: Die Geschichte unserer Welt, 1926)
DIE FALSCHE SEITE DER GLOBALISIERUNG
Es ist drei Uhr morgens in Charleston, West Virginia. Nach einem Country-Konzert feudele ich Kotze weg, die nach Whiskey riecht.
Wir schreiben den Sommer 1991 und ich habe gerade mein erstes Jahr am College hinter mich gebracht. Die meisten meiner Freunde von der Northwestern University sind weg, sie absolvieren tolle Praktika in Kanzleien, in Büros von Kongressabgeordneten oder in Investmentbanken in New York und Washington. Ich dagegen gehöre zu einem Trupp von sechs Leuten, die im 13.000 Zuschauer fassenden Charleston Civic Center nach Konzerten aufräumen.
Diese Nachtschichten waren schlimmer als Jetlag. Man musste sich entscheiden: Sollte die Arbeit dein Einstieg in den Tag sein oder dein Ausklang? Ich stand gegen 22 Uhr auf, machte mir ein „Frühstück“, arbeitete von Mitternacht bis acht Uhr morgens und ging dann gegen 15 Uhr zu Bett.
Meine fünf Kollegen waren eine harte Truppe. Es waren gute Jungs, aber das Leben hatte ihnen hart zugesetzt. Der eine hatte eine Halbliterflasche Wodka in der hinteren Hosentasche, von der in der „Mittagspause“ um 3 Uhr nichts mehr übrig war. Ein anderer Kerl, ein zotteliger Rotschopf aus den „Hollows“, den Tälern zwischen den Hügeln West Virginias, war in etwa in meinem Alter, die anderen waren über 40 oder 50, also in einem Alter, in dem man eigentlich die besten Gehälter verdienen sollte.
Country-Konzerte in West Virginia funktionieren in etwa so: Die Menschen schütten Alkohol in sich hinein, bis nichts mehr geht, dann trinken sie weiter. Unsere Aufgabe war es, die Folgen zu beseitigen. Wir sechs schrubbten uns durch die Arena, bewaffnet mit gewaltigen Kanistern voller knallblauer Chemikalien, die beim Kontakt mit dem Betonfußboden zu zischen begannen.
Die jüngste Innovations- und Globalisierungswelle brachte Gewinner und Verlierer hervor. Zu den Gewinnern zählten die Investoren, Unternehmen und Facharbeiter rund um die rasch wachsenden Märkte und neuen Erfindungen. Ebenfalls zu den Gewinnern zählten die über eine Milliarde Menschen, die in den Entwicklungsländern den Sprung aus der Armut in die Mittelklasse schafften. Nachdem sich ihre Heimatländer öffneten und zum Bestandteil einer Weltwirtschaft wurden, erwies sich ihre vergleichsweise günstige Arbeitskraft als Wettbewerbsvorteil. Zu den Verlierern zählten diejenigen Menschen, die in Hochlohnmärkten wie den Vereinigten Staaten und Europa lebten und deren Fähigkeiten mit dem Tempo des technischen Wandels und der Globalisierung der Märkte nicht Schritt halten konnten. Die Leute, mit denen ich in der Mitternachtsschicht Böden schrubbte, zählten vor allem deshalb zu den Verlierern, weil die Arbeit, die sie einige Jahre zuvor in den Minen hätten bekommen können, mittlerweile von einer Maschine erledigt wurde. Und was es von den 1940er-Jahren bis zu den 1980er-Jahren an Fabrikjobs gegeben hatte, war inzwischen nach Mexiko oder Indien ausgelagert worden. Für diese Männer war der nächtliche Putzjob nicht wie bei mir ein Weg, sich in den Sommerferien etwas dazuzuverdienen – für sie war er eine der wenigen noch verbliebenen Optionen.
Als ich in West Virginia heranwuchs, dachte ich, das Leben in der restlichen Welt ähnele dem bei uns: Man tat sein Bestes, um den langsamen Abstieg möglichst hinauszuzögern. Doch was ich in West Virginia beobachtete, ergab für mich erst Sinn, als ich begann, die Welt zu bereisen und zu erkennen, dass andere Regionen im Aufstieg begriffen waren, während West Virginia verfiel.
Über 20 Jahre sind vergangen, seit ich mir mit einem Schrubber in der Hand die Nächte um die Ohren schlug. Inzwischen habe ich einiges von der Welt gesehen und stand im Kontakt mit den allerhöchsten Führungsebenen der größten Technologiekonzerne und von Regierungen aus aller Welt.
Als Hillary Clinton amerikanische Außenministerin war, war ich ihr Chef-Innovationsberater – ein Posten, den sie nach ihrem Amtsantritt extra für mich geschaffen hat. Bevor ich für Clinton arbeitete, war ich 2008 im Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama zuständig für Technologie und Medienpolitik (und mit dafür zuständig, Clinton in den Vorwahlen zu besiegen), außerdem hatte ich acht Jahre lang erfolgreich an der Führung eines IT-basierten Social Ventures mitgewirkt, zu dessen Gründern ich auch zählte.
Im Außenministerium bestand meine Aufgabe darin, die diplomatischen Abläufe zu modernisieren und beim Umgang mit außenpolitischen Herausforderungen neue Werkzeuge und Ansätze zu entwickeln. Clinton holte mich, damit ich etwas frischen Innovationswind in das stark von Traditionen geprägte Außenministerium bringe. Wir waren sehr erfolgreich und als sie und ich 2013 die Behörde verließen, galt unser Bereich als der innovationsfreudigste auf Kabinettsebene. Wir entwickelten erfolgreiche Programme für ausgesprochen knifflige Probleme an so unterschiedlichen Orten wie dem Kongo, in Haiti oder den von der Drogenmafia kontrollierten Städten Nordmexikos. Bei alledem spielte ich eine Rolle als Mittelsmann zwischen Amerikas Innovatoren und Amerikas diplomatischen Zielen.
Weite Teile dieser Zeit verbrachte ich auf Achse. Vor und nach meiner Zeit im Staatsdienst habe ich ebenfalls viel von der Welt gesehen, aber die 1.435 Tage, die ich für Hillary Clinton gearbeitet habe, erlaubten mir einen ganz besonders intensiven und nahen Blick auf die Kräfte, die unsere Welt prägen. Ich habe Dutzende und Aberdutzende Länder bereist und mehr als eine halbe Million Meilen zurückgelegt, was einmal Mond hin und zurück inklusive Umweg über Australien entspricht.
In Südkorea habe ich Roboter der nächsten Generation gesehen. Ich habe gesehen, wie in Teilen Afrikas, wo es keine Banken gibt, Finanzwerkzeuge entwickelt wurden. Ich habe gesehen, wie in Neuseeland mithilfe von Lasertechnologie Ernteerträge gesteigert wurden, und ich habe gesehen, wie Studenten in der Ukraine Zeichensprache in gesprochene Worte verwandelten.
Ich hatte Gelegenheit, mir viele der Technologien anzusehen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen werden. Und dennoch denke ich häufig an meine Zeit als mitternächtlicher Hausmeister zurück und an die Männer, die ich damals kennenlernte. Ich habe mir einen globalen Blick auf die Kräfte erarbeitet, die unsere Welt prägen. Das half mir, sehr genau zu erkennen, warum das Leben in meinem Zuhause in den Hügeln so schwer geworden ist, und warum es für den Großteil der restlichen Welt deutlich besser geworden ist.
Die Welt, in der ich aufwuchs, die alte Industriewirtschaft, wurde von der jüngsten Innovationswelle grundlegend verwandelt. Die Geschichte ist inzwischen auserzählt: Technologie, Automatisierung, Globalisierung.
Als ich Anfang der 1990er-Jahre aufs College ging, beschleunigten sich die Abläufe der Globalisierung noch weiter. Viele der politischen und Wirtschaftssysteme, die die gestrigen Volkswirtschaften geprägt hatten, fanden ein Ende. Die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten scheiterten.1 Indien leitete eine Reihe von Wirtschaftsreformen ein, die die Wirtschaft liberalisierten und dazu führten, dass letztlich über eine Milliarde Menschen mehr auf der globalen Bühne mitmischen.2 China stellte sein Wirtschaftsmodell auf den Kopf und erschuf eine neue Form von Hybridkapitalismus.3 Über eine halbe Milliarde Menschen konnten dadurch der Armut entkommen.
Die Europäische Union entstand. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA trat in Kraft.4 Die USA, Kanada und Mexiko verschmolzen zur weltweit größten Freihandelszone. Die Apartheid endete und Nelson Mandela wurde zum Präsidenten Südafrikas gewählt.
Als ich aufs College ging, fand die Welt auch gerade ihren Weg ins Internet. Das World Wide Web wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, dazu kamen der Webbrowser, die Suchmaschine und der Online-Handel. Als ich für meinen ersten Job nach dem College zu einer Weiterbildung fuhr, wurde Amazon gerade als Kapitalgesellschaft eingetragen.
Damals erschienen mir diese politischen und technischen Veränderungen nicht so wichtig wie heute. Doch das Leben, das wir vor gerade einmal 20 Jahren geführt haben, erscheint einem wie graue Vorzeit angesichts des Wandels, der sich zutrug, während ich in West Virginia aufwuchs, und der durch den Aufstieg des Internets noch beschleunigt wurde.
In meiner Heimatstadt leben Menschen, deren Arbeitsplätze deutlich weniger sicher sind, als es die ihrer Eltern waren. Aber wenn man einmal misst, was sie sich heutzutage kaufen können, wird man feststellen, dass sie trotzdem ein besseres Leben leben als ihre Eltern vor Jahrzehnten....